Gespräch mit Władysław Bartoszewski
Herr Professor Bartoszewski, wie haben Sie die Wende vor zwanzig Jahren persönlich erlebt? Welche Gefühle beherrschten Sie damals?
Natürlich war das für einen Menschen meiner Generation eine Erlösung, nach langen in der Unfreiheit überlebten Jahren ab 1939 bis 1989, also die längste Zeit des Lebens. Ich war wie Millionen andere Bürger der mittel- und osteuropäischen Staaten gezwungen, die besonderen Wege der Geschichte in diesem Teil Europas zu erleben und zu überleben, mehr oder weniger bewusst.
Die Menschen waren weltanschaulich, politisch, polizeilich und auf jede Weise getrennt vom normalen Leben und von dem, was wir als normales Leben verstanden haben. Als ich mit Richard von Weizsäcker, der damals Regierender Bürgermeister von Berlin war – ich war damals als Gast der Deutschen Bischofskonferenz in Berlin – über unsere Lebenswege gesprochen habe, stellten wir fest, dass wir in unserer Jugend dieselbe Literatur, dieselben Bücher gelesen, dieselben Schauspiele und Filme angeschaut haben. Und wir haben in unserer Lebenszeit Hitler und Stalin erlebt und überlebt. Ein solches Ausmaß des Bösen bedingt auch Gefühle der Erlösung. Wenn jemand so hart betroffen worden ist, denkt er in anderen Kategorien.
Die Ereignisse in Polen 1989 haben wir gesehen als Kontinuität eines Prozesses, der für uns Polen am 16. Oktober 1978 mit der Wahl des Krakauer Kardinals Karol Woityła zum Papst angefangen hat. Natürlich haben wir „gewusst“, dass alles nicht so bleiben wird, wie es bisher gewesen ist. Wir haben gewusst, dass der Papst keine Revolution machen wird. Er war kein Revolutionär im üblichen Alltagssinn, aber im Denken schon. So habe ich gewusst: Es wird nichts so bleiben, wie es ist. Ich erinnere an seinen ersten Aufruf „Habt keine Angst, habt keine Angst!“ bei der Amtseinführung in Rom. Dann an seine Reise nach Polen im Juni 1979, neun Monate nach der Wahl. Ich war dabei, als Journalist des katholischen Wochenblattes „Tygodnik Powszechny“. Ich war in Deutschland, ich war in Krakau, ich war in Auschwitz – mit ihm. Ich habe ihn genau beobachtet bei seinen Aktionen, in seiner Umgebung, sowohl im Vatikan als auch in Polen.
Man soll nicht übertreiben: Aber in Polen, das katholisch geprägt war, hat die Mehrzahl der Leute aus diesem Grund „Nein“ zu Kommunismus und Atheismus gesagt. Diese Motivation hat bei uns eine viel stärkere Rolle gespielt als beispielsweise in der DDR. Teilweise war es in Litauen, teilweise in der Slowakei ähnlich. Insgesamt aber war das eine Erscheinung, die sich mit der in den anderen Ländern nicht vergleichen lässt.
Das war neben der ersten päpstlichen Reise nach Polen 1979 auch möglich geworden durch die 1980 erfolgte Gründung der Solidarność-Bewegung, der ersten freien Gewerkschaft in einem kommunistischen Land. Mit großer Hilfe vieler Europäer, mit geistiger, aber auch materieller Hilfe der beiden großen Kirchen in Deutschland, die 1980, 1981, 1982 und in den weiteren Jahren dem polnischen Volk geholfen haben. Nicht nur materiell, sondern indirekt auch psychologisch, kamen wir dann voran.
Sie sagten vorhin, Sie haben das empfunden wie eine Erlösung. Erlösung ist ja ein religiöser Begriff …
Für mich war das Leben im Kommunismus eine Bürde. Bitte vergessen wir nicht: Ich war in diesem Kommunismus sechseinhalb Jahre in polnischen kommunistischen Gefängnissen, vorher unter Hitler Häftling in Auschwitz, sieben Monate. Ich habe beide totalitären Systeme am eigenen Leib erfahren. Ich habe gesehen, was geschah, und die Geschichte wurde gestaltet ohne meine Entscheidung. Als Angehöriger der polnischen Oberschicht habe ich erlebt, dass Leute, die nur die Mittlere Reife erreicht hatten, durch Hitler und Himmler schon in Lebensgefahr gerieten. Diese Gruppe der polnischen Gesellschaft wurde unterdrückt und hat den Krieg mit großen Verlusten überlebt. Große Teile der Eliten, ungefähr ein Viertel der Priester, über 50 Prozent der Juristen, fast 30 Prozent der Lehrer und Gelehrten wurden ermordet. Damit wurden wir schwächer und bluteten biologisch aus.
Sie müssen einen starken und tiefen Glauben gehabt haben, um das zu überleben. Könnten Sie ein wenig davon erzählen, wie Ihr Glaube in dieser Zeit aussah und auf was Sie vertraut haben?
Man muss nicht einen Sinn für einen fundierten Glauben haben, sondern man muss einen kindlichen Glauben an die moralische Ordnung der Welt haben. Eine Ordnung, die uns in der Volksschulzeit durch die Eltern als Christen und durch Nonnen gelehrt wurde und geblieben ist. Es kann sein, dass das kindlich ist, aber ich habe sie oft als die „heilige Ordnung“ bezeichnet. Wenn man die Heiligenbiographien studiert, kann man erkennen, wo die Ideengebung herkommt. Die Polen haben genau diese Motive gehabt. Wir haben unsere Motive über die Kirche bekommen. Bekanntlich waren die meisten Priester in Dachau polnischer Nationalität. Warum sind sie umgebracht worden, ebenso wie die Kommunisten? Das Blut der Märtyrer hat uns gestärkt.
Natürlich macht sich heute die Säkularisierungswelle auch in Polen bemerkbar wie überall in Europa. Natürlich sind die Polen kein Volk der Heiligen, Sündelosen und Engel. Aber die christliche Grundhaltung und Loyalität zur Kirche sind noch immer sehr groß, auch bei den jungen Leuten.
Ich würde mich als Journalist heute mit den mir bekannten Fakten scheuen zu sagen, dass die Kirche in Polen noch genau dieselbe Stärke hat wie früher.
Meiner Meinung nach ist die Kirche weiter sehr einflussreich in unserem Land und materiell abgesichert, obwohl wir keine Kirchensteuer haben. Es gibt Probleme, wenn in einem kleinen Orden ungefähr zehn Nonnen irgendwo in einem Haus wohnen und man das Haus renovieren muss. Das sind so Kleinigkeiten. Aber die Diözesen und Orden haben keine grundsätzlichen Probleme.
Die Aktivitäten der polnischen Dominikaner und der Jesuiten haben sich bereits auf das Territorium der Russischen Föderation, auf Weißrussland und die Ukraine ausgedehnt. Papst Johannes Paul II. hat dort weitsichtig die gesamte Hierarchie erneuert, und das in einem Gebiet, wo es keine Hierarchie gab. Dies sind Spuren, die geblieben sind. Unsere Priester dort bekommen Aufträge aus der Kirche. Sie nehmen alle die weißrussische, die ukrainische und die russische Staatsbürgerschaft an, um bleiben zu können.
In der Kirche Polens sehe ich in den letzten Jahren aber auch gewisse bedrohliche Symptome einer fundamentalistischen Entwicklung. Ich möchte hier keine Beispiele nennen und werde dies auch nicht tun, weil ich zwar kritisch, aber loyal gegenüber meiner Kirche bin. Ich wünsche der Kirche hervorragende Bischöfe und Kardinäle.
Was ist seit der Wende in der polnischen Gesellschaft noch unerledigt geblieben?
Ich muss sagen, wir sind hier keine Ausnahme. Wir waren wie die übrigen Mittel- und Osteuropäer relativ ratlos im Blick auf die freie Marktwirtschaft, in der praktischen Demokratie bzw. in der demokratischen Praxis, bei Entscheidungs- und Wahlprozeduren, angesichts der totalen Veränderungen des Alltags.
Man hat bei uns auch gefragt, wie es nun gehen soll. Schaut man nach „oben“ – wo sind Zentralkomitee, Politbüro und all das geblieben? So etwas gibt es nicht mehr. Es gibt mehrere Parteien, die sich voneinander unterscheiden; es gibt aber keine gesunde Linke. Es gibt zwar eine christliche Partei, aber keine sozialdemokratische! Und dann ist die Wahlbeteiligung sehr niedrig. Ein Beispiel: In der kommunistischen Zeit musste man an die Wahlurne gehen und ein Zettelchen abgeben für die Nationale Front. Ich muss heute nicht mehr wählen gehen. Ich kann zuhause bleiben. Man zieht sich auf die Kultur zurück, wird unpolitisch!
Nach über drei Generationen der Unmöglichkeit, politisch frei zu wählen, können die Polen wieder wählen. Aber wollen sie es? Diese Fakten begründen schon irgendwie, wie es um uns steht. Wie kann man von den Menschen erwarten, dass sie politisch zwischen Programmen unterscheiden und für die eine oder andere Seite stimmen werden? So haben auch Rechtspopulisten die Chance bekommen und wie alle Populisten in der Welt unbarmherzig die Menschen ausgenutzt. Kriminelle Skandale passieren aber auch in Italien, in Frankreich, in Asien, natürlich. Und Aggressivität gibt es bei uns auch schon, auch wenn noch nicht geschossen wurde.
Die Kirche hat unterschiedliche Wege gesucht. In einem Fall hat sie sogar eine katholische Wahlliste bestätigt.
Die Polen sind ein Volk der Widerspenstigen: Wir wollen keinen Druck, auch keinen geistigen Druck. Wir wollen nicht, dass irgendwer uns sagt oder befiehlt: „Du sollst das und das tun und wenn Du es nicht tust oder etwas anderes tust, dann erschieße ich Dich!“ Der frühere polnische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki hat auf die Frage bzw. die Behauptung, er sei ein christlicher Demokrat aus Polen, so reagiert: „Ich bin Christ und ich bin Demokrat.“ In diesem Sinne sind die Polen immer wieder zuerst Christen. Und sie sind, auch wenn sie theologisch gesehen nicht sehr fest im Glauben verankert sind, Demokraten. Sie mögen keinen Druck und keinen Zwang. Und der Populismus hat vor allem dann keine Chance, wenn es den Menschen materiell relativ gut geht.
Im Augenblick geht es bei uns etwas besser als in vielen anderen Ländern. Im Vergleich mit der Ausgangsposition ist es so in Ordnung. Aber bei einer wirtschaftlichen Bedrohung der Stabilität wird es sich zeigen, wie sich die Polen entscheiden und welche Propheten sie dann als falsche bzw. richtige Propheten anerkennen werden.
Hier hat die Kirche mindestens etwas erreicht, weil sie nicht mehr eindeutig für eine Partei votiert. Bei 35 Millionen römisch-katholisch Getauften haben die Polen momentan 30.000 Priester, Diözesanpriester und andere Priester. Natürlich ist das Niveau bei dieser Gruppe unterschiedlich. Viele von ihnen sind oft politisch naiv, gelegentlich auch unklug. Aber gut, die Priester müssen in erster Linie Katechese betreiben. Im Grunde genommen ist für uns jede Tradition von Bedeutung. Es gibt in Polen keine starke, gut fundierte laizistische Tradition oder, sagen wir bewusst nicht Gottgläubige oder nicht in der Kirche bleibende Menschen, die etwas vorschlagen können, was programmatisch ein Bild schafft. So etwas gibt es nicht.
Sie gehören zu denen, die von Anfang an, ganz früh, für die Aussöhnung zwischen Deutschland und Polen, zwischen Deutschen und Polen eingetreten sind …
… Das war im polnischen Interesse, im menschlichen Interesse, im europäischen Interesse …
… aber für viele nicht nur politisch Interessierte in Deutschland waren manche „Töne“ aus Polen in den letzten Jahren sehr verstörend, sage ich jetzt einmal. Wie sehen Sie die polnisch-deutschen Beziehungen heute aufgrund der letzten vier oder fünf Jahre in Polen?
Ich will nicht die Leute, die auf der polnischen Seite für den härteren Kurs gegenüber den Deutschen verantwortlich sind, einseitig für schuldig erklären. Ab ungefähr 2001 hat man in der deutschen Geschichtspolitik begonnen, Ursachen und Folgen ein bisschen zu verwischen, sicher nicht bewusst, und Unwissenheit mag auch eine Rolle gespielt haben. Aber gewisse Leute sind aus Deutschland gekommen, die gestört haben. Die Reaktionen auf der polnischen Seite waren überzogen und wurden in Deutschland übertrieben dargestellt.
Ich will darauf hinweisen, dass wir in Polen jetzt als Premierminister einen Kaschuben, Donald Tusk, haben. Das ist für Nichtpolen ein wenig kompliziert zu verstehen.1 Aber für die Menschen hier ist er ein polnischer Politiker, geboren nach dem Krieg, der bewusst Geschichte erlebt hat, polnische Geschichte. Er ist konservativ liberal, nicht liberal im philosophischen, sondern in wirtschaftlichem Sinne. Er war mein junger Kollege im Parlament. Er kam damals aus Danzig, von der kaschubischen Liste. Während einer Legislaturperiode waren wir beide im polnischen Senat; das war für mich eine interessante Zeit. Die nächste Generation, die Generation unserer Söhne und Töchter, meine Generation, Kaschuben und Polen im polnischen Parlament: das war natürlich interessant. Donald Tusk hat mich für die politische Position, die ich jetzt inne habe, gewonnen. Meine Bewertung der Lage hat mir ermöglicht, über den Dingen zu stehen. Ich war immer parteilos. Ich war in der Kirche engagiert, im „roten“ und im „schwarzen Kabinett“, ohne in der roten oder schwarzen Partei aktiv zu werden. Heute bin ich parteiloser Staatsminister, zuständig für die schwierigen Probleme der Kontakte mit den Deutschen und die jüdischen Probleme.
Ich beobachte gegenwärtig in Deutschland in allen Bereichen, sowohl auf der intellektuellen Ebene als auch im Volk, das Wiedererstehen neuer Vorurteile gegen Polen. Das finde ich schlimm. Wie beurteilen Sie das: Wird das noch eine Zeitlang so weitergehen oder könnte das noch heftiger werden? Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass wir Deutsche mit Polen auf die Dauer in einem ungeklärten Verhältnis leben.
Ich habe immer gesagt, egal zu welchem Anlass, so auch schon am 28. April 1995 als polnischer Außenminister – ob die Deutschen das wollen und verstehen oder nicht und ob die Polen das wollen und verstehen oder nicht –, dass es keine europäische Stabilität ohne die Achse Paris-Berlin-Warschau geben wird. Euer ehemaliger Bundeskanzler Gerhard Schröder hat sich in den schönen Putin verliebt, er hat viel Geschmack.
Man kann und muss in der Politik mit allen Faktoren der Macht verhandeln, man muss Recherchen machen, sie entsprechend auch bewerten – im Notfall auch negativ – aber man darf sich nie von Stereotypen lenken lassen. Europa ist jetzt zum letzten Mal – oder zum vorletzten Mal, ich weiß es nicht – im Jahr 2008 davor gewarnt worden, Macht nicht gegen schwächere Völker anzuwenden, bloß weil man von Größe und Stärke fasziniert ist. Wir wissen das. Wir Polen haben viel weniger Vertrauen gegenüber der Faszination der Stärke als Ihr Deutschen. Das hat uns die Geschichte gelehrt. Weder die Nachbarn im Osten noch die im Westen waren Engel für uns. Russland und Preußen haben 1772 und später zusammengespielt. Katharina die Große war im Endeffekt eine deutsche Aristokratin und Adelige. Natürlich haben wir gelernt, historisch zu denken. Man darf nichts verharmlosen und gewisse Beispiele des Denkens nicht vergessen, die lange Kette der Ursachen und Folgen in der Geschichte Europas. Ursachen haben auch Folgen, Folgen haben auch Ursachen.
Man soll das auch nicht am Beispiel einer Person verharmlosen, etwa an Frau Steinbach, der Vorsitzenden des Bundes der Vertriebenen, die als Kind eines Besatzungssoldaten geboren wurde. Ich habe auch nichts gegen die Familie von Bundespräsident Köhler. Aber er hat sich persönlich noch nicht zu einem symbolischen Zeichen gegenüber den Verfolgten und Toten bewegen können. Ich kenne ihn persönlich, schätze ihn, habe mehrmals mit ihm gesprochen.
Anfang der 1960er Jahre habe ich sehr freundliche und sehr enge Beziehungen mit verschiedenen Menschen in Deutschland entwickelt. Ich war vom Verstand und vom Herzen her überzeugt: Man muss das tun. Ich habe auch andere Menschen in unserem Land dazu motiviert. Und ich möchte in Erinnerung bringen: Die letzte pastorale Reise des polnischen Papstes führte ihn nach Deutschland, und seine erste Äußerung in deutscher Sprache geschah in der Frauenkirche in München im September 1978 als Erzbischof von Krakau bei Erzbischof Ratzinger, einen Monat vor seiner Wahl zum Papst. Damals habe ich gestaunt und gedacht: Welche Vision tut sich da in dieser Kirche, in diesem unserem Leben auf!
Ich begegne – nicht nur an der Universität in Deutschland – jungen Menschen, die rein gar nichts mehr wissen von dem, was vor zwanzig Jahren in Europa geschehen ist. Dies ist insgesamt ein europäisches Problem …
… aber sie wissen leider überhaupt so wenig über die Geschichte …!
… unter anderem deswegen machen wir ja auch diese Interview-Reihe in dieser Zeitschrift, sozusagen als einen kleinen Beitrag zur Gedächtnissicherung.
Wenn Sie einen jungen Menschen vor sich haben, der geschichtlich kaum mehr davon weiß, was würden Sie ihm sagen, worauf es im privaten, politischen und öffentlichen Leben ankommt, aus Ihrer Lebenserfahrung heraus?
Man muss immer Halt finden in der Tradition des eigenen Hauses. Nicht jeder hat eine entsprechend interessierte Familie gehabt oder konnte im täglichen Leben, in der Volksschule, im Gymnasium oder irgendwo, etwa über die Familie oder durch Freunde, etwas über die Geschichte durch Zuhören erfahren.
Ich schreibe viele Bücher. Meine neuen Bücher sind in Polen im Jahre 2008 in fast 300.000 Exemplaren verkauft worden. Ich verlege, ich schreibe – und die Jugendlichen sind die Leser, nicht die Alten, diese sind zu arm, um Bücher zu kaufen. Der Büchermarkt ist auch etwas für die Leute bis dreißig, bis vierzig und nicht nur für die Leute bis achtzig Jahre. Ich mache auch viele Autorenreisen im Land. Wenn ich nach Krakau, Posen oder Breslau komme, habe ich 800, 1.000, 1.500 Zuhörer, das hängt nur von der Größe des Raumes ab, in dem die Lesung stattfindet. Und was mich ganz besonders freut: Zu 90 Prozent sind die Leute unter dreißig Jahre. Das bedeutet: Es sind ganz überwiegend junge Leute, die mich hören und die mich etwas fragen wollen. Ich habe keine Wunderrezepte, ich bin kein Notheiler, war das auch nie gewesen. Ich werde und kann niemandem sagen: „Du musst an die Kandidaten in deinem Wahlkreis denken, an die Seriosität, an Glaubwürdigkeit, an das Niveau und an die Klugheit des Menschen.“ Ich denke in Kategorien des Anstandes …
… Ich erinnere an Ihr Buch „Der Herbst der Hoffnungen – Es lohnt sich, anständig zu sein“, das 1983 erschienen ist und in dem Sie den Anstand als eine Grundkategorie des Menschen beschreiben – und dies angesichts Ihres Lebens: nach jahrzehntelanger Verfolgung, nach Lagerhaft, Einzelzelle, Gewalt und Folter – es lohnt sich, anständig zu sein!
… und das Gute ist: Die deutsche Version erschien vor der polnischen, in der mich keiner verlegen wollte. Das Buch läuft bis heute, und es gibt immer neue nachgedruckte Auflagen. Ich habe mich schon gefragt, wie viel Gewinn die Dominikaner in ihrem Verlag damit gemacht haben. Es lohnt sich sicher.
Noch einmal: Was sagen Sie jungen Leuten?
Ich mache sie darauf aufmerksam: Es ist viel wert, anständig zu sein. Es lohnt sich! Es lohnt sich wirklich!
Ich wurde vom Elternhaus entsprechend erzogen. Ich habe immer gesagt bekommen: „Mein Sohn, du sollst nie Schulden machen, sollst nie leichtsinnig dich verpflichten und etwas unterschreiben.“ Und hat man dem Knaben nicht auch gesagt: „Weißt du, wer lügt, der kann gelegentlich auch stehlen. Und wer stehlen kann – Gott behüte – kann auch jemanden ermorden?“ Am Anfang der Kette nimmt man eine falsche Position ein, ohne dass man ein Bewusstsein dafür hat, dass sie schlimm ist. Zu diesem Zeitpunkt ist die Kette noch nicht böse. Generationen von Bauernsöhnen sind in der einfachen Philosophie der Zehn Gebote und des Gebotes der Nächstenliebe erzogen worden. Im Grunde genommen soll man Gott lieben und seinen Nächsten wie sich selbst. Dies ist genug. Dann kann man sogar alles verlieren und kann doch weiterleben.
Oft schon bin ich in Polen gefragt worden: „Wie konntest Du mehrere Jahre in Deutschland leben, in einem Land, in dem man Dich als 18-Jährigen ins Konzentrationslager gebracht hat?“ Ich habe gesagt, dass ich diejenigen, die das getan haben, nie getroffen habe. Hätte ich sie getroffen, so hätten diese gesagt: „Wir haben damals gehandelt, wie wir handeln mussten.“ Das wäre ein Thema zu einem Gespräch gewesen. Aber niemand hat sich gemeldet. Warum soll ich ihre nächste Generation beschuldigen?
Und dann habe ich im Kommunismus gelebt und aus polnischen Büchern erfahren, dass es entsprechende Unterlagen über mich gab. In meinen Akten habe ich festgestellt, dass 418 Funktionäre sich kürzer oder länger mit mir beschäftigt haben und außerdem noch 56 inoffizielle, geheime Mitarbeiter des Geheimdienstes. Also fast 500 Leute! An keinem einzigen Tag habe ich einen anonymen Brief bekommen, in dem stand: „Herr Bartoszewski, ich weiß über Sie sehr viel, in der Vergangenheit war ich einmal anderer Meinung, ich habe gegen Sie gehandelt und das war falsch.“ Niemand hat sich gemeldet, mit keinem Wort! Also: Haben die Polen besser gehandelt?
Und weil ich am 19. Februar dieses Jahres 2009 siebenundachtzig Jahre alt werde, falls ich das überhaupt erleben sollte, dann muss ich aus einer langen Perspektive heraus, aus der Erinnerung von über fünfzig Jahren sagen: Ein junger Mensch bewegt viel. Ich habe später im Leben nie mehr so viele Sachen angeschaut wie damals. Neugierig bin ich aber immer noch!
Heute gibt es andere Probleme in anderen Formen und mit neuen, anderen Erfahrungen.
Ich muss offen gestehen, dass ich ein glücklicher Mensch bin. Glück bedeutet mir, dass ich sterben werde in einem Staat und in einer Gesellschaft, in der die Ordnung des Staates und der Demokratie vorhanden sind, wo die Leute klüger geworden sind, wo wir Freunde haben in verschiedenen Ländern – auch in Deutschland. Darüber bin ich glücklich.
Fußnote:
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Zur Situation der Kaschuben, eines kleinen slawischen Volkes in Nordpolen, vgl. auch Piotr Dziekanowski: Die Kaschubei im Wandel der Zeiten. In: OST-WEST. Europäische Perspektiven 10. Jahrgang (2009), Heft 1, S. 37-43 (der gedruckten Ausgabe). ↩︎