„Sag’, wie hältst Du’s mit der Religion?“
Unser Türkeibild ist großflächig bestimmt durch das, was uns die Medien von den großen Städten des Landes vermitteln: Ankara, Istanbul, Izmir – und von den Eindrücken der beliebten Urlaubsorte an der türkischen Mittelmeerküste. Aber die große Türkei sieht anders aus!
Wer nur ein paar Kilometer jenseits der großen Städte durch die Dörfer geht und die Augen aufmacht, sieht ein anderes Land: Die Männer sitzen in den Teehäusern, die Frauen arbeiten auf den Baumwollfeldern. Der Ruf des Muezzin ist die herrschende Tonlage. Der Islam bestimmt das Leben. Irgendwie hat man den Eindruck, aus der europäischen Zeit gefallen zu sein.
Auf’s Ganze gesehen gewinnt man den Eindruck, dass wirtschaftliche Kriterien für die Türkei entscheidend sind im Blick auf den Beitritt zur Europäischen Union. Das Interesse für die kulturellen und historischen Aspekte des „anderen“ Europa hält sich spürbar und zuweilen auch sichtbar in Grenzen.
Dabei ist auch nicht selten Arroganz im Spiel. Mir hat ein älterer Türke, der viele Jahre in Deutschland gearbeitet hat, in Konya, der Hauptstadt der Provinz Anatolien, gesagt, dass eigentlich Europa der Türkei beitreten müsste und nicht umgekehrt. In Konya haben übrigens vor einiger Zeit die weiblichen Studierenden an der dortigen Universität durchgesetzt, dass sie während der Lehrveranstaltungen das Kopftuch tragen dürfen – entgegen dem gültigen Gesetz. Damit ist ein zentrales Thema der Diskussion für oder gegen den Beitritt der Türkei zu EU angesprochen: die fortschreitende Islamisierung des formal säkularen Staates Kemal Atatürks.
Ich behaupte, dass diese Frage die entscheidende ist. Und füge hinzu: Religionsfreiheit ist in der Türkei nicht gewährleistet. Während bei uns die Moscheen – auch nach einigem Streit – schließlich doch gebaut werden dürfen, gibt es in der Türkei faktisch keine Möglichkeit, christliche Kirchen zu errichten, geschweige denn, ein normales Gemeindeleben unter den wenigen Christinnen und Christen zu führen. Angst durch Einschüchterung beherrscht das Feld. Und nicht selten kommt es zu verdeckten und offenen Übergriffen radikaler Muslime gegen christliche Einrichtungen. Ich kenne Christen in der Türkei, die sich davor fürchten, ihren Glauben auch nur halbwegs offen zu bekennen.
Nehmen wir nur einmal die „weltoffene“ Stadt Istanbul. Welches Gezerre hat es auf höchster politischer Ebene um den Besuch des Papstes im Herbst 2006 gegeben! Welche anhaltenden Schwierigkeiten machen die Behörden den orthodoxen Christen und dem Patriarchen in der Stadt! Welche verdeckte, aber wirksame islamistische Personalpolitik betreibt Ministerpräsident Erdoğan bei der Besetzung der Lehrstühle an der großen Istanbuler Universität! In Erinnerung bleibt mir auch, dass mich ein fanatischer Imam aus einer Moschee der Stadt verwiesen hat mit dem Satz – auf deutsch gesprochen – „Sie sind ein Ungläubiger und haben hier nichts zu suchen!“
Ich halte nichts oder nicht viel von den Argumenten westlicher Politiker für den Beitritt der Türkei zur Europäischen Union, auch von den militärstrategischen und wirtschaftlichen Argumenten nichts. Sie zeigen mir allenfalls, wie religionsvergessen und religionsunwissend westliche Politiker geworden sind.
Wenn die Türkei der EU beigetreten sein wird, dann wird mit einem Schlag ein Land, das sich in einer immer offener werdenden Phase der Re-Islamisierung befindet, zum bevölkerungsreichsten Staat der Europäischen Union. Die Türkei ist dann in der Lage, das andere Europa zu dominieren, notfalls zu blockieren, wenn die türkischen Interessen vom „Christenclub“ nicht gebührend berücksichtigt werden. Ich habe, offen gesagt, Angst vor einer solchen Entwicklung.
Noch einmal: Die entscheidende Frage in der Diskussion um den Beitritt der Türkei zu EU ist die religiöse Frage und sie wird es bleiben, wird mehr und mehr noch virulenter werden, als sie es jetzt schon ist.
Ich lasse mich von dieser Einschätzung auch nicht durch türkische Gesprächspartner abbringen, die eine liberalere Haltung in dieser Frage haben. Sie sind in der politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und religiösen Minderheit – manche von ihnen müssen Angst haben, wenn sie liberalere, differenzierende Argumente in der öffentlichen Diskussion vorbringen, das weiß ich aus konkreten eigenen Erfahrungen; dazu braucht man nicht die Auseinandersetzungen der Türkei mit ihrem Schriftsteller und Nobelpreisträger Orhan Pamuk ins Feld führen. Ich empfehle den vollmundigen und sich an Vordergründigem orientierenden Befürwortern des Beitritts der Türkei zur EU die genaue Lektüre seines Buchs „Schnee“.
Wer sich die lange Geschichte der Türkei genauer anschaut, kommt schwerlich zu dem Ergebnis, dass die Türkei ein europäisches Land ist. Christentum ist dort schon lange her – und wird auf „ewige Zeiten“ nicht mehr sein.
Ein letzter Gesichtspunkt: Wenn die Türkei zur EU gehören wird, dann trifft sie auf ein nachchristliches Europa, das auf Grund seiner fehlenden christlichen Identität – siehe den Streit um die Verankerung des Gottesbegriffes in der europäischen Verfassung – nicht in der Lage sein wird, die Auseinandersetzung mit dem Islam aufzunehmen, geschweige denn, sie zu bestehen. Dies halte ich für eine entscheidende Schwäche, die uns in mancherlei Hinsicht angreifbar macht.
Manche setzen mittelfristig bis langfristig auf eine Säkularisierung des Islam. Ich fürchte, sie irren sich! Vorderhand sind und bleiben Säkularisierungserscheinungen, die es vor allem bei Muslimen außerhalb der Türkei gibt, Randerscheinungen. Sollten sie jemals politisch und religiös wirksam werden, dann am Sankt-Nimmerleinstag.
Aber bis dahin will ich die Türkei aus den genannten und vielen anderen Gründen nicht in der EU haben. Lieber arbeite ich mit daran, dass wir wieder authentische und identische Christen in Europa werden.