OWEP 3/2006
Schwerpunkt:
Schienenwege in Europa
Editorial
Der Eisenbahn haftet etwas Altmodisches an. Im Zeitalter des Individualverkehrs hat es das älteste Massenverkehrsmittel der Welt schwer, sich gegen die mächtige Konkurrenz des Automobils zur Wehr zu setzen. Im "alten" Europa wurden zudem seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Streckennetze vielfach ausgedünnt, und auch in Mittel- und Osteuropa lässt sich dieser Prozess beobachten. Ob die Entwicklung eines europäischen Hochgeschwindigkeitsbahnetzes daran etwas verändern wird, kann man im Moment nicht recht einschätzen, denn bis zur Fertigstellung eines solchen Gesamtnetzes werden noch Jahrzehnte vergehen.
Dennoch lohnt es sich, der Entwicklung der Eisenbahn in Mittel- und Osteuropa nachzugehen. Das vorliegende Heft will nicht nur Informationen über die wirtschaftliche und politische Bedeutung der Eisenbahn vermitteln, sondern auch die gesellschaftlichen Prozesse aufzeigen, die das neue Verkehrsmittel angestoßen hat: Die Eisenbahn hat wesentlich mehr als nur die Entfernung zwischen zwei Punkten auf der Landkarte verringert. Sie steht am Beginn des Weges, der in die Kommunikations- und Informationsgesellschaft des 21. Jahrhunderts geführt hat.
Die Beiträge des Heftes sind so unterschiedlich gestaltet wie die Bahnlinien, die sie beschreiben. Vom Essay bis zur kulturhistorischen Skizze, von der Satire bis zum Erlebnisbericht wird das Bahnfahren in verschiedenen europäischen Ländern und zu verschiedenen Zeiten geschildert und damit, wie wir hoffen, lebendig. Einige Skizzen dienen dazu, die Streckenverläufe etwas besser nachvollziehen zu können; dennoch sollte man von Fall zu Fall eine Landkarte hinzulegen. Da auch Sibirien in zwei Beiträgen den landschaftlichen Hintergrund bildet, geht die Reise weit über Europa hinaus. Folgen Sie einfach den Schienen zu fernen Zielen, lassen Sie sich von der besonderen Atmosphäre einer Bahnfahrt gefangen nehmen!
Die Redaktion
Kurzinfo
Auch wenn die Eisenbahn als Massenverkehrsmittel längst vom Auto abgelöst worden ist, übt sie bis heute auf viele Menschen, besonders in Europa, einen eigenartigen Reiz aus. Vielfach sind es Kindheitserinnerungen an Dampflokomotiven, an Fahrten mit dem „Feurigen Elias“, die selbst „gestandene Männer“ wieder zu Kindern werden lassen und sie dazu bringen, entweder mit der Modelleisenbahn des Sohnes zu spielen oder sich für den Erhalt einer Museumseisenbahnlinie einzusetzen. Selten nur, meist bei Jubiläen, erinnert man sich daran, dass die Eisenbahn, die im frühen 19. Jahrhundert in einem immer dichter werdenden Netz den europäischen Kontinent überspannte, einer der wichtigsten Pfeiler der Moderne gewesen ist. Entfernungen, die vorher in Tagen bemessen wurden, schrumpften zu Stunden zusammen; immer mehr Menschen hatten nun die Möglichkeit, größere Strecken zurückzulegen, wobei neben den Austausch der Güter auch der der Ideen trat und sogar ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts immer mehr auch die Reise aus purem Vergnügen, also der Tourismus, durch die Eisenbahn zu einem Massenphänomen wurde. Ganze Regionen blühten durch die Eisenbahnanbindung auf, andere ohne Anschluss fielen zurück. Schließlich – auch das darf nicht unterschlagen werden – veränderte die Eisenbahn auch die Kriegsführung.
Die Eisenbahn hat also Europa und auch die übrigen Kontinente nachhaltig verändert, sodass man mit Recht das 19. Jahrhundert als „Eisenbahnzeitalter“ bezeichnen kann. In Malerei, Musik und Literatur erscheint sie in vielfach abgewandelter Form, teils klar und deutlich, teils zur Chiffre verfremdet. Bis heute wirkt sie prägend auf die Perspektive Europas. Aus diesem Grund hat die Redaktion von OST-WEST. Europäische Perspektiven beschlossen, der Eisenbahn ein Themenheft zu widmen. Das Heft bildet in gewisser Weise eine Fortsetzung des Themenheftes „Flüsse machen Geschichte“ (OWEP 3/2004), denn hier wie dort geht es zum einen um den reinen Verkehrsweg „Bahn“ bzw. „Fluss“, zum anderen um das Mehr, was damit in Politik, Wirtschaft, Geschichte und Kultur verbunden ist.
Eröffnet wird das Heft, dem auch einige Skizzen beigefügt sind, mit einem Beitrag von Prof. Dr. Thomas Bremer (Mitglied der Redaktion) mit grundlegenden Bemerkungen über die Bedeutung der Eisenbahn für die Entwicklung in Mittel- und Osteuropa im 19. Jahrhundert. Klaus Wiebelitz (Mitarbeiter des DB-Museums in Nürnberg) stellt im Anschluss daran zwei wichtige mitteleuropäische Eisenbahnknotenpunkte vor, Warschau und Wien. In zwei Beiträgen, in die viele persönliche Erfahrungen eingeflossen sind, nimmt Wolfgang Grycz (Mitglied der Redaktion) den Leser mit auf die Reise mit dem Interzonenzug, der in der Zeit des „Kalten Krieges“ half, die Spaltung Deutschlands ein wenig zu überwinden, und beschreibt die Geschichte der Strecke Berlin-Warschau.
Ins östliche Mitteleuropa und darüber hinaus führt der Bericht der Journalistin Małgorzata Nocuń und ihres Kollegen Andrzej Brzeziecki (Mitarbeiter des „Tygodnik powszechny“, Krakau). Ihre Reise im Frühjahr 2006 streifte die Grenzregionen von Polen, Ukraine und Weißrussland. Das alte Österreich, d. h. die Habsburgermonarchie vor 1918, bildet den Hintergrund des Beitrags von Dr. Christof Dahm (Mitglied der Redaktion). Er geht der Geschichte der ersten österreichischen Eisenbahnlinie nach, die von Wien quer durch Mähren bis ins heutige Polen angelegt wurde. Zu den berühmtesten europäischen Bahnverbindungen zählt der „Orient-Express“, mit dem bis heute der Luxus der Belle Époque verbunden wird. Leider ist der Versuch, die historische Strecke nachzufahren, heutzutage mit nahezu unüberwindlichen Schwierigkeiten verbunden – hier zeigt sich, dass Teile Europas immer noch durch Grenzen voneinander abgeschottet sind. Dies musste Prof. Dr. Michael Albus (Mitglied der Redaktion) erfahren; sein Beitrag handelt davon.
Die drei abschließenden Beiträge des Heftes gelten der Eisenbahn in Russland. Dr. Frithjof Benjamin Schenk (Universität München/St. Petersburg) widmet sich dem „Mythos“ der Transsibirischen Eisenbahn. Johannes Grützmacher M. A. (Universität Tübingen) erläutert die Geschichte der Baikal-Amur-Magistrale, eines der Prestigeobjekte der späten Sowjetära. Das Bild der Eisenbahn in der russischen Literatur zeichnet der Slawist und Osteuropahistoriker Dr. Georg Schomacher (Münster) mit vielen Beispielen nach.
Dr. Christof Dahm