Die Türkei und „Europa“
Als Papst Benedikt XVI. im letzten Jahr die Türkei besuchte, wurde seine Reise als der erste Besuch des Papstes nach der berühmten „Regensburger Rede“ in einem islamisch geprägten Land sehr aufmerksam verfolgt. So sind sein Besuch einer Moschee und die Kontakte mit den Vertretern des Islam besonders beachtet worden. Dadurch ist der eigentliche Anlass der Reise in den Hintergrund geraten, nämlich der Besuch beim Ökumenischen Patriarchen, dem „Patriarchen von Konstantinopel, dem neuen (oder: zweiten) Rom“. Als die Osmanen 1453 Konstantinopel eroberten, ging damit das Byzantinische Reich nach fast 1000 Jahren seines Bestehens unter, doch blieb das Amt des Patriarchen erhalten; er bekam sogar einige Zuständigkeiten, die er nie zuvor inne gehabt hatte.
Das Osmanische Reich hat sich mit dieser Eroberung in die europäische Geschichte eingetragen. Wie viele solcher Eintragungen geschah auch diese gewaltsam, und im 16. wie im 17. Jahrhundert verbreiteten die Türken Angst und Schrecken, als sie vor Wien standen. Doch waren sie nun ein Faktor in Europa, mit dem man rechnete, den man in Bündnisse einbezog oder gegen den man Bündnisse schmiedete, mit dem man Gesandte austauschte und den man näher kennen zu lernen versuchte. In der Schlusszeit dieses Reichs war es besonders Deutschland, das strategische Allianzen mit den Osmanen schloss.
Die vier großen Reiche in Mittel- und Osteuropa zerfielen im Gefolge des Ersten Weltkrieges. Die Türkei folgte dem Osmanenreich nach. Sie war als säkularer Nationalstaat gedacht, und tatsächlich ist beides gelungen: sowohl die Konstruktion eines Nationalismus, den es heute mit allen unschönen Erscheinungsformen von Nationalismen gibt, als auch das säkulare Prinzip; nirgends in Europa ist Religion so sehr aus dem staatlichen Bereich verbannt. Bis heute ist die Türkei eine Republik, in der das Militär eine wichtige ordnungspolitische Rolle spielt und auch mit undemokratischen Mitteln für den Erhalt des Staatsaufbaus sorgt.
Seit einer Reihe von Jahren steht die Frage nach einer möglichen EU-Mitgliedschaft des Landes im Raum. Der Aufnahmeantrag der Türkei von 1959 wurde zunächst positiv gesehen; 1963 wurde ihr die Mitgliedschaft in Aussicht gestellt, 1999 der Kandidatenstatus zuerkannt. Die Anwerbung der „Gastarbeiter“ geschah auch im Hinblick darauf, dass das Land einmal zur EWG gehören würde. In der aktuellen Diskussion hingegen spielt vor allem die Frage nach der islamischen Prägung der Türkei eine Rolle. Das böse Wort von der EU als einem „Christenclub“ wurde geprägt, um eine Mitgliedschaft des Landes undenkbar zu machen.
Denkt man über die Möglichkeit eines Beitritts der Türkei nach, so ist zunächst festzustellen, dass die EU gewisse Kriterien stellt, die erfüllt sein müssen. Voraussetzung für einen jeden Beitritt sind stabile Demokratie, funktionsfähige Marktwirtschaft, Wettbewerbsfähigkeit und die Akzeptanz des Besitzstandes und der Ziele der Union (nach den Kopenhagener Kriterien von 1993). Ob alle diese Bedingungen bei den letzten Erweiterungsrunden streng beachtet wurden, darf bezweifelt werden. Festzuhalten ist jedoch, dass sie grundsätzlich eingehalten werden müssen, wenn ein Land Mitglied werden will. Das gilt auch für die Türkei, von der sie offensichtlich nicht erfüllt werden. Das kann sich aber ändern; die Erfahrung der letzten Jahre zeigt ja, dass die Regierungen in Ankara Anstrengungen unternehmen, die Situation zu verbessern, auch wenn diese noch nicht genügen – übrigens ein Zeichen dafür, dass sich eine EU-Kandidatur zumeist positiv auf die innere Verfassung eines Landes auswirkt.
Nehmen wir einmal an, die Türkei wäre in dieser Hinsicht so weit wie etwa Rumänien oder Bulgarien vor der letzten Erweiterungsrunde. Dann stellte sich die grundsätzliche Frage nach der Beitrittsfähigkeit des Landes. Sie sollte positiv beantwortet werden.
Argumentiert man „historisch“ (soweit sich solche Fragen überhaupt historisch lösen lassen), gehört die Türkei eindeutig zu den europäischen Staaten, wie eingangs kurz gezeigt. Geographie hilft hier nicht weiter, zumal die Türkei unbestritten zu einem Teil in Europa liegt. Wollte man geographisch argumentieren, dann wäre wohl die Mitgliedschaft Zyperns oder Maltas mindestens ebenso ein Problem.
Wollte man mit den Wurzeln Europas argumentieren, ist sicher die Trias von griechischer Philosophie, römischem Recht und Christentum zentral; der christliche Glaube, in Asien entstanden und gestaltet, hat den Kontinent entscheidend geprägt. Doch ist die europäische Geschichte ohne den Beitrag des Islam nicht denkbar, der uns von der Philosophie über die arabischen Zahlen bis zum Kaffee vieles von dem vermittelt hat, was unser Leben heute bestimmt. Eine weitgehende islamische Prägung gilt auch für zwei und demnächst wohl drei Staaten, die ohne Zweifel in Europa liegen (Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo). Vergessen darf man auch nicht, dass der jüdische Beitrag und aufklärerische, emanzipatorische Bestrebungen und Werte bei „Europa“ immer mitzudenken sind.
Die EU versteht sich heute als Wertegemeinschaft. Danach muss ein gewisses Wertesystem von jedem Staat und jeder Gesellschaft anerkannt werden, der die Vorzüge der Mitgliedschaft genießen will. Wenn ein Staat sich aber zu diesem System von Werten bekennt und das auch nach innen wirksam umsetzt, spricht nichts gegen eine Mitgliedschaft. Es ist ja ein vitales Interesse der EU, dieses Wertesystem möglichst weit zu verbreiten. Die in und von der EU vertretenen Werte sind sicher jüdisch-christlicher Herkunft (auch wenn sie historisch gegen den Widerstand der Kirchen erkämpft werden mussten), aber sie sind ja nicht exklusiv, also für nichtchristliche Gesellschaften „verboten“.
Wenn gegen einen EU-Beitritt der Türkei argumentiert wird, ist oft etwas anderes gemeint: Man ist nicht so sehr gegen die Türkei, man ist gegen den Islam. Im Vergleich zu anderen islamischen Ländern ist in der Türkei das Modell eines gemäßigten Islam anzutreffen; es gibt andere Religionsgemeinschaften, Frauen müssen nicht verschleiert sein, man kann Alkohol kaufen usw. Die EU wird mit ihrem Verhalten der Türkei gegenüber zeigen, wie sie mit einem solchen Phänomen umgeht. Andere Staaten der islamischen Welt werden genau beobachten, wie sich „der Westen“ zum gemäßigten Islam verhält. Eine Zurückweisung würde so gedeutet werden, dass die vermeintliche „Anbiederung“ an den Westen nichts geholfen habe. Die Folgen für die Türkei könnten fatal sein; die EU muss sich überlegen, welche Art von Nachbarn sie haben möchte.
Ein letzter Punkt: Oft wird argumentiert, dass in Sachen Religionsfreiheit (die in der Türkei keineswegs zufriedenstellend ist) das Prinzip der Gegenseitigkeit gelten müsse. „Die dürfen bei uns Moscheen bauen, wenn wir in Saudi-Arabien Kirchen bauen können“, heißt das Argument in seiner Stammtischversion, das es jedoch auch in der Akademiker- und Politikerausführung gibt. Wer das akzeptiert, sagt damit, dass Religionsfreiheit für ihn kein absoluter Wert ist, sondern immer vom Verhalten des Gegenübers abhängt. Wir würden somit Religionsfreiheit nur dann ausüben und gewähren, wenn andere es auch tun. Hier liegt die Gefahr, dass das auch auf andere Freiheiten und fundamentale Menschenrechte ausgeweitet wird. Das Argument darf also keineswegs gelten, es untergräbt die Grundlagen unserer Rechts- und Wertegemeinschaft.
Der Islam in Europa ist eine Realität, die keinesfalls neu ist und mit der die EU umzugehen lernen muss. Das ist eine Anpassungsleistung, die von beiden Seiten Anstrengungen und Entgegenkommen verlangt. Die christlichen Kirchen können dabei eine wichtige Rolle spielen; schließlich haben sie sich vor wenigen Jahren in der Charta Oecumenica verpflichtet, „die Religions- und Gewissensfreiheit von Menschen und Gemeinschaften anzuerkennen und dafür einzutreten, dass sie (...) privat und öffentlich ihre Religion (...) praktizieren dürfen.“