OWEP 2/2007
Schwerpunkt:
Ungarn
Editorial
Ungarn hat häufig in seiner Geschichte die Rolle eines Sonderfalls inne gehabt: Angefangen von der in der Region einmaligen und in Europa höchst seltenen Zugehörigkeit zu einer besonderen Sprachgruppe über die mühsam erkämpfte Funktion als „Juniorpartner“ in der Habsburger Doppelmonarchie bis hin zu der ganz besonderen Form des real existierenden Kommunismus, die man bei uns zuweilen spöttisch mit „Gulaschkommunismus“ umschrieben hat. Darüber hinaus ist die westliche Wahrnehmung Ungarns oft von kitschigen Klischees geprägt. All das ist schon Grund genug, sich mit diesem Land genauer zu beschäftigen.
Doch in mancher Hinsicht ist Ungarn auch typisch und gar nicht so besonders: Trotz der relativ günstigen wirtschaftlichen Entwicklung in der sozialistischen Epoche hat das Land mit den Problemen der Transformation zu kämpfen. Es gibt in allen Nachbarländern ungarische Minderheiten, für die jeweiligen Regierungen Ungarns ein wichtiges Thema, für die Nachbarländer aber zuweilen Anlass, nationale Unzufriedenheit zu artikulieren. Der lange ersehnte Beitritt zur EU ist 2004 erfolgt, und das politische System hat sich in den Krisen der letzten Jahre als stabil erwiesen, aber dennoch sind noch nicht alle Hinterlassenschaften der Geschichte beseitigt – Phänomene, die wir auch in anderen Staaten Ost- und Mitteleuropas antreffen.
Wir stellen in diesem Heft also ein Land vor, das zugleich besonders und typisch ist. Dazu behandeln wir die Geschichte Ungarns, aber auch Aspekte der Kultur sowie die Situation der katholischen Kirche. All das möge dazu beitragen, dieses uns fast benachbarte und doch nicht so recht bekannte Land näher zu bringen.
Die Redaktion
Kurzinfo
Zu den Nachbarländern in Mittel- und Osteuropa, zu denen die meisten Deutschen ein recht unbefangenes Verhältnis haben, gehört sicher Ungarn. Zwischen Paprika und Piroschka, Zigeunermusik und Operettenseligkeit gibt es allerdings dermaßen viele Klischees, dass das wirkliche Ungarn Mühe hat, sich einigermaßen wirklichkeitsgetreu darzustellen. Geschichte und Kultur weisen Ungarn mehrfach als Sonderfall aus. Da ist zum einen die in Mitteleuropa einzigartige Sprache ohne direkte Verwandtschaft mit den Nachbarvölkern, da ist die geschichtliche Entwicklung vom Status einer europäischen Großmacht innerhalb der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn hin zum heutigen Mittel-, fast schon Kleinstaat, da ist die besondere Ausprägung des real existierenden Sozialismus nach dem Aufstand von 1956 hin zum „Gulaschkommunismus“. All das macht und noch manches mehr beschreibt den Reiz dieses Landes, dem das aktuelle OWEP-Heft nachgehen möchte.
Eröffnet wird das Themenheft mit einem Interview, das Michael Albus mit Erzabt Dr. Asztrik Várszegi OSB von der Benediktinerabtei Pannonhalma geführt hat. Darin äußert sich Erzabt Asztrik pointiert über die gesellschaftliche und geistige Situation des heutigen Ungarn und spart auch nicht mit Kritik an der Kirche und ihrem Selbstverständnis. Dr. Ralf Thomas Göllner, wissenschaftlicher Referent am Ungarischen Institut in München, beschreibt anschließend in einem breit angelegten Durchgang die Geschichte Ungarns von den Anfängen bis zur Gegenwart. Zwei Wendepunkte der neuesten ungarischen Geschichte, der Friedensvertrag von Trianon, in dessen Folge „Großungarn“ zu „Rumpfungarn“ wurde, und der Auftand von 1956 stehen im Mittelpunkt der Ausführungen von Dr. Árpád v. Klimó, Privatdozent für Neuere Geschichte an der FU Berlin. Beide Ereignisse beeinflussen bis heute Politik und öffentliches Leben in Ungarn. Die historisch-politischen Beiträge rundet Privatdozent Dr. Herbert Küpper, Institut für Ostrecht München, ab, der sich mit der Politik Ungarns gegenüber seinen Nachbarstaaten im Hinblick auf die dortigen ungarischen Minderheiten auseinandersetzt.
Bis heute ist ein Ungarn trotz aller Brüche der jüngeren Vergangenheit ein christlich geprägtes Land; nach letzten Umfragen bekennt sich immer noch mehr als die Hälfte der Bevölkerung zum katholischen Glauben. Dennoch hat die kommunistische Zeit viele Wunden gerissen und offene, bis heute ungelöste Fragen hinterlassen. Der Soziologe Dr. Gergely Rosta von der Péter-Pázmány-Universität in Piliscsaba befasst sich mit der aktuellen Situation der Kirche angesichts neuer Herausforderungen; Prof. Dr. Miklós Tomka, Religionssoziologe in Budapest, geht der schwierigen Situation in der kommunistischen Zeit nach, für die sich Beispiele sowohl des Widerstands als auch der Anpassung bis hin zur aktiven Zusammenarbeit mit dem Regime aufzeigen lassen.
Verbreitet ist heute auch in Ungarn der für Westeuropa schon typische „Markt der Religionen“: Allenthalben machen sich geistige Strömungen aus dem weiten Feld der Esoterik breit und finden besonders unter der jungen Generation immer mehr Anhänger, wie aus dem Beitrag von Prof. Dr. András Máté-Tóth, Religionswissenschaftler an der Universität Szeged, und seiner Schülerin Mariann Molnár hervorgeht. Ebenso bunt und vielfältig ist ein anderer Bereich, die neuere Literaturszene Ungarns, die in Deutschland viele Kenner und Liebhaber hat. Namen wie Imre Kertész und Péter Esterházy sind dem breiten Publikum bekannt, doch lohnt es auch, sich in weitere der im Aufsatz der Hungarologin Christina Kunze aufgeführten Autoren zu vertiefen.
Zwei Beiträge von Markus Leimbach, Leiter der Abteilung Projektarbeit und Länder bei Renovabis, runden das Heft ab. Seine Länderinformation vermittelt in gebündelter Form die wesentlichen Eckdaten zu Land, Politik und Gesellschaft. Anschließend skizziert er die Schwerpunkte der Renovabis-Projektarbeit in Ungarn; im Mittelpunkt stehen das Schul- und Bildungswesen, die Jugendarbeit und die Sozialarbeit für die Zigeuner. Am Ende des Heftes wird – analog zum einführenden Interview – eine prominente Persönlichkeit vorgestellt. Das Porträt gilt Barna Kabay, einem der bedeutendsten Filmregisseure Ungarns.
Dr. Christof Dahm