OWEP 4/2007

OWEP 4/2007

Schwerpunkt:
Islam in Europa

Editorial

Nur sehr langsam wird den Europäern bewusst, dass die Anhänger des Islam Bestandteil ihres Kontinents sind. Aber noch immer werden diese zumeist als Migranten wahrgenommen: Als zugewanderte Gastarbeiter, als Bürgerkriegsopfer, als „Wirtschaftsflüchtlinge“ verändern sie das Bild unserer Städte. Die Wirklichkeit ist jedoch umfassender. Heute leben in Europa etwa 53 Millionen Muslime (davon in der Russischen Föderation etwa 25 Millionen und in der Europäischen Union 15 Millionen). Wenngleich diese Schätzungen mit Vorsicht zu genießen sind, so geben sie doch einen Begriff von der Größe dieses demographischen und kulturellen Phänomens. Im südspanischen Andalusien finden wir steinerne Zeugen einer jahrhundertelangen „Maurenherrschaft“, auf dem Balkan, im Nordkaukasus, an der Wolga und auf der Krim leben muslimische Völker.

Dieses Heft verweist auch auf die Probleme, die „Muslime in Europa“ mit sich selber und mit ihrer christlich geprägten Umgebung haben, ob es sich nun um den Islam in Albanien, in Bosnien, Bulgarien, in Russland oder in der Ukraine handelt. In Russland bemühen sich die Verehrer Allahs im Siedlungsraum südliche Wolga/Südural um eine friedliche Koexistenz mit der christlichen Welt, während der Islam mancher Kaukasusvölker aggressive Züge zeigt.

Für Deutschland und die Europäische Union hat die Situation in der Türkei eine besondere Bedeutung: wegen der nach Millionen zu beziffernden Zahl von Zuwanderern aus diesem Land und wegen der Auseinandersetzung um die Aufnahme dieses Landes in die Europäische Union. Ein in die Tiefe gehender Beitrag befasst sich mit der Frage „Wie muslimisch ist die Türkei?“ und gibt Aufschluss über „Staatsislam“, „Volksislam“ und nicht zuletzt über „politischen Islam“. Hier werden Spannungen innerhalb der muslimischen Gemeinschaft sichtbar, die sonst kaum vermittelt werden. In diesen Zusammenhang gehört auch die Diskussion über „die Türkei und Europa“. Die beiden Teilnehmer dieser Diskussion kommen zu entgegengesetzten Standpunkten in der Frage des Beitritts. Sie spiegeln dabei in engagierter Weise das Ja und Nein der allgemeinen Debatte.

Die Redaktion

Kurzinfo

Der Islam ist seit Jahrhunderten in Europa präsent – diese Feststellung mag für viele Europäer überraschend klingen, denkt man doch bei Muslimen spontan an türkische Viertel in deutschen Großstädten, arabisch geprägte Vorstädte in Frankreich oder entsprechende Bezirke großer Städte in Großbritannien mit pakistanischstämmigen Bewohnern. Stets handelt es sich um Einwanderer oder Nachkommen von Einwanderern in der zweiten und dritten Generation, die erst in der Mitte des 20. Jahrhunderts oder noch später nach West- und Mitteleuropa kamen. Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Der Islam als Religion und muslimisch geprägte Gesellschaften gibt es schon wesentlich länger in Europa, und wenn heute im europäischen Einigungsprozess immer wieder die gemeinsamen Wurzeln Europas beschworen werden, darf der Islam als ein wichtiger Faktor nicht einfach ausgeblendet werden. Das aktuelle Heft von „OST-WEST. Europäische Perspektiven“ möchte zu einem differenzierten Bild des Islam in Europa beitragen und bietet daher unterschiedlichen Positionen Raum ein.

Eröffnet wird das Heft mit zwei Beiträgen, die in einem Überblick die Rolle des Islam in und für Europa vom 8. Jahrhundert bis in die Gegenwart nachzeichnen. Mark Bodenstein, Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Forschungsgruppe des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, bietet unter der Überschrift „Muslime in Europa – (k)eine Migrationsgeschichte“ einen Überblick über die Entstehung muslimischer Gemeinschaften in Europas. Dr. Ines Weinrich, Assistentin an der Professur für Islamkunde und Arabistik der Universität Bamberg, widmet sich den vielfältigen kulturellen und geistesgeschichtlichen Einflüssen des Islam auf die gesamteuropäische Entwicklung, wobei besonders die Rolle des maurischen Spanien als Brücke zwischen Antike und Mittelalter gar nicht hoch genug veranschlagt werden kann.

Von hoher Brisanz ist zur Zeit die Frage nach dem Beitritt der Türkei in die Europäische Union. Auch hier werden wichtige Fakten in den Medien oft verkürzt oder verzerrt präsentiert und verstellen den Blick auf eine nüchterne Analyse. Daher versucht Timo Güzelmansur, wissenschaftlicher Mitarbeiter von CIBEDO, der christlich-islamischen Arbeitsstelle der Deutschen Bischofskonferenz in Frankfurt (Main), in seinem Beitrag „Wie muslimisch ist die Türkei?“ die komplizierte Entwicklung der Türkei zum laizistischen Staat und die Rolle des Islam innerhalb des Denkens von Mustafa Kemal Atatürk darzustellen. Die darin enthaltenen Klarstellungen sind wichtige Anhaltspunkte für die weitere Diskussion auch im Heft selbst: Zwei Beiträge der Redaktionsmitglieder Prof. Dr. Thomas Bremer und Prof. Dr. Michael Albus äußern sich „pro“ und „contra“ hinsichtlich des Beitritts der Türkei zur Europäischen Union.

Wie eingangs erwähnt, hat der Islam in Europa eine lange Geschichte. Fünf höchst unterschiedlich strukturierte Texte beschreiben Geschichte, gesellschaftliche Rolle und aktuelle Lage der Muslime in den Ländern Europas, in denen der Islam seit Jahrhunderten ununterbrochen vorhanden ist, und verdeutlichen damit die Vielfalt der Erscheinungsformen dieser großen Weltreligion auf europäischem Boden. Vorgestellt werden Albanien, Bosnien, Bulgarien, Russland und die Ukraine.

Abgeschlossen wird das Heft mit einer Reportage von Dr. Rupert Neudeck („Grünhelme“) über den Kosovo, dessen politische Zukunft z. Zt. mehr als ungewiss ist. Da die dortige Bevölkerung ganz überwiegend dem Islam angehört, ist eine Verbindung zur Gesamtthematik hergestellt.

Islam in Europa, Islam und Europa – die damit verbundenen Fragen werden weiterhin breiten Raum auch in der Arbeit der OWEP-Redaktion einnehmen. Erinnert sei auch an Heft 1/2004 „Christentum und Islam in Europa“. Das aktuelle Heft setzt gewissermaßen die dortigen Diskussionen fort.

Dr. Christof Dahm

Inhaltsverzeichnis

243
Muslime in Europa – (k)eine Migrationsgeschichte
Mark Bodenstein
253
Der Islam in Europa: ein neues Phänomen? Ein kulturgeschichtlicher Überblick
Ines Weinrich
262
Wie muslimisch ist die Türkei?
Timo Güzelmansur
272
Die Türkei und „Europa“. Gründe für den Beitritt der Türkei zur EU (Diskussion)
Thomas Bremer
275
„Sag', wie hältst Du's mit der Religion?“ Gründe gegen den Beitritt der Türkei zur EU (Diskussion)
Michael Albus
278
Die Sonne, die im Westen aufgeht. Islam und Muslime in der Perzeption der albanischen Eliten (Bericht)
Ervin Hatibi
285
„Islam“ als Gegensatz zu Bosnien (Bericht)
Rusmir Mahmutćehajić
292
Muslime in Bulgarien (Bericht)
Ina Merdjanova
298
Islam in Russland (Bericht)
Gerd Stricker
306
Islam in der Ukraine (Bericht)
Viktor Yelensky
311
Der Kosovo vor seiner Rehabilitierung in Europa. Die Zukunft eines kleinen europäischen Landes (Reportage)
Rupert Neudeck
320
Bücher

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