OWEP 1/2009

OWEP 1/2009

Schwerpunkt:
Regionen in Europa – Vergessene Vielfalt

Editorial

Wo liegt Lettgallen? Oder Wolhynien? Sie erfahren es in dieser Ausgabe.

Wenn über Europa gesprochen, geschrieben oder gesendet wird, dann fast immer nur über die großen Länder. Über kleinere Regionen, die den Kontinent auch ausmachen, erfährt man meist nur etwas, wenn es Konflikte gibt. Und dann oft nur Klischees. Ansonsten bleiben sie weiße Flecken auf der europäischen Landkarte, terra incognita.

Die vergessenen Regionen Europas haben aber auch eine Geschichte, eine Gegenwart, ein Gesicht. Daran wollen wir erinnern und den interessierten Leserinnen und Lesern die Möglichkeit geben, Entdeckungen zu machen. Manche Namen klingen vertraut in den Ohren, aber wir wissen dennoch nichts Genaues oder sehr wenig über Regionen Europas wie Dalmatien, die Dobrudscha, Karelien, die Kaschubei, Lothringen, die Republik Moldau, Wolhynien oder die Berge des Piemont. Befasst man sich genauer mit diesen Landstrichen, dann entdeckt man eine Vielfalt des Lebens, eine hohe kulturelle und politische Eigendynamik, die das Gesicht Europas auf vielfache Weise lebendig erscheinen lassen.

In einer Zeit, in der die Träume von großen Räumen und Reichen ausgeträumt sind, ist es wichtig, auf die Nahräume zu schauen. In ihnen wollen und können die Menschen leben. Die großen Gebilde stellen im Endeffekt eine Bedrohung für die Entfaltung der eigenen Kultur dar, auch einen starken Entfremdungsfaktor. Das hat nichts mit Nostalgie zu tun. Ganz im Gegenteil: Es handelt sich dabei um eine entscheidende Frage der möglichen Zukunft Europas. Wenn es nicht gelingt, das Kleine unter Wahrung seines eigenen Charakters ins Große zu integrieren, dann ist es nicht nur um die Politik und die Wirtschaft schlecht bestellt, sondern auch um das konkrete Leben der Einzelnen und der Gruppen.

Aus aktuellem Anlass können Sie in diesem Heft auch ein Porträt des neuen orthodoxen Patriarchen Kyrill von Moskau und ganz Russland lesen.

Die Redaktion

Kurzinfo

Trotz aller Hemmnisse und Rückschläge wächst Europa immer mehr zusammen. Zwanzig Jahre nach der „Wende“ in Mittel-, Ost- und Südosteuropa zeigen sich aber auch immer noch viele Risse und Brüche zwischen den Staaten und Nationen, unabhängig davon, ob sie zur Europäischen Union gehören oder nicht. Womit identifizieren sich die Menschen in diesen unsicheren Zeiten? Viele Beobachtungen sprechen dafür, dass es eine nach Fläche und Einwohnerzahl überschaubare Größe ist, in der sich der Mensch im wahrsten Sinne des Wortes „heimisch“ fühlt, die ihm Heimat ist. Ein wichtiges Zeichen dafür ist das neue Interesse am Dialekt, der heimischen Mundart, in bewusster Absetzung zur Hochsprache.

Europa besteht aus einer Vielzahl kleinerer Einheiten, historischen wie aktuellen Größen, deren Kultur und Geschichte zugleich die Vielfalt unseres Kontinents eindrucksvoll widerspiegelt. Aus diesem Grund will das vorliegende Heft anhand einiger Beispiele zeigen, wie sich Europa aus vielen kleinen, ineinander verzahnten Regionen zusammensetzt. Neun Beispiele stehen stellvertretend für ungezählte andere – es lohnt sich, hier auf Spurensuche zu gehen. Schon der einführende Beitrag von Prof. Dr. Philipp Ther, Universität Florenz, vermittelt einen ausführlichen Überblick zur Erforschung des Phänomens „Region“ und zeigt die Etappen der historiographischen Diskussion auf.

Die in alphabetischer Ordnung vorgestellten Regionen eröffnet der Beitrag von Prof. Dr. Aleksandar Jakir, Universität Split (Kroatien) mit einer Studie über Dalmatien, der Küstenregion Kroatiens. Beigegeben ist diesem Text wie auch allen anderen eine Kartenskizze sowie eine Kurzinformation mit den geographischen, politischen und historischen Eckdaten. Martin J. Ivanov, Elias Canetti Gesellschaft Russe (Bulgarien), führt die Leserinnen und Leser in die Dobrudscha, das zu Rumänien und Bulgarien gehörende Tiefland am Unterlauf der Donau. Begegnungen mit Karelien, einer politisch wie geographisch nur schwer zu fassenden Region, die teils Finnland, teils Russland zuzurechnen ist, vermittelt Prof. Dr. Timo Vihavainen, Universität Helsinki.

Nach Polen führt der Beitrag von Piotr Dziekanowski, Redakteur der Wochenschrift „Kurier Bytowski“ in Bytów (Polen), der seine Heimat, die Kaschubei, vorstellt. Edgars Cakuls, Generalsekretär der Caritas Lettland, beschreibt Geschichte und Gegenwart von Lettgallen, dem südöstlichen Teil dieses baltischen Staates. Prof. em. Dr. Jean David, Universität Metz, lenkt den Blick auf Lothringen, ein zwischen Deutschland und Frankreich über Jahrhunderte umstrittenes Gebiet, das heute ein Musterbeispiel für grenzübergreifende Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Union bildet.

Stefan D. Tiron, Dozent an der Staatlichen Universität Chişinau (Republik Moldau) informiert über die aktuelle politische und gesellschaftliche Lage seiner Heimat; hier bildet die Region zugleich einen souveränen Staat. Die Berge des Piemont in Nordwestitalien stehen im Mittelpunkt des Beitrags des Schriftstellers Bernardin Schellenberger. Schließlich lenkt Andrzej Brzeziecki, Chefredakteur der polnischen Zweimonatszeitschrift „Nowa Europa Wschodnia“, den Blick auf die Region Wolhynien und ihre bewegte Geschichte zwischen Polen, der Ukraine und Weißrussland.

Aus aktuellem Anlass enthält das Heft außerdem ein Porträt von Patriarch Kyrill, Oberhaupt der Russischen Orthodoxen Kirche, aus der Feder von Dr. Johannes Oeldemann, Direktor am Johann-Adam-Möhler-Institut für Ökumenik in Paderborn.

Dr. Christof Dahm

Inhaltsverzeichnis

3
Das Europa der Regionen
Philipp Ther
13
Dalmatien – Region an der Adria mit bewegter Geschichte
Aleksandar Jakir
20
Vergessener Schatz am Rande Europas: Die Dobrudscha – zwischen Bulgarien und Rumänien
Martin J. Ivanov
28
Karelien – eine oder mehrere Regionen? Begegnungen mit „Karelien“
Timo Vihavainen
37
Die Kaschubei im Wandel der Zeiten
Piotr Dziekanowski
44
Lettgallen – der unbekannte Südosten Lettlands
Edgars Cakuls
51
Lothringen – vom umstrittenen Gebiet zur europäischen Region
Jean David
58
Die Republik Moldau vor dem Umschwung
Stefan D. Tiron
65
Eine vergessene Gegend Europas: Die Berge des Piemont
Bernardin Schellenberger
71
Konflikt-Region Wolhynien: Auge um Auge?
Andrzej Brzeziecki
79
Ein Mann des Dialogs. Kyrill wird Patriarch von Moskau
Johannes Oeldemann

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