Ungarn und die magyarischen Minderheiten in den Nachbarstaaten
Problemaufriss
Das Verhältnis des ungarischen Staates zu den magyarischen Bevölkerungsteilen in den Nachbarländern ist problematisch und führt immer wieder zu Belastungen in der Region. Der historische Ausgangspunkt dieser Problematik liegt im Friedensvertrag von Trianon, den Ungarn 1920 als Verliererstaat des Ersten Weltkriegs unterzeichnen musste. Die Siegermächte propagierten zwar das Selbstbestimmungsrecht der Völker, wichen aber in den Friedensverträgen von 1919/20 zu Lasten der Verlierer von diesem Grundsatz ab. Die deutlichste Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit traf Ungarn, das im Vertrag von Trianon nicht nur die nicht ungarisch besiedelten Gebiete abgeben musste, sondern auch Territorien mit mehr oder weniger geschlossener ungarischer Bevölkerung, obwohl unter demographischen Gesichtspunkten eine dem Selbstbestimmungsrecht des ungarischen Volkes besser gerecht werdende Grenzziehung ohne weiteres möglich gewesen wäre. Seit Trianon leben mehrere Millionen ethnischer Ungarn als Minderheiten in den Nachbarstaaten. Jeder Nachbar Ungarns beherbergt eine mehr oder wenige große ungarische Minderheit, deren Größe von anderthalb Millionen (Rumänien) bis zu einigen Tausend (Österreich, Slowenien) reicht.
In der Zwischenkriegszeit reagierte Ungarn hierauf mit einer Politik des Revisionismus, die es an die Seite des nationalsozialistischen Deutschland trieb. Als Belohnung erhielt Ungarn nach 1938 einige der verlorenen ungarisch besiedelten Gebiete zurück. 1947 stellte der Pariser Frieden die Grenzen von Trianon – mit einer winzigen Abweichung zu Lasten Ungarns – wieder her. In der darauf folgenden blockinternen „pax sovietica“ war jede Thematisierung der Lage konationaler Minderheiten in den blockangehörigen Nachbarstaaten mit einem Tabu belegt. Zaghafte Ansätze unter János Kádár, mit Rumänien, wo die meisten ethnischen Ungarn leben, zu einer ethnopolitischen Verständigung zu kommen, scheiterten an dem Unwillen der rumänischen Führung und wurden nicht fortgeführt.
Das Totschweigen der „nationalen Frage“ durch die ungarische Regierung ließ die Bevölkerung das Los der Ungarn in den Nachbarstaaten nicht vergessen. Insbesondere die rumänische Assimilierungspolitik von Nicolae Ceauşescu und die Auswirkungen des megalomanischen tschechoslowakisch-ungarischen Staustufenprojekts an der Donau zwischen Gabčíkovo und Nagymaros beunruhigten in den 1980er Jahren die ungarische Öffentlichkeit. Zu jener Zeit waren die Reformen in Richtung „weiche Diktatur“ bereits so weit fortgeschritten, dass der Staat zu schwach war, um Diskussionen ganz zu unterbinden, allerdings noch stark genug, um sie in eine Gegenöffentlichkeit zu verbannen. So wurde die Sorge um die konationalen Minderheiten in den sozialistischen Nachbarländern eine der Triebfedern für den Sturz des Regimes Kádár, und angesichts der verheerenden ökologischen und nationalitätenpolitischen Bilanz des Donaustaustufenplans fanden sich ungarische Nationalisten und Umweltbewegte in einer vorübergehenden Allianz gegen das sozialistische Regime zusammen.
Die politische Wende
Die Wende in Ungarn
Die Wende in Ungarn wurde – anders als in allen anderen sozialistischen Staaten – auf Initiative der alten Staatspartei von oben mit den Spitzen der Opposition verhandelt und nicht von der Bevölkerung erkämpft.1 Nach einigen Vorläufern ab 1987 war die Verfassungsrevision vom 23.10.1989 der erste große Schritt auf dem Weg zum neuen System; dieser Weg wurde auf Verfassungsebene durch die zweite große Verfassungsrevision vom 25.06.1990 vollendet.
Bereits die erste Verfassungsrevision vom 23.10.1989 wandte sich auch der Frage der Auslandsungarn zu. In § 6 der Verfassung, der die Ziele der Außenpolitik definiert, wurde Absatz 3 eingefügt, der das Verhältnis des ungarischen Staates zu den Ungarn in den Nach-barländern regelt:
§ 6 Abs. 3: Die Republik Ungarn empfindet Verantwortung für das Schicksal der jenseits ihrer Grenzen lebenden Ungarn und fördert die Pflege ihres Kontakts mit Ungarn.
Der juristische Gehalt dieser Vorschrift, die so oder so ähnlich in zahlreichen postsozialistischen Verfassungen Osteuropas, aber auch in einigen westeuropäischen Grundgesetzen2 zu finden ist, ist dünn. Der Staat – und das heißt vor allem die jeweilige Regierung – ist zur Förderung eines anderweitig stattfindenden Kontakts, nicht aber selbst zur Kontaktpflege verpflichtet. Das ist nur ein Minimum, welches allerdings ein vollständiges Ignorieren des Problems wie unter dem Sozialismus verbietet. In der Folgezeit haben alle ungarischen Regierungen seit der Wende eine aktive Politik gegenüber den Magyaren in den Nachbarländern betrieben und deren Interessenvereinigungen – wenn auch in unterschiedlich starkem Maße – in die Ausarbeitung ihrer Politik einbezogen.3
Parallel zur Verfassungsänderung kündigte Ungarn den Vertrag über das Staustufenkraftwerk. Die Slowakei4 zog hiergegen vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag, der unter Berufung auf die Verpflichtungswirkung von Verträgen v. a. der slowakischen Seite Recht gab, was nicht nur ungarische Nationalitätenpolitiker bedauerten, sondern auch die internationale Umweltbewegung. Bemerkenswert ist, dass Ungarn und die Slowakei trotz aller Spannungen diese wichtige und emotionsgeladene5 Frage durch ein Gericht nach Rechtsregeln klären ließen, statt den Streit politisch eskalieren zu lassen.
Die Wende in den Nachbarstaaten
Auch in den übrigen ehemals sozialistischen Staaten endete mit dem Zusammenbruch des Sozialismus die Tabuisierung ethno- und nationalitätenpolitischer Fragen. Das führte allerdings nicht notwendigerweise zu einer Verbesserung der Lage der dortigen ungarischen Minderheiten. In Rumänien propagierte auch das neue Regime – das in vielem das alte Regime fortsetzte – einen ethno-rumänischen Nationalstaat, in dem die Minderheiten, allen voran die Ungarn als größte Gruppe, als störend empfunden und behandelt wurden. Erst die „nachgeholte Wende“ Ende der 1990er Jahre brachte in Rumänien eine Entspannung, aber auf örtlicher Ebene lastet in manchen Gemeinden und Regionen immer noch ein großer lokalpolitischer Druck auf der ethnisch ungarischen Bevölkerung. In der Slowakei stand vor und v. a. nach dem Auseinanderbrechen der Tschechoslowakei eine nationale Selbstfindung der Slowaken auf dem Programm, die von starken Irredentismusängsten gegenüber der geschlossen an der ungarischen Grenze siedelnden, über eine halbe Million Menschen umfassenden magyarischen Minderheit geprägt war. Auch hier brachte erst die weitere Entwicklung gegen Ende der 1990er Jahre eine Entkrampfung des innenpolitischen Klimas. Am härtesten waren die Ungarn in Serbien, d. h. in der Vojvodina, betroffen, die – wenn auch nicht in dem Maße wie Kroaten und Albaner – zur Zielscheibe des großserbischen Assimilierungsprogramms unter Diktator Slobodan Milošević wurden. Dies hat die Atmosphäre in der Vojvodina derart vergiftet, dass auch nach dem Ende der Diktatur in Serbien eine Normalisierung der interethnischen Verhältnisse nur langsam voranschreitet.
Eine positive Bilanz brachte das Ende des Sozialismus für die magyarischen Minderheiten in der Ukraine. Deren nationaler Selbstfindungsprozess nach der Unabhängigkeit war von einer bemerkenswerten Großzügigkeit gegenüber den Minderheiten gekennzeichnet. Ebenfalls großzügig behandeln Kroatien und Slowenien die kleinen ungarischen Minderheiten, und die winzigen magyarischen Gruppen in Österreich (Burgenland) sind dank einer hervorragenden sozialen und wirtschaftlichen Integration von natürlicher Assimilierung bedroht, sodass sich hinter vorgehaltener Hand mancher Nationalitätenfunktionär „a bisserl Unterdrückung“ wünscht, um so eine Abwehrhaltung gegen den Verlust der Identität zu aktivieren.
Die ungarischen Politiken nach der Wende
Da die ungarischen Minderheiten in den Nachbarstaaten leben und seit dem Vertrag von Trianon deren Staatsbürger sind, berührt die Fürsorge des ungarischen Staates für diese Gruppen notwendigerweise die Interessen und Rechte der betroffenen Staaten. Auf eine solche Konstellation kann die nationale Politik mit zwei unterschiedlichen Handlungsmustern reagieren: einem bilateralen (völkerrechtlichen) Muster, das im Zusammenwirken mit dem Wohn- und Angehörigkeitsstaat Verbesserungen zu vereinbaren sucht, oder einem unilateralen (nationalrechtlichen) Muster, in dem das konationale „Mutterland“ einseitig Maßnahmen ergreift. Während Deutschland seine Fürsorge für die deutschen Streu-minderheiten in Osteuropa, Sibirien und Zentralasien im Wege einer bilateralen Politik betreibt, schwankte Ungarns Haltung phasenweise zwischen beiden Modellen, weshalb in der Kapitelüberschrift nicht von „Politik“, sondern von „Politiken“ die Rede ist.
Die bilaterale Phase 1990-1998
Nach der Wende versuchten die ungarischen Regierungen unter den Ministerpräsidenten József Antall (1990-1994, bürgerlich-konservative Koalition) und Gyula Horn (1994-1998, sozial-liberale Koalition), die Lage der magyarischen Gruppen in den Nachbarstaaten durch bilaterale Verträge mit deren Wohnstaaten zu regeln. In die Zeit der Regierung Antall fallen die Nachbarschafts- und Minderheitenschutzverträge mit den unproblematischeren Nachbarn Deutschland6, Kroatien, Slowenien und Ukraine, während der Regierung Horn der Abschluss von Nachbarschaftsverträgen mit einer Minderheitenschutzklausel mit den schwierigen Nachbarn Slowakei und Rumänien gelang. In beiden Nachbarschaftsverträgen zählte die jeweilige Minderheitenklausel zu den umstrittensten Teilen, und ihre Aufnahme in den Vertrag gelang nur durch eine Rücknahme nationaler Rhetorik auf ungarischer Seite und einen zunehmenden politischen Einigungsdruck auf europäischer Seite.
Die unilaterale Phase 1998-2002
Nach Amtsantritt der Regierung unter Ministerpräsident Viktor Orbán (1998-2002) änderte sich das Paradigma, und einseitige ungarische Maßnahmen traten stärker in den Vordergrund. Zum einen waren mit den vertragswilligen Nachbarn die bilateralen Verträge bereits in der vorigen Phase geschlossen worden, und mit dem noch fehlenden Restjugoslawien unter Milošević war eine sinnvolle Vereinbarung nicht möglich. Zum anderen verschoben sich während dieser Regierungsperiode im konservativen Lager Rhetorik und Ideologie nach rechts. Während das MDF (Ungarisches Demokratisches Forum), das 1990-1994 die Regierung getragen hatte, eine gemäßigt konservative Partei blieb, wandelte sich die FIDESZ (Bund Junger Demokraten), die Mehrheitspartei der Koalition von 1998-2002, zunehmend zu einer nationalistisch-konservativen Partei mit stark populistischer Rhetorik.
Zentraler Gesetzgebungsakt dieser Phase in Bezug auf die Auslandsungarn war das so genannte Statusgesetz vom 07.07.2001, eigentlich „Gesetz über die in den Nachbarstaaten lebenden Ungarn. Den in den Nachbarstaaten lebenden ethnischen Ungarn und ihren Verbänden und Vereinen auf dem Gebiet Ungarns wird in vielen Bereichen eine Gleichstellung mit ungarischen Staatsbürgern in Aussicht gestellt. Zudem gewährt es ihnen in ihrem jeweiligen Wohnstaat einmalige oder dauerhafte finanzielle Unterstützungen, z. B. monatliche Zahlungen an Familien mit Kindern, die in ungarischsprachige Kindergärten oder Schulen gehen. Administrative Grundlage der Inanspruchnahme dieser Rechte ist der so genannte „Ungarnausweis“, der ethnischen Ungarn auf Antrag ausgestellt wird und von der Bezeichnung und seinem Äußeren an einen ungarischen Reisepass erinnert. Allerdings verleiht das Gesetz weder die ungarische Staatsangehörigkeit noch sonst einen öffentlich-rechtlichen Status in Ungarn, weshalb die inoffizielle Bezeichnung Statusgesetz ein Propagandatrick ist. Seit dem Regierungswechsel 2002 wird daher zutreffender von einem „Vergünstigungsgesetz“ gesprochen.
Das Gesetz wirft zahlreiche völkerrechtliche Probleme auf7 und wurde daher auch vom Europarat heftig kritisiert. Kernpunkt der Kritik ist, dass die einseitige ungarische Maßnahme die Gebiets- und Personalhoheit der betroffenen Nachbarstaaten verletzt, weil es ungarische Verwaltungsverfahren auf ausländischem Gebiet und ungarische Geldleistungen an ausländische natürliche und juristische Personen vorsieht8. Dies ist völkerrechtlich nur zulässig, wenn der betroffene Staat zustimmt. Zwar kann heutzutage jedenfalls in Europa ein Staat seinem Nachbarstaat nicht mehr grundlos die Fürsorge für dessen konationale Minderheiten auf seinem Gebiet untersagen; das berechtigt den Nachbarstaat aber nicht, sich einseitig über die fehlende Zustimmung des Staates hinwegzusetzen und ohne dessen Zustimmung auf dessen Gebiet und gegenüber dessen Bürgern aktiv zu werden. Da das Gesetz unbedingt noch vor den Wahlen im Frühjahr 2002 verabschiedet werden sollte, um seine innenpolitische Propagandawirkung entfalten zu können, verzichtete die Regierung Orbán auf die völkerrechtlich notwendigen Konsultationen mit den Nachbarstaaten. Das verärgerte sogar solche Nachbarn, die einer großzügigen gegenseitigen Minderheitenpolitik gegenüber aufgeschlossen sind, z. B. Slowenien. Die ärgste und schrillste Kritik kam aus Rumänien und der Slowakei; neben allen berechtigten völkerrechtlichen Einwänden hat die Kritik aus diesen beiden Staaten allerdings auch etwas Scheinheiliges, denn dort bestehen ähnliche – allerdings völkerrechtskonformere – Regelungen.
Die gemischt bilateral-unilaterale Phase seit 2002
Seit 2002 ist wieder eine sozial-liberale Koalition an der Regierung, zunächst unter Ministerpräsident Péter Medgyessy (2002-2004), danach unter Ferenc Gyurcsány (2004-heute). In diese Zeit fallen sowohl völkerrechtliche als auch nationalrechtliche Akte.
Nach dem Sturz von Milošević konnte 2003 mit Serbien-Montenegro ein großzügiges Minderheitenschutzabkommen geschlossen werden. Das ungarisch-slowakische Kulturabkommen aus demselben Jahr berücksichtigt auch Minderheitenbelange. Schließlich kamen 2003 Visumabkommen mit den beiden Nachbarstaaten zu Stande, deren Bürger gemäß den Schengen-Vorschriften in allen EU-Mitgliedsstaaten der Visumpflicht unterliegen, nämlich Serbien-Montenegro und Ukraine. Ungarn verpflichtet sich, im Rahmen des europarechtlich Möglichen die Visumerteilung an Bürger dieser Staaten zu erleichtern, wovon naturgemäß die grenznah wohnenden ungarischen Minderheiten am meisten profitieren.
Neben dieser „Rückkehr zum Völkerrecht“ nutzten die Regierungen Medgyessy und Gyurcsány auch unilaterale Optionen. 2003 wurde das Statusgesetz novelliert, sodass die meisten Völkerrechtsverstöße verschwanden und das Gesetz erstmals von einem politischen Symbol zu einer tatsächlich durchgeführten Vorschrift werden konnte. Bis Mitte 2005 wurden über 800.000 Anträge auf einen Ungarnausweis registriert, meist aus Rumänien, Serbien und der Ukraine. Die Nachfrage aus der Slowakei ist in Anbetracht der Größe der dortigen ungarischen Minderheit gering, wohl weil wegen der EU-Mitgliedschaft der Slowakei der praktische Nutzen für slowakische Staatsangehörige gering ist.
Während die ungarische Regierung damit genug getan zu haben meinte, propagierte die nunmehr oppositionelle FIDESZ die Verleihung der ungarischen Staatsbürgerschaft an die ethnischen Ungarn in den benachbarten Staaten auch unter der Voraussetzung, dass sie ihren Wohnsitz im Ausland beibehalten (Ferneinbürgerung). Die Kampagne wurde unter dem Stichwort der „doppelten Staatsangehörigkeit“ geführt, allerdings war diese Bezeichnung eine propagandistische Täuschung. Wenn das ungarische Recht ethnischen Ungarn tatsächlich eine Möglichkeit der Einbürgerung schaffen würde, dann würden die Personen, die davon Gebrauch machen, in den meisten Staaten ihre alte Staatsangehörigkeit verlieren, denn viele Nachbarn Ungarns haben in ihren Staatsangehörigkeitsgesetzen dieselbe Klausel wie das deutsche Gesetz, derzufolge der freiwillige Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit sofort zum Verlust der alten führt. Damit würden die Auslandsungarn durch den Antrag auf die ungarische Staatsbürgerschaft zu Ausländern im eigenen Land, und in den Ländern wie z. B. der Ukraine, die Ausländern kein Grundeigentum erlauben, müssten sie auch noch innerhalb eines Jahres ihre Häuser und ihr Land verkaufen. Das wurde von den Initiatoren der Ferneinbürgerung bewusst ausgeblendet.
Da sich die Regierung dem Vorhaben nicht anschloss, starteten seine Befürworter eine Volksinitiative zur Abhaltung eines Referendums. Am 05.12.2004 fand die Volksabstimmung statt, scheiterte jedoch wegen zu geringer Teilnahme. Beide Seiten erklärten sich zum Sieger: die Initiatoren, weil von den Abstimmenden über die Hälfte dafür gestimmt hatte, und die Gegner, weil die Initiatoren die Bevölkerung nicht ausreichend hatte mobilisieren können und eine Nichtteilnahme einer Nein-Stimme gleichkommt. In der Folge kam es v. a. in Rumänien und Serbien zu Gewaltakten gegen ungarische Bürger und ungarische Autos, weil sich die dortigen magyarischen Gruppen vom Mutterland „verraten“ fühlten.
Die ungarische Regierung erkannte durch die Volksabstimmung, welch enormes Mobilisierungspotenzial die „nationale Frage“ in Ungarn immer noch hat. Sie beschloss daher weitere unilaterale Maßnahmen zugunsten der Auslandsungarn. Die erste war kurz nach der Volksabstimmung das Heimatfondsgesetz vom 28.02.2005. Ab dem Haushaltsjahr 2006 sieht es weitere Mittel für die Unterstützung von Projekten vor, die den Auslandsungarn ihr kulturelles und sonstiges Überleben in ihren traditionellen Siedlungsgebieten erleichtern sollen. Im Haushalt 2006 sind für den Heimatfonds 2 Millionen € direkte Zuwendungen und weitere 430.000 € an Aufstockungsbeträgen eingestellt. Außerdem schuf eine Änderung im Ausländer- und Staatsangehörigkeitsrecht Mitte 2005 weitere Erleichterungen. Das so genannte „nationale Visum“ erlaubt eine – theoretisch – unkomplizierte Visumerteilung an serbi-sche und ukrainische Staatsbürger für Reisen nach Ungarn. Ethnische Ungarn, die nach Ungarn übersiedeln, können seit der Änderung sofort mit Wohnsitznahme ihre Einbürgerung beantragen; die einjährige Mindestresidenzfrist in Ungarn wurde gestrichen.
Schlussbetrachtung
Die Lage der Ungarn in den Nachbarstaaten ist auch heute noch ein zentraler und letztlich nicht gelöster Aspekt der „nationalen Frage“ in Ungarn. Zwischen den beiden politischen Lagern ist zurzeit nicht einmal eine Verständigung darüber möglich, was die ungarische Nation ist.
Die konservative Seite, insbesondere die nationalistische FIDESZ, setzt Nation mit Ethnikum gleich und stellt den Staat in den Dienst der auf diese Weise ethnisch exklusiv definierten Nation. Problematisch an dieser aus dem 18. und 19. Jahrhundert stammenden Auffassung ist, dass sie den Staat ethnisch definiert und so ethnische Bindungen vor demokratische Teilhabe stellt. In dieser Auffassung ist es sinnvoll, Personen, die nicht im Staatsgebiet wohnen, Mitspracherechte an den öffentlichen Angelegenheiten einzuräumen, weil sie gleicher Ethnizität sind. Wegen dieser Auffassung von Nation konnten sich die Auslandsungarn durch das gescheiterte Referendum „verraten“ und in ihrer Gewalt gegen ungarische Bürger legitimiert fühlen. Hinzu kommt, dass FIDESZ sich eine Verbesserung ihres Wahlergebnisses erhofft, wenn die ethnischen Ungarn im benachbarten Ausland an Wahlen in Ungarn teilnehmen dürfen. Die Triebfeder für die Initiative der FIDESZ kann allerdings nicht auf diese parteitaktischen Überlegungen reduziert werden, sondern wurzelt in der geschilderten Auffassung von Nation, die wegen ihres vordemokratischen Charakters in Europa kaum geteilt wird und Ungarn daher in die Isolation führt. Das linke politische Spektrum, aber auch die liberale Mitte verweigern sich einer ernsthaften Auseinandersetzung über „Nation“ und „nationale Frage“. Damit vermeiden sie Diskussionen um diese Fragestellungen, was nach Jahrzehnten zwangsweisen Verschweigens letztlich jedoch kontraproduktiv ist.
Die grundlegend verschiedenen Positionen zu „Nation“ und „nationaler Frage“ ziehen tiefe Gräben in der politischen Elite wie auch in der Bevölkerung. Auch wenn zahlreiche Ungarn der ständigen Diskussionen um Nation und Auslandsungarn müde sind, so ist dieser Problemkreis, der häufig mit „Trianon“ abgekürzt wird, noch nicht aufgearbeitet. Möglicherweise liegt in diesem Graben auch eine der tieferen Ursachen für die Polarisierung, die im Herbst 2006 die politische Krise im Gefolge der so genannten „Lügenrede“ hervorgebracht und deren Lösung so erschwert hat.9
Fußnoten:
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Näher hierzu Kathrin Sitzler: Ungarn. Von der schrittweisen Reform zum Systemwechsel. In: Franz-Lothar Altmann/Edgar Hösch (Hrsg.): Reformen und Reformer in Osteuropa. Regensburg 1994, S. 70-90. ↩︎
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Das deutsche Grundgesetz enthält zwar keine derartige Bestimmung, aber in Art. 116 Abs. 1 Vorkehrungen zu den so genannten „Statusdeutschen“, d. h. zu den Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten und früheren Siedlungsgebieten. ↩︎
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Zur Auslandsungarn-Politik der ersten Nach-Wende-Regierungen s. Georg Brunner: Nationalitätenprobleme und Minderheitenkonflikte in Osteuropa, 2. Aufl. Gütersloh 1996, S. 68-74; Ralf Thomas Göllner: Die Europapolitik Ungarns von 1990 bis 1994. Westintegration, mitteleuropäische regionale Kooperation und Minderheitenfrage. München 2001, S. 143-151; Wolfgang Zellner/Pál Dunay: Ungarns Außenpolitik 1990-1997. Zwischen Westintegration, Nachbarschafts- und Minderheitenpolitik, Baden-Baden 1998, S. 205-371. ↩︎
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Nach dem Auseinanderbrechen der ČSFR folgte die Slowakei in deren Rechte und Pflichten aus dem Vertrag nach. ↩︎
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Die ungarische Seite sorgte sich um das Schicksal der ethnischen Ungarn, deren Wohngebiete von Umsiedlung betroffen waren, während die slowakische Seite um die Stromversorgung großer Teile des Landes fürchtete. ↩︎
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Der deutsch-ungarische Nachbarschaftsvertrag vom 06.02.1992 enthält eine Schutzklausel zugunsten der deutschen Minderheit in Ungarn; da es keine ungarische Minderheit in Deutschland gibt, bleibt der Vertrag in dieser Frage allerdings einseitig. ↩︎
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Zu den Problemen im Völkerrecht wie im innerstaatlichen Recht s. Zoltán Kántor/László Majtényi/Osamu Ieda/Balázs Vizi/Iván Halász (Hrsg.): The Hungarian Status Law: Nation Building and/or Minority Protection. Sapporo 2004; Herbert Küpper: Ungarns umstrittenes Statusgesetz. In: Osteuropa-Recht 2001/418-434; Katrin Voigt: Der Schutz nationaler ungarischer Minderheiten durch ihren Ursprungsstaat aufgrund des ungarischen Statusgesetzes und dessen Vereinbarkeit mit dem Völkerrecht. Frankfurt (Main) 2005. ↩︎
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Um den rechtlichen, aber auch psychologischen Hintergrund der ungarischen Regelung zu ermessen, sollte man sich eine Situation vorstellen, wonach Saudi-Arabien ohne Zustimmung der Bundesrepublik an in Deutschland lebende muslimische Familien eine monatliche Rente für jedes Kind, das eine islamische pädagogische Einrichtung besucht, zahlen würde. ↩︎
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In diesem Sinne Thomas von Ahn: Demokratie oder Straße? Fragile Stabilität in Ungarn, Osteuropa 56 (2006), H. 10, S. 89-103. ↩︎