Es war einmal ... Der Orient-Express
Kein Zweifel: Der Name ‚Orient-Express‘ weckt mancherlei Gefühle. Nostalgie ist mit im Spiel: der Geruch von Kohledampf, das Rattern der Wagenräder über die Schienen, Feinschmeckermenüs mit fünf Gängen in den Speisewagen, komfortable Nächte in den Schlafwagen, überfüllte Abteile zu den Gastarbeiterzeiten, Luxus, Abenteuer, Politik, viel Krieg, wenig Frieden – Bilder zum Thema: Menschen unterwegs in Europa.
Werner Sölch hat alles über den märchenhaften Zug in einem informativen Buch mit zahlreichen Bildern auf das Genaueste zusammengetragen („Orient-Express. Glanzzeit, Niedergang und Wiedergeburt eines Luxuszuges“. Düsseldorf 1998). Komplex, kompliziert ist die Geschichte dieses Zuges, in ihren zahlreichen Verästelungen – nicht nur der Streckenverläufe – kaum zu überblicken.
Ein paar Daten
- 1884, 4. Oktober: Eröffnungsfahrt des Orient-Express. Zweimal wöchentlich verkehrt er auf der Strecke: Paris - Straßburg - München - Simbach - Wien - Preßburg - Budapest - Szeged - Orschowa - Piteschti - Bukarest - Giurgiu, mit Anschluss an die Orientbahn Ruse - Varna und an den Österreichischen Lloyd Varna - Konstantinopel.
- 1914: Unterbrechung der Luxuszüge durch den Ersten Weltkrieg.
- 1938: Wegen der Sudetenkrise zeitweilig unterbrochen; während des Zweiten Weltkrieges zahlreiche Streckenänderungen und Umwidmungen in Militärzüge.
- 1946: Wiedereinführung des Orient-Express, jetzt auch mit Sitzwagen. – In den Jahren darauf werden verschiedene Streckenverläufe in Europa miteinander kombiniert, dann wieder getrennt.
- 1965: Einführung des Istanbul-Express München - Istanbul, später zeitweilig in Verbindung mit dem Hellas-Istanbul-Express. Es ist die Zeit der überfüllten Gastarbeiterzüge.
- 1976: Einführung von Luxus-Sonderzügen, später Nostalgie-Istanbul - Orient-Express (NIOE).
In den Jahren nach 1980 wird spürbar, dass der wachsende innereuropäische Luftverkehr dem Schienenverkehr den Rang abläuft, aus Zeitgründen vor allem, später auch aus Kostengründen. Nicht zu unterschätzen ist auch der wachsende Autoverkehr. Seit 1994 dominieren Autoreisezüge auf den verschiedenen Streckenverläufen.
Danach verliert sich der Zug ins Niemandsland der Einzelstreckenfahrpläne. So endet das, was 1883 in Paris begann und was Detlev von Liliencron (1844-1909) in seinem Gedicht „Blitzzug“ so beschrieb:
Quer durch Europa
von Westen nach Osten
Rüttert und rattert die Bahnmelodie
Gilt es die Schnelligkeit schneller zu kosten?
Kommt er zu spät an im Himmelslogis?
Fortfortfort fortfortfort drehn sich die Räder
Rasend dahin auf dem Schienengeäder,
Rauch ist der Bestie verschwindender Schweif,
Schaffnerpfiff, Lokomotivengepfeif ...
Cognac in Fässern – Trüffel aus Paris
Die Reisezeit von Paris nach Konstantinopel betrug im Juni 1883 81 Stunden und 40 Minuten.
In den ersten Luxuszügen mussten noch Gepäckwagen mitgeführt werden, um die Garderoben der reichen Reisenden für Redouten, Bälle, Picknicks, Promenaden und Exkursionen zu befördern. Die Schlafwagen und die Speisewagen waren „vom Feinsten“ eingerichtet. Die Gepäckwagen beförderten Luxusgüter. Paul Morand schreibt in seinem Buch „Bucarest“: Die Junggesellen von Bukarest trösteten sich mit der Erinnerung an die Zeit, als sie feine Diners gaben, als sie Cognac in Fässern empfingen und als die Trüffel aus Paris im Orient-Express ankamen.
Eine solche Reise konnte nur machen, wer sehr viel Geld hatte. Der Orient-Express war zu dieser Zeit ein wahrhaftiger Kapitalistenzug, das kann man heute mit Fug und Recht sagen.
In den Gastarbeiterzeiten sah das alles ganz anders aus. Kinderreiche Familien breiteten sich in den Abteilen aus, der Geruch von Käse und Knoblauch wehte durch Gänge und Abteile. Für verwöhnte Nasen und Geschmäcker war das unerträglich. Aber die konnten ja auf die von Zeit zu Zeit verkehrenden Nostalgie-Luxus-Züge ausweichen.
Es war einmal … So fangen alle Märchen an und so enden sie.
Und heute? Protokoll eines Versuchs
Der Versuch, eine der alten Hauptstrecken des Orient-Express im Jahre 2006 nachzureisen, nahm einen überraschenden Verlauf, der hier in kurzen Sätzen festgehalten wird. Er war nicht frei von Überraschungen, Ungereimtheiten und seltsamen bis komischen Erfahrungen. Und er war eine kleine Lektion über ein Europa, das angeblich zusammenwächst. Manchmal habe ich mich gefragt, ob da etwas zusammenwachsen soll, was nicht zusammengehört.
Tag 1
Drei Wochen vor dem geplanten Reiseantritt gehe ich in ein kleines, aber effizient arbeitendes Reisebüro und teile meinen Reisewunsch mit. Eine Minute danach habe ich den Ausdruck der täglichen (!) Verbindung von Mainz nach Istanbul über Wien und Sofia. Fahrtzeit 43 Stunden und 45 Minuten; ab Wien wegen Schlafwagen reservierungspflichtig; längere Aufenthalte auf Bahnhöfen, an denen die Kurswagen umgehängt und an Züge mit anderen Verlaufsnummern angekoppelt werden. Die Kosten der Fahrt sind auch schnell ermittelt: 308,60 Euro. Je nach Wahl der Klasse kann sie noch um einiges teurer werden.
Schwierigkeiten zeichnen sich ab bei der Reservierung von Sofia nach Istanbul. Aber ohne die geht es ja nicht. Die freundliche geduldige Dame im Reisebüro verspricht nach einigen Telefonaten mit der Bahnagentur, sich verstärkt um die Sache zu kümmern, meint aber jetzt schon, ich solle es doch einmal direkt am Mainzer Hauptbahnhof versuchen. Gleichzeitig muss ich noch – aus Zeitgründen – eine Flugrückreise von Istanbul nach Frankfurt buchen. Auch das war nicht ganz einfach, weil „one-way“-Flüge sehr teuer sind. Am besten, so erfahre ich, bucht man einen Hin- und Rückflug und lässt den Rückflug verfallen; das ist um die Hälfte billiger als der Flug in nur eine Richtung.
Tag 2
Nach einigen Telefonaten mit dem Reisebüro in der Zwischenzeit, die aber nichts Neues ergeben, gehe ich wieder hin. Es ist jetzt klar: Eine Buchung bzw. Reservierung von Sofia nach Istanbul ist, wenn überhaupt, nur unter zeitraubenden Schwierigkeiten möglich. Die Frage ist schlicht und ergreifend: Was mache ich, wenn ich Sofia erreicht habe? Eine mir gut bekannte Bulgarin, die ich darauf anspreche, sagt nur: „Vorsicht am Bahnhof in Sofia, schrecklich viele Räuber!“
Die Dame im Reisebüro kann also nur bis Sofia buchen. Aber was soll ich damit? Noch einmal empfiehlt sie mir, den Mainzer Hauptbahnhof aufzusuchen.
Tag 3
Rosenmontag, Mainz Hbf. Ich muss nicht warten wie sonst, weil alles, was Beine hat, in der Stadt ist. An den drei geöffneten Schaltern sehe ich verkleidete Männer. Ich komme zu einem, der mir im Gewand eines chinesischen Mandarins gegenüber sitzt und ausgesprochen freundlich ist. Als ich das Reiseziel Istanbul nenne, schaut er mich entgeistert an und sagt in Mainzer Dialekt: „Ei was wolle Sie denn do? Flie‘sche Se doch!“ Als ich ihm sage, warum ich mit der Bahn fahren muss, antwortet er: „Ei des is was anneres. Des mache mir doch!“ Und druckt mir den Reiseverlauf aus, den ich schon am Reisebüro erhalten habe. Nur die Ankunftszeiten in Sofia sind anders – aber mit demselben Zug. Einen Grund dafür kann er mir nicht nennen. Auch er kommt nur bis Sofia und bucht und reserviert bis dorthin. Dann wendet er sich an seine Kollegen an den anderen Schaltern mit der Frage: „Wo habbe mir denn Bulgarie?“ Die eilen herbei und beklagen, dass das Land seit der letzten Umstellung im Rechner nicht mehr auffindbar sei. Der Mandarin gibt aber nicht auf – und beschafft mir doch tatsächlich im Verlauf einer guten halben Stunde eine Fahrkarte, jedoch ohne die notwendige Reservierung, von Sofia nach Istanbul.
Zwischendurch sagt er mir, dass ich eine Reservierung schriftlich bestellen könne. Ich müsste dann einen Brief an eine ihm noch nicht bekannte Adresse nach Sofia schicken, dort würde mein Antrag bearbeitet und zurückgeschickt – mit der Post. Dauer: etwa drei Wochen. „Annerster geht des nit, weil die Bulgare aus de Elektronik ausgestiesche sin!“ „Und des in Eiroba!“ fügt er hinzu. Er sagt: „Wenn Sie in Sofia ankomme, dann steht do schon der Zug uff’eme annere Gleis. Dann gehe Sie einfach hin un steische ei‘, irschendwie werde Se scho mitkomme. Angst brauche Se auch nicht habbe, weil die Mafia ja in die annere Rischtung fährt!“ Und lacht dabei. Der Beamte vom andern Schalter erzählt mir derweil von seinem lang gehegten Wunsch, von Mainz nach Peking zu fahren. Aber das sei ihm zu teuer.
Ich erhalte dann für 309 Euro und 25 Cent einen ganzen Packen von Fahrkarten, denn für jede Teilstrecke muss eine eigene Fahrkarte ausgestellt werden. Auf diese Weise erfahre ich auch, wo überall Aufenthalte und Zugumstellungen sind. Mit einem nicht ganz donnernden „Helau!“ werde ich verabschiedet. Dann rufe ich im Reisebüro an, das an diesem Tag geschlossen hat, und kündige auf dem Anrufbeantworter mein Kommen für morgen an.
Tag 4
In der Zwischenzeit hat das Reisebüro auch schon über die Bahnagentur mit der Reservierung begonnen, ist aber faktisch auch nicht weitergekommen wie ich in Mainz am Hauptbahnhof. Der Angestellte dort rät ab zu fahren, weil das zu riskant sei. Die Dame im Reisebüro sagt dann noch: „Wir könnten jetzt natürlich in Sofia am Bahnhof anrufen, aber bei wem? Und dann kann ich kein Bulgarisch.“ Ich sage ihr Dank für die Mühe, die sie sich gemacht hat, und verspreche, sie nach Rücksprache mit der Redaktion über meine Entscheidung zu informieren. Sie ermahnt mich noch, das schnell zu tun, weil sonst der Flug verfalle. Die vorläufige Reservierung vor ein paar Tagen ist nur deswegen nicht erfolgt, weil sich jemand in der Kennnummer meiner Kreditkarte verschrieben hat.
Freundlicherweise gibt mir die Dame im Reisebüro noch Adresse und Telefonnummer des Bulgarischen Fremdenverkehrsamtes in Frankfurt. Dort teilt mir ein Anrufbeantworter mit schläfriger Frauenstimme mit, dass derzeit das Büro geschlossen sei, ich aber per Fax meine Fragen stellen könne. Einen Brief – mit ausreichendem Rückporto – könne ich auch schreiben. Wann wieder geöffnet ist, erfahre ich nicht.
Schließlich entscheide ich mich, nicht zu fahren. In der Abwägung war auch ausschlaggebend, dass zwei wichtige Streckenabschnitte nur bei Nacht befahren werden, ich also nichts sehen würde. Das teile ich der Dame im Reisebüro mit, die sichtlich erleichtert ist, dass der Marathonversuch nun beendet ist.
Der letzte Akt spielt sich dann wieder auf dem Hauptbahnhof in Mainz ab. Es ist Fastnachtsdienstag und die Schalterbeamtinnen und Schalterbeamten sind immer noch verkleidet. Diesmal gerate ich an einen freundlichen als Stadtstreicher verkleideten Herrn. Er denkt nach, drückt viele Knöpfe auf seinem Rechner, dann streicht er jede Teilfahrkarte mit einem Kugelschreiber kreuz und quer durch, heftet sie auf ein weißes Blatt Papier und legt sie in einem Korb ab.
Ich muss keine 15,- Euro Stornierungsgebühr zahlen und bekomme die 309,25 Euro bar zurückgezahlt. Dazu muss die Schalternachbarin helfen – sie ist als Bergmann verkleidet –, weil der Stadtstreicher noch nicht genügend Geld in seiner Schalterkasse hat. Sein Kommentar zum Schluss: „Ja, da redde se all von Eiroba, die Bollidiger, fliesche hin un her, wisse abber nit wie‘s werklisch is!“
Mir fällt ein, dass in der Woche zuvor der bulgarische Ministerpräsident zu Besuch bei Frau Merkel in Berlin war und im Blick auf den Beitritt seines Landes zur Europäischen Union versichert hat, dass Bulgarien alles tun werde, damit es in den Kreis der Mitglieder aufgenommen wird. Ein paar Tage später lese ich noch folgende dpa-Meldung:
Bundespräsident Köhler und der Präsident der Tschechischen Republik, Václav Klaus, haben am Dienstag beklagt, es gebe eine Kluft „zwischen dem, was das politische Europa sagt und tut, und dem, wie es beim Bürger ankommt“. Das sagte Köhler nach einem Treffen mit Klaus im sächsischen Pirna. Nach den Worten Köhlers brauchen die Bürger klare Antworten und Orientierungen. Europa brauche eine „wirkliche Debatte“, sagte Klaus.
Das war der Versuch, per Bahn von Mainz nach Istanbul zu kommen. Bis zur Einsicht, dass der Versuch zum Scheitern verurteilt ist, habe ich rund eine Woche gebraucht, habe viel telefoniert und bin zwischen Ingelheim, wo das Reisebüro ist, und dem Mainzer Hauptbahnhof rund 80 Kilometer mit dem Auto gefahren.
Vor 123 Jahren fuhr der erste Orientexpress. Es war einmal?