Interzonenzüge: Mit der Bahn durch den Eisernen Vorhang

aus OWEP 3/2006  •  von Wolfgang Grycz

Der Verfasser ist Mitglied der Redaktion dieser Zeitschrift.

Ostberlin im Sommer 1955. Das Studium an der Ostberliner Humboldt-Universität ist beendet, das Diplom in der Tasche – und ein Arbeitsplatz gesichert. Jetzt will ich mir etwas Besonderes leisten: einmal mit dem „Interzonenzug“ von Ostberlin nach Westdeutschland fahren. Gewiss, man kann in jener Zeit jeden Tag von Ost- nach Westberlin gehen oder fahren, aber der Westen der einstigen Hauptstadt ist nicht dasselbe wie die Bundesrepublik. Wir wollen endlich den Rhein sehen, möglichst Heidelberg. Wir wollen die Weite eines freien Landes erleben, nicht nur die „Frontstadt“ Westberlin.

Jeder DDR-Bürger kann ein Reisepapier beantragen, das zur Fahrt in den Westen berechtigt. Aber es gibt doch noch Klippen, die zu überwinden sind. Obwohl mein Studium abgeschlossen ist, muss ich den Parteisekretär des Slawischen Instituts der Universität um seine Erlaubnis fragen, obwohl ich gar nicht Mitglied der SED bin. Aber so wollen es die ungeschriebenen Bestimmungen. Der Parteisekretär ist ein umgänglicher Mann. Stalin ist zwei Jahre tot; von Moskau weht ein laues Lüftchen und bringt auch nach Ostberlin ein wenig Tauwetter. Auf die Frage, ob ich denn auch wiederkomme, antworte ich etwas flapsig (was vor ein oder zwei Jahren undenkbar gewesen wäre): „Das habe ich eigentlich vor.“ Wir lachen beide, und ich habe seine Zustimmung.

Am Abfahrtstag steige ich im Ostbahnhof in den Zug. Der Waggon ist ein Kurswagen, der über Köln nach Hoek van Holland fährt. Das bringt gleich ein wenig internationales Flair. Langsam gleitet der Zug über den Bahnhof Friedrichstraße zur im Westen gelegenen Station Zoologischer Garten. Und schon genießen wir ein wenig „Westniveau“. Die Vereinbarungen zwischen Ost- und Westdeutschland besagen, dass im Speisewagen (ähnlich im Schlafwagen) Essen und Getränke in der Heimatwährung des jeweiligen Reisenden bezahlt werden. Also können wir einfache Süßigkeiten, Getränke und Essen in D-Mark Ost bezahlen. Erst vor einigen Monaten hat man die Bestimmungen etwas strenger gefasst, sodass die westlichen Speisewagen keine Schokolade mehr für Ostgeld abgeben dürfen. Im Nu waren die Vorräte ausverkauft.

Was die Bezahlung der Fahrkarten betrifft, so kann man die Tickets in eigener Währung bis zum Zielort in der Bundesrepublik bezahlen. Nur die Rückfahrkarte kostet dann Westgeld. Die Ostbehörden interessiert nicht, woher wir das Geld nehmen sollen. Aber der Westen ist großzügig: er zahlt auf Antrag die Rückreisekosten. Das ist alles kompliziert, und es klingt nicht nur so. Man muss die Bestimmungen und Möglichkeiten ausloten. Uns DDR-Bürgern ist es verboten, Westgeld mitzuführen. Ostmark dürfen wir nur in kleiner Menge mitnehmen. Natürlich werden uns die Verwandten im Westen beköstigen, aber man will ihnen doch nicht auf der Tasche liegen. Was also tun? Einige Tage vor der Abfahrt geht man in die Westberliner Wechselstube, tauscht zum Kurs von 5 zu 1 tausend Ostmark in 200 Westmark – und schickt sie per Postanweisung an eine Adresse im Westen. Das ist auch verboten, aber wer kann das kontrollieren?

Bevor der Zug die Grenze zwischen der DDR und der Bundesrepublik in Richtung Köln überquert, findet noch eine Zollkontrolle statt. Mein Zeiss-Fernglas muss als Wertgegenstand in das Reisepapier eingeschrieben werden. Das besorgt der Zollbeamte. Und mir wird eingeschärft, dass ich es auf jeden Fall wieder in die DDR zurückbringen muss. Wenn ich es im Westen verkaufe oder verschenke, mache ich mich strafbar.

Endlich verlässt der Zug die im Osten gelegene Grenzübergangsstelle Marienborn und erreicht in Helmstedt westdeutsches Gebiet. Schöne Tage im Rheinland und in Hessen, auf dem Schiff zur Loreley liegen vor uns ...

Bahnverkehr zwischen den Besatzungszonen

Auf der Potsdamer Konferenz hatten die Siegermächte im Sommer 1945 das Gebiet Deutschlands westlich der Oder-Neiße-Linie in Besatzungszonen eingeteilt. Die britische Zone lag etwa im Nordwesten zwischen Flensburg und Bonn, den Südwesten übernahm Frankreich, den Süden besetzten die Amerikaner, der Rest fiel an die Sowjetunion. In den ersten Wochen nach Kriegsende galt ein allgemeines Reiseverbot. Der Fernverkehr war den Alliierten vorbehalten – für Truppen- und Versorgungsverkehr. Die Deutschen sollten erst einmal da bleiben, wo sie waren. Auch in späteren Monaten endete der Eisenbahnverkehr vor Erreichen der jeweiligen Zonengrenze. Den Menschen blieb nur der unerlaubte Weg zu Fuß über die „Grüne Grenze“. Ein Beispiel: „Von Oktober 1945 bis zum 30. Juni 1946 wechselten 495.000 Menschen von der britischen in die sowjetische Besatzungszone, in umgekehrter Richtung waren es 1,6 Millionen.“1

Wer legal in eine andere Besatzungszone fahren wollte, brauchte besondere Genehmigungen. Sie galten nur für „einen kleinen Personenkreis“. Interessant ist, dass die Alliierte Kommandantur ab Herbst 1945 den Kirchen und ihren Amtsträgern entgegen kam, indem sie Reiseerlaubnisscheine für Geistliche einführte, die „charakterlich vollkommen einwandfrei“ waren und „niemals in Verbindung mit der Nazi-Partei gestanden“ hatten; Bedingung war auch, dass sie „ausschließlich in religiösen Angelegenheiten Handlungen vornehmen und Fühlung mit den Gläubigen nehmen“ würden.2

Allmählich wuchsen die drei Westzonen wirtschaftlich und politisch zusammen; nur der Graben zwischen der sowjetischen Besatzungszone und dem westlichen Deutschland wurde tiefer. Ab 1. November 1949, bald nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland, gab es keine Verkehrskontrollen innerhalb der Westzonen mehr, aber noch für vier Jahre blieb der Interzonenpass-Zwang zwischen Ost- und Westdeutschland bestehen. Erst im November 1953 wurde er seitens der Westmächte und wenig später von seiten der Deutschen Demokratischen Republik aufgehoben. Jetzt galt für Reisende aus der DDR in den Westen, dass sie eine sogenannte „Personalbescheinigung“ bei den ostdeutschen Behörden beantragen mussten. Für die Dauer der Reise musste der Personalausweis abgegeben werden. Auch wenn der Name für den „Interzonenpass“ durch einen anderen ersetzt wurde, so blieb doch im inoffiziellen Sprachgebrauch die Bezeichnung erhalten. Noch länger hielt sich das Wort für jene Züge, die vom Osten bzw. von Berlin in die Bundesrepublik verkehrten. Im Alltagssprachgebrauch hießen sie noch für Jahrzehnte Interzonenzüge, obwohl es schon lange keine Zonen, sondern zwei deutsche Staaten gab.

1952 verschärften die DDR-Behörden das „Grenzregime“ an der Demarkationslinie zwischen Ost- und Westdeutschland und schufen dort Verhältnisse, wie sie in und um Berlin erst am 13. August 1961 mit dem Bau der Mauer Realität wurden. Das bedeutete das Aus für den illegalen kleinen Grenzverkehr. Um so wichtiger wurde der legale Bahnverkehr zwischen DDR und Bundesrepublik, zwischen Berlin und dem Westen Deutschlands.

Die „Blockade“

Schon Ende der vierziger Jahre gab es immer wieder Grund zu Klagen über Behinderungen und Mängel im grenzüberschreitenden Bahnverkehr. Darüber beschwerte sich 1947 der damalige Berliner Stadtrat für Verkehr (und spätere Regierende Bürgermeister) Ernst Reuter. Auch die jeweiligen Eisenbahndirektionen des Westens bekundeten ihre Unzufriedenheit über immer neue Störungen. Den gravierendsten Einschnitt brachte jedoch die „Berliner Blockade“. 1948 nahmen die Spannungen zwischen der Sowjetunion und den Westmächten zu. Beide Seiten einigten sich nicht über eine notwendige Währungsreform in ganz Deutschland. Am 18. Juni 1948 verkündeten die Westalliierten eine „separate Währungsreform“. Sie galt zunächst nicht für die Berliner Westsektoren, wurde aber am 23. Juni auch auf diese ausgedehnt. Die Antwort der Ostseite kam prompt: „In der folgenden Nacht sperrten die Sowjets den gesamten Personen- und Güterverkehr, Lebensmittel- und Stromlieferungen blieben aus.“3 Westberlin sollte isoliert und ausgehungert werden. Über ein Jahr wurde der Westen der ehemaligen Reichshauptstadt von den Westalliierten nur aus der Luft mit den so genannten „Rosinenbombern“ versorgt.

Nach über einem Jahr einigten sich die Sowjetunion und die Westmächte über die Beendigung der Störungen im Berlin-Verkehr. Die Blockade sollte beendet werden. Mit Befehl Nr. 56 vom 9. Mai 1949 verkündete die sowjetische Seite die Aufhebung der Blockade. Im Auftrag der Besatzungsmächte einigten sich die Eisenbahnverwaltungen von Ost und West am 11. Mai 1949 in einer Besprechung in Helmstedt „Über die Wiederaufnahme des Zugverkehrs zwischen den Westzonen und der Sowjetzone sowie Berlin vom 12. Mai 1949 von 0.01 Uhr an“. Auch wenn sich der Zugverkehr nach Aufhebung der Blockade zwischen Berlin und dem Westen Deutschlands wieder „normalisierte“, so blieb der Verkehr zwischen Ost und West doch weiterhin gefährdet. Die sowjetische Seite hatte gezeigt, dass sie zu schärfsten Maßnahmen bereit war, wenn es ihr opportun erschien.

Die fünfziger Jahre waren die hohe Zeit des Interzonenverkehrs. Trotz technischer Unzulänglichkeiten, trotz teilweise großer Verspätungen, trotz bestimmter Versuche, dem Westen Nadelstiche zu versetzen, blieb er doch im Kalten Krieg eine erfreuliche Erscheinung. Wo auf der Welt konnten in einem Gebiet sich feindlich gegenüberstehender Machtblöcke so viele Menschen hin und her reisen?

Nebenbei bemerkt: Nicht nur der Personenverkehr war für beide Seiten wichtig, mehr noch der Güterverkehr für Lieferungen von Ost nach West und umgekehrt sowie für den Transitverkehr. Das war eine wichtige Geld- und Devisenquelle für die DDR. Immer wieder beklagte sie sich allerdings, dass der Westen Deutschlands ihr noch riesige Summen schulde. Der Militärverkehr der westlichen Besatzungsmächte zwischen Berlin und dem Bundesgebiet blieb in der besonderen Kontrolle der Sowjetmacht. Sie behielt sich dieses originäre Siegerrecht vor, sehr zum Missvergnügen ihres „Juniorpartners“ DDR.

Allerdings wurde die Abgrenzung zwischen Ost und West auch im Bahnverkehr zielstrebig forciert. Die Maßnahmen von 1952 an der deutsch-deutschen Grenze fanden schon Erwähnung. 1955 „übernahm die deutsche Grenzpolizei (Ost) sämtliche bisher von den sowjetischen Truppen ausgeübten Funktionen bei der Bewachung und Kontrolle an der ‚Staatsgrenze der DDR und am Außenring von Groß-Berlin‘“.4 Auch die Zoll-Bestimmungen und -Maßnahmen wurden seitens der DDR verschärft. Ende der fünfziger Jahre wurde das Gesetz gegen die „Republikflucht“ in Kraft gesetzt, das hohe Strafen schon für den Versuch einer illegalen Grenzüberschreitung vorsah. Die im Herbst 1958 erhobene sowjetische Forderung, Westberlin als selbstständige politische Einheit vom Westen zu trennen, warf einen drohenden Schatten auch auf den relativ freizügigen Verkehr zwischen Ost- und Westdeutschland.

Westreisen: Erfahrungen eines Interzonenreisenden

Die DDR nahm es bürokratisch genau mit ihren Bestimmungen. Das erfuhr ich am eigenen Leibe, als ich 1955 von der Reise aus dem Westen zurückkehrte. Dabei vergaß der Zöllner, in meiner Reisebescheinigung zu bestätigen, dass ich das Zeiss-Glas wieder in die DDR zurück gebracht hatte. Trotzdem zeigte es sich einige Wochen später, dass die DDR-Bürokratie – wenn manchmal auch langsam – funktionierte. Einige Wochen nach der Rückkehr tauchten zwei Zollfahnder in unserer Ostberliner Wohnung auf und fragten meine Frau, wo das Fernglas sei. Mit ihrer Erklärung, es befinde sich bei meinen Eltern in der 80 km entfernten Provinzstadt, gaben sie sich nicht zufrieden, sondern fuhren zu meiner Arbeitsstelle. Ich wurde in das Büro der „Kaderleitung“ gerufen. Dort warteten die beiden „Herren“ und nahmen mich in ein strenges Verhör. Sie glaubten nicht, dass das Fernglas bei meinen Eltern sei, sondern wollten mit mir unbedingt die fast zweistündige Autofahrt an deren Wohnort unternehmen. Drohend fügten sie hinzu: „Schon mancher hat erst kurz vor Erreichung des Zieles gestanden, dass er etwas in den Westen verschoben hat.“ Ich erklärte, dass ich unabkömmlich sei, da ich einen hohen Gast aus Polen zu betreuen hätte. Und ich verwies darauf, dass sie ja nur ihre Kollegen in der Provinz anrufen müssten, die könnten dann das Objekt in Augenschein nehmen. Endlich ließen sie sich überzeugen. In der Tat verfuhren sie dann so und konnten feststellen, dass ich nichts „verschoben“ hatte. Welcher Aufwand für einen Gegenstand von nicht einmal 300 Ostmark!

Zwar hatten die Drohgebärden von sowjetischer Seite und die immer mehr verfeinerte Grenzgesetzgebung der DDR keinen unmittelbaren Einfluss auf den Bahnverkehr zwischen Ost und West, aber der Reisende musste auf der Hut sein, denn an vielen Stellen lauerten Fußangeln. Wer aus der DDR nach Westdeutschland reiste, musste sehen, wie er die erforderlichen DM für die Rückfahrt bekam. Auf Antrag zahlten die westlichen Behörden die Rückfahrkarte. Aber dabei kam es zu Pannen, die für manchen Reisenden Ärger und Schlimmeres brachten. Um einen Missbrauch westlicher Hilfe zu verhindern, wurden die Reisepapiere der DDR-Bürger mit einem Stempel versehen oder gelocht. Dies erfolgte auch im Zusammenhang mit den von westlichen Ämtern gezahlten Begrüßungsgeldern in Höhe von DM 10,- (West). Mit Stempel bzw. Lochung war bestätigt, dass man vom „Klassenfeind“ Geld bekommen hatte. Das hat so manchen seine berufliche Stellung gekostet und in die „Republikflucht“ getrieben.

Allerdings gab es zwei Kategorien von Reisenden zwischen Ost und West. Neben den meist zu Verwandten fahrenden Privatleuten gab es noch die Dienstreisenden. Die DDR war wirtschaftlich abhängig vom Handel mit dem Westen, und so kamen westdeutsche Geschäftsleute in den Osten, um Abschlüsse zu tätigen. Der „erste sozialistische Staat auf deutschem Boden“ brauchte dringend jede Westmark. Im April 1961, vier Monate vor dem Bau der Berliner Mauer, kam ich in den Genuss einer solchen Dienstreise. Der Ostberliner Verlag, in dem ich Lektor für slawische Literatur war, bereitete die Herausgabe eines von mir bearbeiteten Buches vor. Für den Münchener Carl Hanser-Verlag sollten wir eine hohe Stückzahl mitdrucken. Das brachte für die DDR-Kasse einige zehntausend Westmark. Die Zeit drängte, und es waren noch inhaltliche Fragen zu klären. Der Münchener Verlag wollte, dass ich in die bayerische Hauptstadt komme. Gern wäre statt meiner ein „Genosse“ gefahren, aber er hatte nicht das erforderliche Wissen. Also geschah das fast Unmögliche: Ich bekam die Reiseerlaubnis. Selbst für eine bescheidene finanzielle Ausstattung war gesorgt. Es ging nur um etwas über 100 Westmark, dennoch musste – bei der prekären Devisenlage des ostdeutschen Staates – ein stellvertretender Kulturminister den Antrag unterschreiben. Natürlich wäre ein Flug von Westberlin nach München schneller gewesen. Aber dieser Weg stand nur höheren Funktionären zu. Also fuhr ich mit dem „Interzonenzug“. Für die Besprechungen waren zwei Tage angesetzt. Auch wenn ich mit dem Schlafwagen zurück fuhr, musste ich einmal übernachten. Das dafür bestimmte Geld reichte für ein bescheidenes Zimmer im Münchener Bundesbahnhotel.

Die Fahrt im Schlafwagen war angenehm. Vor Erreichen der Grenze wurde ich geweckt. Jetzt erfuhr ich die „Vorzugsbehandlung“, die mir als Privatreisender nie zuteil wurde. Grenzpolizist und Zöllner waren ausnehmend freundlich. Ich hatte eine Bescheinigung der DDR-Staatsbank bei mir, dass ich befugt war, Westgeld bei mir zu haben. Der „Genosse Zöllner“ wies mich noch fürsorglich darauf hin, dass ich dieses Papier den Kollegen im Westen auf keinen Fall zeigen sollte. Er wusste ja nicht, mit wem er es in meinem Fall zu tun hatte. Fuhr ich im politischen Auftrag – oder tätigte ich nur normale Geschäfte? Auch bei der Rückkehr wurde ich besonders freundlich behandelt. Die Rückfahrkarte von München bis zur Grenze musste ich in Westmark zahlen. Die Schlafwagengebühr und das Reststück von der Grenze bis Berlin konnte in Ostmark beglichen werden. Am nächsten Tag war man erfreut, dass von der kleinen Reisesumme noch ein paar Westmark übrig waren. Sie gingen in die devisenklamme Staatskasse der DDR zurück.

Mauerbau und Interzonenverkehr

Der Interzonenreiseverkehr hatte seine Merkwürdigkeiten, seine positiven wie negativen Seiten, er stand oftmals unter vielen Fragezeichen – und doch war er eine Klammer für das getrennte Deutschland. Eine einschneidende Veränderung erlebte das Verhältnis Ost-West durch den Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961. Das bedeutete: jetzt auch an der Grenze zu Westberlin Todesstreifen, Tag und Nacht hell beleuchtete Grenzsperren, Hundelaufanlagen, Selbstschussautomaten. All diese Scheußlichkeiten machten eine Flucht nach Westen fast unmöglich. Nicht wenige versuchten deshalb, mit Hilfe der Interzonenzüge zu fliehen. Sie riskierten ihr Leben – und so mancher bezahlte den Versuch mit Verletzung oder Tod. Der Grenzbahnhof Friedrichstraße in Berlin war ein Beispiel dafür, wie genau es die DDR-Behörden mit der Kontrolle nahmen. Über den Zügen standen unter dem Bahnhofsdach Grenzpolizisten mit der Waffe im Anschlag, unter den Zügen suchten Hunde nach versteckten Flüchtlingen. Auch die Zusammensetzung der Reisenden hatte sich geändert. Westberliner und Westdeutsche mussten zwar Schikanen über sich ergehen lassen, wenn sie zwischen der Bundesrepublik und Westberlin reisten. Aber sie durften wenigstens fahren. Anders die DDR-Bewohner. Jetzt sprach man von „Rentnerzügen“, die zwischen Ost und West verkehrten. Bis in die achtziger Jahre war die DDR wohl das einzige Land in Europa, in dem die meisten Menschen gar nicht schnell genug alt werden konnten. Männer mit 65, Frauen mit 60 Jahren durften in den Westen reisen, wenn sie die Rentengrenze überschritten hatten – vorausgesetzt, dass sie auf Grund ihrer früheren Tätigkeit keine „Geheimnisträger“ waren. DDRler im Rentenalter bestimmten über zwei Jahrzehnte lang das Gros der Reisenden zwischen DDR und Bundesrepublik.

Offiziell blieb der innerdeutsche Zugverkehr auch nach dem Bau der Mauer fast unverändert, doch wurde „hinter den Kulissen ein umfangreicher Kontrollapparat aufgebaut und in Gang gesetzt“.5 Am 4. September 1961, drei Wochen nach dem Bau der Mauer, teilte der Kommandeur der deutschen Grenzpolizei im DDR-Ministerium des Innern dem Stellvertreter des Ministers für die bewaffneten Organe „Änderungen im Reise- und Güterzugverkehr für internationale Züge sowie Züge im Verkehr zwischen den beiden deutschen Staaten“ mit. Seinem Bericht zufolge habe „das Ministerium für Verkehrswesen ... einen detaillierten Plan erarbeitet, der den gesamten Verkehr zwischen Berlin und dem Ausland und Westdeutschland neu regelt“. Dabei seien „folgende Prinzipien zu Grunde gelegt“ worden: „Sämtliche Reisezüge im internationalen Verkehr und Verkehr zwischen Berlin und Westdeutschland fahren mit verschlossenen Türen durch die DDR bis zum jeweiligen Grenzbahnhof an der Staatsgrenze ... Das Ein- und Aussteigen ist nur an den Grenzbahnhöfen möglich ...“6

Auch der Verkehr zwischen Westberlin und der Bundesrepublik blieb in den sechziger Jahren von Schikanen begleitet. Dies änderte sich nach Abschluss der Ostverträge, vor allem mit dem „Abkommen zwischen der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik und der Regierung der Bundesrepublik Deutschland über den Transitverkehr von zivilen Personen und Gütern zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Berlin (West)“ vom 17. Dezember 1971. In der Regel fand in den durchgehenden Zügen nur eine Personenkontrolle statt. Eine weitere „Normalisierung" brachte der Vertrag zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland über Fragen des Verkehrs vom 26. Mai 1972.

In den achtziger Jahren tauchten unter den Reisenden aus der DDR jüngere Gesichter auf. In dringenden Familienangelegenheiten durften jetzt DDR-Bürger schon vor Erreichen des Rentenalters Besuche in Westdeutschland machen. Meist war es so, dass zumindest ein Ehegatte oder die Kinder als „Geiseln“ zurückbleiben mussten. Die meisten dieser jüngeren Reisenden kehrten wieder in die DDR zurück. Aber mancher seufzte doch im privaten Gespräch: „Am liebsten würde ich hier bleiben.“ Der Fall der Mauer am 9. November 1989 öffnete endlich die innerdeutsche Grenze für alle. Die schnell beschlossene und verwirklichte Vereinigung de beiden deutschen Staaten im Oktober 1990 machte auch den Interzonenreiseverkehr – dieses Überbleibsel aus dem „Kalten Krieg“ überflüssig. Jetzt reiste man wieder innerhalb Deutschlands.

Trotz aller Widrigkeiten und der extremen Langsamkeit, mit der diese Züge von Ost nach West fuhren, brachte der Interzonenverkehr doch ein wenig Menschlichkeit in die deutsche Teilung. Er verhinderte, dass die Deutschen in Ost und West sich völlig auseinanderlebten. Ohne die Interzonenzüge wäre das Klima in Deutschland kälter gewesen.


Fußnoten:


  1. Zit. nach Peter Bock: Interzonenzüge. Eisenbahnverkehr im geteilten Deutschland. München 1998, S. 11. ↩︎

  2. Ebd. ↩︎

  3. Bernd Kuhlmann: Deutsch-deutsche Grenzbahnhöfe. München 2005, S. 9 ff. ↩︎

  4. Bock, Interzonenzüge (wie Anm. 1), S. 38. ↩︎

  5. Ebd., S. 76. ↩︎

  6. Ebd., S. 77. ↩︎