Der Islam in Europa: ein neues Phänomen?

Ein kulturgeschichtlicher Überblick
aus OWEP 4/2007  •  von Ines Weinrich

Ines Weinrich studierte Arabistik, Musikethnologie und Islamwissenschaften, promovierte in Arabistik und arbeitet derzeit als Assistentin an der Professur für Islamkunde und Arabistik der Otto-Friedrich-Universität Bamberg.

Die Frage ist rein rhetorisch: Islam in Europa ist kein neues Phänomen, sondern beinahe so alt wie der Islam selbst. Gleichwohl muss man verschiedene Phasen und Auswirkungen unterscheiden. Diese sind wiederum abhängig von den jeweiligen historischen Konstellationen.

Als sich ab der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts die islamische Herrschaft rasend schnell auszubreiten begann, war bald der europäische Kontinent erreicht. In Andalusien regierten verschiedene muslimische Herrscher bis ins späte 15. Jahrhundert. Über das südliche Mittelmeer gab es wiederholt Kontakte, und ab dem 14./15. Jahrhundert wurden große Teile des Balkan osmanisch. Schließlich haben wir es seit dem 19. Jahrhundert mit einer neuen Art muslimischer Präsenz in Europa zu tun. In Folge der europäischen Kolonialpolitik in Nah- und Fernost waren Gruppen von Angehörigen der Kolonialreiche mit ihren jeweiligen Religionszugehörigkeiten in den so genannten „Mutterländern“ vertreten. Zu einer zweiten bis in die heutige Zeit hineinwirkenden Präsenz in Europa kam es durch die Arbeitsmigration Mitte des 20. Jahrhunderts.

Zwar ist die These von den ausgehungerten beduinischen Horden, die im siebten Jahrhundert aufgrund einer Trockenperiode die Arabische Halbinsel verließen, inzwischen ins Kuriositätenkabinett der Geschichte verbannt, aber es hält sich noch immer hartnäckig die Vorstellung, der Islam habe sich in erster Linie oder gar ausschließlich „mit Feuer und Schwert“ verbreitet. Dass es auch andere Methoden der Hinzugewinnung neuer Gebiete gab (z. B. durch freiwilligen Anschluss oder Verträge) und große Teile der Bevölkerung in den hinzugewonnenen Gebieten ihre bisherige Religion zunächst beibehielten, ist weniger bekannt. Eine interessante Fußnote stellt die Tatsache dar, dass die Schlacht von Tours und Poitiers (732) als entscheidendes Zurückdrängen der Muslime konstituierend für das europäische Selbstbild geworden ist. In der arabischen Geschichtsschreibung hingegen hat diese Episode keinerlei Spuren hinterlassen.

Andalusien oder der Traum vom Paradies

711 setzte die Eroberung der iberischen Halbinsel ein; mit dem Emirat von Córdoba ab 756 wurde die islamische Herrschaft institutionalisiert, 929 das westliche Kalifat1 ausgerufen. Die Institution des Kalifats dauerte zwar nur bis 1031, aber diese Zeit markiert eine der bedeutendsten kulturellen Blüten sowohl in Europa als auch der islamischen Welt. Zwei weitere Blütezeiten gab es im 11. Jahrhundert unter den so genannten „Kleinkönigen“ sowie im 14. Jahrhundert.

Die Zeit in Andalusien war zwar fortwährend durch politische und militärische Auseinandersetzungen sowohl mit den europäischen Nachbarn als auch mit konkurrierenden Herrscherdynastien aus Nordafrika geprägt. Dennoch gab es immer wieder bedeutende Leistungen auf dem Gebiet der Künste und Wissenschaften. Ebenso wichtig ist die Tatsache, dass es sich dabei keinesfalls um eine isolierte „muslimische Inselkultur“ auf europäischem Kontinent gehandelt hat; vielmehr waren die kulturellen Grenzen durchlässig. Die Bevölkerung in Andalusien war sprachlich, ethnisch und religiös gemischt; die muslimische Herrscherpolitik sah vor, dass einzelne Gruppen unter ihrer Oberhoheit interne Angelegenheiten (z. B. kultische und rechtliche Angelegenheiten) eigenständig regeln konnten. Dies sorgte für ein weitgehend reibungsloses Zusammenleben, zumindest außerhalb von Krisenzeiten.

Kultur und Politik in Andalusien können nicht ganz isoliert vom abbasidischen Kalifat (ab 750) in Bagdad betrachtet werden. Auch dort trafen verschiedene religiöse, literarische, musikalische und wissenschaftliche Traditionen zusammen. In den Gesellschaften der Kalifenhöfe wurden neue künstlerische Ausdrucksformen sehr geschätzt, und die unter dem Kalifen al-Ma’mun (reg. 813-833) gegründete „Akademie der Weisheit“ wurde zum Zentrum der arabischen Übersetzungen aus dem Griechischen. Besonders nachhaltige Auswirkungen hatten die Übersetzungen medizinischer Werke – z. B. Galen von Pergamon und die Lehre von den Körpersäften – und philosophischer Traditionen, hier besonders von Aristoteles, Platon und den alexandrinischen Neuplatonikern. Viele dieser Übersetzungen bildeten mittelbar oder unmittelbar in ihrer lateinischen Übersetzung die Basis für die europäische mittelalterliche Rezeption dieser Schriften. Beispielsweise wurde Galen bereits im 9. Jahrhundert ins Arabische übersetzt, aber erst der durch Ibn Sina (lateinisch „Avicenna“) im 11. Jahrhundert abgefasste „Medizinische Kanon“ sorgte in seiner lateinischen Fassung für die Verbreitung von dessen Lehren in Mitteleuropa.

In Andalusien wurde um 800 aus politischen Gründen von den muslimischen Herrschern eine Orientalisierungspolitik betrieben. Sie förderten eine gezielte Einwanderung und warben dabei besonders um Gelehrte und Künstler. Mit der Ankunft des legendären persischen Musikers Ziryab in Córdoba 822 hielt die Bagdader Hoftradition Einzug in Andalusien. Reisende Gelehrte, Künstler und Pilger sorgten darüber hinaus für Verbindungen zwischen dem Westen in Spanien und dem Osten in Bagdad. Es war üblich, dass Gelehrte zum Studium von Ort zu Ort zogen, um bei verschiedenen Lehrern zu hören, und auch Pilgerfahrten nach Mekka wurden zu ausgiebigen Studien genutzt. Daneben gibt es Berichte über den Austausch von Sängerinnen und Sängern, nicht nur zwischen Andalusien und Nordafrika, sondern auch zwischen muslimischen Herrschern und ihren nördlichen christlichen Nachbarn auf der Halbinsel. Politische Eheschließungen oder die Vorbereitung diplomatischer Beziehungen waren Anlässe für den Austausch höfischer Traditionen. Am offensichtlichsten sind freilich die bedeutenden Baudenkmäler, die die Muslime auf der iberischen Halbinsel hinterließen – man denke beispielsweise an die Alhambra in Granada oder die Große Moschee von Córdoba.

Weniger offensichtlich als materielle Hinterlassenschaften sind die Spuren auf geistigen Gebieten. Kontrovers diskutiert wird in der romanistischen wie arabistischen Forschung das Ausmaß arabischen Einflusses auf die Troubadour-Dichtung des europäischen Mittelalters. Hier geht es in erster Linie um Ursprünge, die sich aber wohl, auch aufgrund der lange Zeit üblichen ausschließlich mündlichen Überlieferungstraditionen, nicht restlos rekonstruieren lassen. Unbestritten sind wechselseitige Einflüsse, die sich in Ähnlichkeiten von Struktur, formalem Aufbau und festen Wendungen zeigen. Eindeutig andalusischer Herkunft – wenn auch der Anteil der verschiedenen Sprachen daran ungeklärt bleibt – ist das Strophengedicht muwàschschach. Interessant ist dieses Genre auch deswegen, weil es zweisprachig auftritt: In der Schlussstrophe wird arabische Umgangssprache oder eine romanische Sprache verwendet. Der Rest des Gedichts ist in arabischer Schriftsprache abgefasst. Dieses Genre, das wohl ausschließlich für den Gesang verfasst und von einer Musikgruppe begleitet wurde, war außerordentlich beliebt und verbreitet. Zu einigen Melodien gibt es bemerkenswerterweise sowohl arabische als auch hebräische Texte. Unbestritten sind darüber hinaus arabische Einflüsse im Bereich der Saiteninstrumente, was sich u. a. in den Namen zeigt (arabisch „al-ud“: Laute). Erste Darstellungen der wohl von den Arabern in Europa eingeführten Laute stammen aus dem 8. Jahrhundert. Charakteristisch für die Kurzhalslaute ist der abgeknickte Wirbelkasten, der auch die Lauten in Europa prägte.

Bis auf den heutigen Tag präsent, wenn auch eher unbewusst, sind Einflüsse in einem weiteren Bereich, dem der Sprache. Die deutsche Sprache enthält eine ganze Reihe von Wörtern, die aus dem Arabischen stammen. Oft finden sich Entsprechungen in der englischen oder den romanischen Sprachen. Solche Wörter stammen beispielsweise aus dem kulinarischen Bereich („sukkar“: Zucker) oder aus Gebieten, in denen arabische Wissenschaftstraditionen wirkten, wie Mathematik („al-dschabr“: Algebra; „sifr“: Ziffer), Astronomie, Medizin und Pflanzenkunde („scharab“: Sirup, „kafur“: Kampfer). Nicht zuletzt enthalten solche Etymologien auch Hinweise auf Handelsgüter („dimaschq“: Damast) und Alltagskultur („gharrafa“: Karaffe; „suffa“: Sofa).

Nicht vernachlässigt werden sollten schließlich die Pflanzenzüchter und Botaniker, die in Andalusien wirkten und einige Berühmtheit erlangten. Andalusien galt und gilt in vielerlei Hinsicht also als ein Paradies: eine „Goldene Zeit“ mit Vorbildcharakter, in der nicht nur bedeutende Leistungen vollbracht und tradiert wurden, sondern auch ein gelungenes Zusammenleben unterschiedlicher Völker und Religionen vorgeführt wurde.

Das Mittelmeer als Kultur- und Handelsraum

Vorstöße über das Mittelmeer wurden auch weiter östlich gemacht, oft mit Hilfe byzantinischer „Abtrünniger“, die die auf dem Gebiet der Seefahrt eher unerfahrenen Araber unterstützten. Mitte des 7. Jahrhunderts wurde Zypern erobert, etwa zeitgleich fanden mehrere Angriffe auf Sizilien statt, das aber erst im neunten Jahrhundert durch die Herrscherdynastie der Aghlabiden unter muslimische Kontrolle geriet. In relativ kurzer Zeit entstand dort bis zum frühen 10. Jahrhundert eine arabisch-islamisch-griechische Kultur, die unter dem normannischen Herrscher Roger II. ihre Blüte erlebte und bis in die Zeit von Friedrich II. von Hohenstaufen (1184-1250) hineinwirkte.

Auch in der Zeit der Kreuzzüge rissen die Handelsbeziehungen zwischen Orient und Europa nicht ab. Besonders die italienischen Seerepubliken Genua und Venedig profitierten von der Kontrolle des Levantehandels und des Pilgerverkehrs. Bereits seit dem 10. Jahrhundert gab es Kontore europäischer Händler in Ägypten. Akkon in Palästina wurde zu einem der wichtigsten Häfen, der Verbindungen sowohl zu den südfranzösischen und spanischen Städten als auch denen des syrischen Binnenlandes hielt.

Die Osmanen auf dem Balken

Mitte des 14. Jahrhunderts drangen die Osmanen zum ersten Mal nach Europa vor. Eroberungen auf dem Balkan und in Griechenland folgten, und knapp fünfzig Jahre später durften die Osmanen offiziell den Titel „Sultan“ (arabisch „Herrscher“) verwenden. Mit der Eroberung Konstantinopels (1453) erreichte die Expansion einen vorläufigen Höhepunkt. Im 16. Jahrhundert wurden die Osmanen auch im Orient zur beherrschenden Macht, nach der Regierungszeit Süleymans des Prächtigen (1520-1566) setzte aber eine langsame Schwächung des Reichs ein. Die daran anschließende Zeit war durch innere Spannungen und äußere militärische Zersetzungskriege geprägt. Das Osmanische Reich fand schließlich mit der Niederlage im Ersten Weltkrieg sein Ende.

Die osmanische Führung verfolgte eine Politik, die den verschiedenen Religionsgemeinschaften in Glaubens- und Ritualfragen Autonomie zugestand und begrenzt auch eine eigene Gerichtsbarkeit zuließ. Von den Völkern auf dem Balkan traten vor allem die Bewohner des heutigen Bosnien und Albanien zum Islam über. Dabei spielten die vorausgegangene Feudalpolitik und die Hoffnungen auf sozialen Aufstieg eine Rolle. Spuren der langen osmanischen Zeit auf dem Balkan äußern sich nicht allein in den Zeugnissen von Moscheen und religiösen Grabbauten, sondern auch in der Wohnhausarchitektur und Stadtplanung. So wurden z. B. Handelswege gesichert und Karawansereien gebaut. Die Anlage von Aquädukten zur Wasserversorgung hatte auch rituelle Gründe: Die Muslime benötigten aufgrund ihrer rituellen Reinheitsvorschriften eine gesicherte Wasserzufuhr. Große und kleine Waschungen vor Ritualen und nach bestimmten Handlungen gehörten zum religiösen Alltag. Auch die Badekultur war eine andere als die mitteleuropäische; kein Wannenbad, sondern fließendes Wasser war erforderlich, was eher der römischen Badekultur entspricht. Heute sind auf dem Balkan kaum mehr Ensembles aus Moschee, Karawanserei, gedecktem Markt und Bad erhalten geblieben, die typisch für die osmanischen Städte waren. Kaffeehauskultur, Musik und Musikinstrumente, kulinarische und sprachliche Einflüsse wären weiterhin als Bereiche zu nennen, in denen sich osmanische Spuren finden lassen.

Der „Andere“ im Spiegel der Geschichte

Auch oder gerade besonders dort, wo keine unmittelbaren Kontakte bestanden, machte man sich in Europa natürlich ein Bild vom „Anderen“. Im geschlossenen Weltbild des Mittelalters gab es außerhalb Europas schlichtweg nur „Monster“, und „der Wilde“ erfüllte eine ganze Reihe unterschiedlicher Funktionen. Zunächst diente er natürlich als Mittel zur Vergewisserung der eigenen Zivilisiertheit, und der homo monstruosis war eine beliebte Wendung in der Literatur bis ins 18. Jahrhundert hinein. Gleichzeitig entstanden ambivalente Einstellungen: der „Gute Wilde“ wurde besonders in Frankreich zum Mittel früher Zivilisationskritik (Rousseau, Voltaire), während in Großbritannien eher der „Edle Wilde“ als Verkörperung mannhafter Tugenden Konjunktur hatte.

Die geographische Nähe zum Orient sowie Entdeckungsfahrten und Bildungsreisen regten die Phantasie von europäischen Künstlern – Schriftstellern, Malern, Komponisten, Librettisten, Architekten – an. Die Zeit vom 17. bis zum 19. Jahrhundert ist reich an Orientmalerei, Türkenmoden, Haremsphantasien oder Turkismen in der Musik. Dies alles hatte freilich wenig mit dem realen Orient zu tun, dafür sehr viel mit den geistes- und gesellschaftsgeschichtlichen Strömungen in Europa.

Im 19. Jahrhundert, dem Zeitalter des Imperialismus und der Industrialisierung, wurde aus dem räumlichen Nebeneinander ein zeitliches Nacheinander – „wild“ bezeichnete nun eine Vorstufe der eigenen Zivilisation. Dieses war der Rechtfertigungsgedanke für die europäische Kolonialpolitik, die auch die „Zivilisierung“ der „Anderen“ zum Ziel hatte. Unabhängig von der gewählten politischen Strategie waren Kenntnisse der Lebensweise der kolonisierten Völker unabdingbar: die Geburt der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der muslimischen Welt. Große Teile der muslimischen Welt wurden britisch oder französisch, teilweise auch niederländisch kolonisiert. Dies spiegelt sich im Anteil der Herkunft der muslimischen Bevölkerung in den jeweiligen Staaten wieder: In Großbritannien ist dies vorwiegend der indische Subkontinent, in Frankreich vor allem Nordafrika. In Deutschland ist aufgrund seiner Einwanderungsgeschichte das hauptsächliche Herkunftsland die Türkei. Jenseits der theoretischen Diskussionen waren viele Einwanderer zunächst tatsächlich „anders“, nämlich überwiegend Bauern aus dem Osten der Türkei, die dann in Deutschland in der Industrie arbeiteten.

Obgleich in der zweiten und dritten Generation der Akademiker- und Arbeitgeberanteil unter den muslimischen Immigranten kontinuierlich gestiegen ist, hält sich das Bild des „absolut Anderen“ hartnäckig. Oftmals übernimmt dann die Religion die Platzhalterfunktion des „Anderen“, d. h. die Menschen werden über ihre Religion als „anders“ definiert, unabhängig davon, wie sie leben und was sie denken.

Islam in Europa: Probleme und Perspektiven

In Deutschland wurde das erste Anwerbeabkommen für ausländische Arbeitskräfte 1955 mit Italien geschlossen; Muslime kamen vor allem aus der Türkei (1961), Marokko (1963), Tunesien (1964) und Jugoslawien (1968). Das anfänglich von beiden Seiten angestrebte Gastarbeiterdasein geriet in eine Spirale, die in dauerhaften Aufenthalt mündete; die Arbeiter vermissten Heimat und Familie, was sich gesundheitlich auswirkte. Ihre Frauen kamen nach, nun reichten die Männerwohnheime nicht mehr, es wurden Wohnungen angemietet und damit konnte weniger gespart werden. Kinder kamen nach oder wurden geboren, es konnte noch weniger Geld angespart werden usw. Diese Entwicklung verlief über lange Zeit ohne begleitende Strukturen, weder von staatlicher Seite aus noch von der der Immigranten. Dieses Defizit wird in der heutigen Integrationsdiskussion deutlich.

In den Ländern Europas gibt es verschiedene Strategien im Umgang mit ihrer heterogenen Bevölkerung. In Großbritannien herrscht ein eher offensiver Umgang mit öffentlichen gesellschaftspolitischen Diskussionen über Chancengleichheit, Quotenregelungen und dem Verhältnis von Kultur und Macht. In Deutschland begann man sich erst sehr spät diesen Fragestellungen zuzuwenden, da der Tatbestand der Einwanderung lange Zeit verdrängt wurde. Ein Problem ist aber fast überall gleich – die Frage der Repräsentanz, d. h. wer „den Islam“ vertreten darf und kann.

Im Islam gibt es wie auch in anderen Religionen verschiedene Gruppen, die sich in ritueller Praxis, theologischen Fragen und Selbstverständnis voneinander unterscheiden. Bei den meisten existiert keine geistliche Hierarchie und damit keine Institution oder Person, die verbindlich festlegen könnte, wie die Religion zu bestimmten Fragen Stellung bezieht. Die Frage einer angemessenen Repräsentanz ist aber wichtig, wenn es um die Wahl der Ansprechpartner geht: in Fragen des religiösen Dialogs, des Religionsunterrichts oder in Integrationsfragen. Hier muss eine tragfähige Lösung gesucht werden, bei der zugleich der innerreligiöse Pluralismus erhalten bleibt.

Deutschland liegt mit seinen Anteil muslimischer Bevölkerung im Vergleich zu Westeuropa (3,2 Prozent) etwa im Mittelfeld (3,7 Prozent). Den höchsten Anteil verzeichnet Frankreich (6,8 Prozent), gefolgt von den Niederlanden (5,2 Prozent) und der Schweiz (4,2 Prozent). Dass das Thema Religion oftmals so kontrovers diskutiert wird, hängt mit den verschiedenen Ebenen zusammen, die dabei eine Rolle spielen und häufig schwer sauber voneinander zu trennen sind: Klassenzugehörigkeiten, Bedingungen für sozialen Aufstieg, Konkurrenzverhältnisse angesichts knapper werdender Ressourcen (Arbeit, Sozialleistungen), bildungspolitische Fragen, Bewertung von Gewaltbereitschaft und Sicherheitsfragen. Erschwert wird die Situation auch durch die Tatsache, dass viele muslimische Organisationen in Europa unter dem Einfluss von ausländischen politischen Organisationen oder Staaten stehen. Damit wird die Schaffung von genuin deutschen respektive europäischen Strukturen umso wichtiger.

Kulturkontakt bedeutet immer auch Kulturaustausch. Die Vorstellung von exklusiven, in sich geschlossenen Kulturen prägt allerdings über weite Strecken noch die Debatten auf beiden Seiten. Wechselseitige Angst findet sich ebenfalls auf beiden Seiten: Angst, „überfremdet“ zu werden, auf der einen und Angst, „untergebuttert“, assimiliert zu werden, auf der anderen Seite. Dabei birgt eine Konfrontation mit dem „Anderen“ durchaus Chancen in sich: Sie führt zwangsläufig auch zu einer Auseinandersetzung mit sich selbst, der eigenen Kultur oder Religion, und nötigt die Beteiligten, eine eigene Position zu finden. Sie schafft gleichzeitig Vertrautheit mit Differenz in einer globalisierten Welt – eine soziale und intellektuelle Kompetenz, die in vielerlei Berufs- und Alltagssituationen hilfreich ist.


Literaturhinweise:

  • Heiner Bielefeldt: Muslime im säkularen Rechtsstaat. Bielefeld 2003.

  • Ralf Elger (Hrsg).: Kleines Islam-Lexikon. Geschichte, Alltag, Kultur. 4. aktualisierte u. erweiterte Aufl. München 2006.

  • Machiel Kiel: Studies on the Ottoman Architecture of the Balkans. Aldershot 1990.

  • Nabil Osman (Hrsg): Kleines Lexikon deutscher Wörter arabischer Herkunft. München 1982.

  • Gereon Sievernich / Hendrik Budde (Hrsg).: Europa und der Orient 900-1900. Gütersloh, München 1989.

  • Ursula Spuler-Stegemann (Hrsg.): Muslime in Deutschland. Informationen und Klärungen. 3. aktualisierte Aufl. Freiburg (u. a.) 2002.

Fußnote:


  1. Zur Bedeutung des Kalifats vgl. unten im Text. ↩︎