„Islam“ als Gegensatz zu Bosnien

(Bericht)

Prof. Dr. Rusmir Mahmutćehajić ist Universitätsprofessor und Vorsitzender des „Internationalen Forums Bosnien“. Seine Veröffentlichungen umfassen Bücher zu Themen der Philosophie, Vergleichenden Religionswissenschaft und Politologie.

Die Frage nach den „bosnischen Muslimen“ oder den „Muslimen in Bosnien“ ist von der Frage nach ihrem Land nicht zu trennen. Diese Untrennbarkeit wird jedoch in vielen modernen Darstellungen in Frage gestellt.

Beinahe alle Diskussionen über den heutigen Zustand des Menschen und der Welt sind von dem Gegensatzpaar „der Islam und der Westen“ durchdrungen; man denke etwa an „Islam und Europa“, „Islam und Moderne“, „Islam und Demokratie“, „islamischer Terrorismus“, „islamischer Radikalismus“ oder „islamische Revolution“. Diese Sprachkonstruktionen stammen aus modernen ideologischen Weltansichten und bezeichnen Inhalte, die Teil einer ideologischen Sprache sind, sodass sie von der gesellschaftlichen Wirklichkeit, auf die sie hinweisen, häufig weit entfernt sind. Für das Begreifen von Phänomenen der modernen Welt sind sie – wenn überhaupt – nur wenig hilfreich.

I.

Im erwähnten Sprachgebrauch haben „Islam“ und die davon abgeleiteten Adjektive eine grundlegend andere Bedeutung als in den überlieferten Texten. Das Begreifen des Unterschieds zwischen der modernen Bedeutung und seinem Platz in den semantischen Feldern der traditionellen Texte ist jedoch die Voraussetzung für das Verständnis zahlreicher Erscheinungen in modernen Gesellschaften und ihrer Politik und Kultur. Das Wort Islam ist ein Verbalsubstantiv, das die Beziehung zwischen dem Menschen und Gott bezeichnet. Gott ist der Friede (as-selam) und spiegelt sich in der Gesamtheit der Schöpfung und allen ihren Einzelheiten wider. Durch die Versöhnung ist die Welt als Ganzes in Beziehung mit Gott als dem Frieden: „Mit ihm versöhnt sich alles im Himmel und auf der Erde“ (Koran, Sure 3, V. 83).

Der Mensch als Wesen mit freiem Willen und damit auch als Partner im Bund mit Gott hat die Möglichkeit, sich dieser Versöhnung frei anzuschließen und als Empfänger und Geber des Friedens (Muslim) zu leben. Gott ist dann für ihn Ursprung und Zuflucht. Nichts ist würdig, um Gott zugesellt zu werden. Dies ist auch im Schlüssel- und Ursprungsbekenntnis des Friedensstifters (Muslim) enthalten: „Ich bezeuge, dass es keinen Gott außer Gott gibt, und ich bezeuge, dass Sein Diener und Sein Gesandter gepriesen sei.“ Dieses Bekenntnis ist das Wesen aller Überlieferungen über den Menschen und die Welt als vom Schöpfer erschaffene und zu ihm geführte.

Im modernen Weltbild ist die traditionelle Auslegung des Islam im Sinne der Mensch-Gott-Beziehung in eine vergegenständlichte Gesamtheit, der die Eigenschaften Gottes zugesprochen werden, verändert worden. So bekommt der Islam in der ideologischen Verkürzung die göttlichen Eigenschaften des Befehlens, Verbietens, Einrichtens, Führens, Sprechens usw. Er wird zum politischen, sozialen und kulturellen Organ, von dem man glaubt, dass es klare Grenzen in Bezug auf „Modernität“, „Westen“, „Demokratie“, „Christentum“ hat. Damit ist das Wort „Islam“ zu einem Wort der modernen ideologischen Sprache geworden, in das die Bedeutungen je nach Bedarf hineingelesen wurden – Freund und Feind, fortschrittlich und zurückgeblieben, wir und die anderen usw.

II.

Da Bosnien eine Gesamtheit ist, die von Muslimen/Bosniaken, Katholiken/Kroaten, Orthodoxen/Serben und anderen wie Juden und Roma gebildet wird, entspricht kein Reden über die Situation der Muslime in diesem Lande den gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Umständen, wenn man diese in der Welt vorherrschenden Bilder nicht berücksichtigt. Fast alle journalistischen, geostrategischen und ökonomischen Bilder der gegenwärtigen Welt beinhalten eine ideologische Vorstellung über den Islam in seiner mehr oder weniger homogenen Gestalt.

In den überwiegenden Deutungen der bosnischen „Einheit in Verschiedenheiten“ wird der „Islam“ als eine besondere Erscheinung gesehen, die in einer sehr klaren Beziehung zu den anderen steht. Je mehr dies in die Vorstellungen ihrer Träger eingebrannt ist, desto stärker unterstützt es die Idee der Teilung der bosnischen Ganzheit in ihre ideologisch postulierten Teile – Katholizismus/Kroatentum, Orthodoxie/Serbentum, Islam/Bosniakentum. Zu einer solchen politischen und kulturellen Ansicht trägt die Existenz dreier gemischter ideologischer Inhalte in einzelnen und kollektiven Identitäten der jetzigen bosnischen „Einheit in Verschiedenheiten“ bei, nämlich Postkommunismus, Nationalismus und Fundamentalismus. Die Konkretisierung des Begriffs Islam wird in der politischen Rhetorik sogar zum Mittel, um Bosnien generell zu leugnen: je klarer die Anwesenheit des konkretisierten Islam, desto klarer in solchen Feststellungen die Leugnung Bosniens. Dies ist allen nationalistischen Rhetoriken des heutigen Bosniens bei der Darstellung der bosnischen Muslime gemeinsam.

In der kommunistischen Vision wurde Bosnien nicht aus seinem traditionellen Kontext herausgeführt. Man hat es einfach als Erbe und als innerlich unlösbare Frage – wenn man das überkommene Schema der nationalen Einheit anwendet – gesehen. Da jedoch die Kommunisten in der Überwindung aller Traditionen die Lösung für die nationale Frage sahen, schrieben sie alle Widersprüche und Traumata den traditionellen Erfahrungen zu und richteten ihre Bestrebungen auf die Realisierung der revolutionären Ziele durch die Arbeiterklasse. In dieser Sicht ist der Mensch auf eine geschlossene und messbare Größe reduzierbar, die sich in den ideologisch gezeichneten Verlauf der Geschichte einbinden lässt. Die heutigen Neokommunisten (die sich allerdings nicht als solche bezeichnen) erklären die Schwierigkeiten der bosnischen Gesellschaft durch deren Untreue zu den früheren Grundprinzipien, die die Gesellschaft angeblich sicherer und gerechter gemacht hätten.

Bosnien ist in den Visionen, die den serbischen und kroatischen Nationalismus formen, auch weiterhin ein „irreguläres Territorium“, eine „historische Anomalie“, „das Problem der ungelösten Identitäten“ usw. Bosnien ist in dieser Vision in zwei Zentrismen geteilt – den serbischen Zentrismus, für den Belgrad das hauptpolitische Symbol darstellt, und den kroatischen Zentrismus mit Zagreb als Symbol. Ein solches Verhältnis zu Bosnien ist zweimal konsequent artikuliert worden, und zwar in den Jahren 1939 und 1991 (Milošević-Tuđman). In beiden Fällen wurde Bosnien in einen „kroatischen“ und einen „serbischen“ Teil aufgeteilt; die Muslime wurden bei dieser Teilung einfach als ein unpolitischer Faktor gesehen, dem man im besten Falle eine Form kultureller, religiöser oder folkloristischer Autonomie zugestand. In diese Aufteilung sind alte nationalistische Inhalte einbezogen worden, es wurden aber auch ökumenische Gründe für das Abkommen und die Abgrenzung zwischen zwei christlichen Völkern vorgegeben. Das Problem dieser Völker wurde in einem solchen Bild auf die Anwesenheit der Muslime als inkompatibler Faktor in der Realisierung eines Friedensabkommens unter Christen unterschiedlicher Kirchen reduziert. Ein Teil der antibosnischen Strategie im Krieg 1991-1995 und danach bestand darin, diesen muslimischen Faktor in einem möglichst schlechten Licht darzustellen.

III.

Fundamentalismus ist eine moderne Ideologie. Es ist nicht möglich, sie auf ein traditionelles Erbe zurückzuführen, weil sie ein gemeinsames Merkmal der modernen Welt ist. Sie entstand ursprünglich in Europa und Amerika; Hintergrund ist die Verabsolutierung der instrumentalen Vernunft, die Säkularisierung und die Ideologisierung der Welt. Die Annahme der Wissenschaft als einzig verlässlicher Quelle des Wissens und gleichzeitig ihre Einschränkung auf die messbare Welt führte zu einer ebenso „vernünftigen“ Erwiderung, wonach Gott und die Schöpfung gänzlich im Rahmen der Vernunft liegen.

In der heutigen Darstellung von Islam, Katholizismus und Orthodoxie in ihren fundamentalistischen Auslegungen ist es möglich, diverse Formen der Symbiose mit Nationalismus und Kommunismus zu erkennen. Wegen der scheinbaren Vereinbarkeit des europäisch-christlichen Erbes mit dem modernen Bild der politischen Ordnung im säkularen Staat sind Antiislamismus und Antijudaismus beinahe regelmäßig Inhalte europäischer Nationalismen und Fundamentalismen. Hinzufügen muss man noch, dass der Antiislamismus auch im Kommunismus eingeschlossen ist, da Nationalismus, Fundamentalismus und Kommunismus trotz ihrer unterschiedlichen Formen ein und dasselbe Wesen haben. In diesen Ideologien sind die vielen Ebenen des Seins auf eine reduziert, das Jenseits ist ausgeschlossen.

IV.

Der Untergang der kommunistischen Ordnung spiegelte sich in Bosnien im Krieg wider, der von Belgrad und Zagreb aus koordiniert und geführt worden ist. Dieser ideologisch begründete Krieg führte zur Formierung von mindestens vier gesellschaftlichen und politischen Bewegungen in der bosnischen Gesellschaft. Zwei von vier dieser Bewegungen sind zentrifugal; innerhalb ihrer wurden die ethnoreligiösen Ideologien mit einem vorausgesetzten ethnischen Territorium verbunden. So erhoben die serbischen ethnoreligiösen Eliten Anspruch auf eine Definierung des „serbischen“ Teils Bosniens. Entsprechendes erfolgte auch durch die kroatische ethnoreligiöse Elite. Die Gründung solcher gedachter ethnoreligiöser Territorien hat man als einen Schritt zur Vereinigung mit dem Mutterland verstanden. In beiden Bewegungen hat man die Muslime als Störung empfunden.

Die dritte der vier ideologischen Bewegungen ist in ihrer Natur zentripetal. Bosnische Muslime, die ihre ethnoreligiöse Ideologie neuerdings „Bosniakentum“ nennen, richten die meisten ihrer politischen Bemühungen auf einen Kampf für die bosnische Ganzheit aus. Derartige Bemühungen sind oft ideologisch als Reaktion auf die aufgeführten zentrifugalen Wirkungen geformt, sodass sie emotional, politisch und kulturell den Zentrifugalismus der serbischen und kroatischen Nationalisten rechtfertigen. Damit tragen auch sie letztlich zu einer Schwächung der gemeinsamen Kräfte der bosnischen „Einheit in Verschiedenheiten“ bei.

Die vierte politische Bewegung ist eine Tendenz, sich die bosnische Gesellschaft als eine Ganzheit, in der eine harmonische Beziehung von religiösen und kulturellen Verschiedenheiten möglich ist, vorzustellen und zu bewahren. Diese Verschiedenheiten könnte man in einer harmonischen, politischen Ganzheit gemäß dem demokratischen Grundsatz „ein Mensch, eine Stimme“ organisieren, ohne dabei die individuellen und kollektiven Rechte auf Besonderheit in dieser Ganzheit zu gefährden. Dieses Programm haben die ersten beiden Bewegungen, aber oft auch die dritte, als irreal und idealistisch abgetan. Die Träger der ersten und der zweiten stellen die vierte Bewegung als eine Maskierung des bosnischen Nationalinteresses dar, während die dritte Bewegung diese Beziehung zur bosnischen Realität als ein Nachgeben gegenüber dem kroatischen und serbischen Nationalismus und als einen Restaurierungsversuch des kommunistischen Grundsatzes der „Brüderlichkeit und Einheit“ sieht.

V.

Der Zersplitterung der bosnischen Gesellschaft entsprach dann nach Ende des Bürgerkriegs die aufgezwungene Verfassungsordnung. Kriegserrungenschaften, an denen auch die Träger der drei politischen Ideologien ihren Anteil haben, sind in der Verfassung legitimiert. Die Republik Srpska ist das Resultat des Krieges gegen Bosnien, auf eine ähnliche Art auch die Föderation Bosnien und Herzegowina. Im politischen Rahmen dieser zwei administrativ-staatlichen Ordnungen werden Aktivitäten, die untrennbar mit dem Wesen des Krieges gegen Bosnien zusammenhängen, fortgeführt.

Kroaten, Serben und Bosniaken bezeichnen das jeweils eigene Leiden als das größte und mit den Leiden der anderen nicht vergleichbar. Sie alle suchen in den eigenen ethnoreligiösen Ideologien nach Stützen für die politische Artikulation dieses Gefühls und sein Einbringen in den öffentlichen politischen Diskurs. Auf dieser Basis sind die partikulären politischen Programme für jedes Gebiet, in dem eine Regierung der ethnoreligiösen Politik existiert, aufgebaut. Dabei werden die Beziehungen zu den Muslimen regelmäßig in Beziehung zum europäischen und amerikanischen Diskurs über den „islamischen Fundamentalismus“, „islamischen Terrorismus“, „islamischen Radikalismus“ usw. gesetzt. Mehr noch: Die Redner im Rahmen des serbischen und kroatischen Nationalismus bemühen sich, die bosnischen Muslime mit jenem Islam in Verbindung zu bringen, der das Problem der ganzen Welt ist. Ein serbischer nationalistischer Politiker aus Bosnien deutete vor einer Gruppe europäischer Diplomaten die gegenwärtigen europäischen Gegebenheiten so: „Wir haben in Bosnien kein Problem außer demjenigen, das ihr in jedem europäischen Staat habt. Ihr habt das Problem mit dem Islam, und wir haben das Problem mit dem Islam.“

VI.

Bis heute fehlt in Bosnien ein ernsthaftes intellektuelles Gespräch zwischen den Trägern der verschiedenen Menschenbilder und Weltanschauungen. Immer noch überwiegt die einseitige Mitteilung eigener ideologischer Bilder und die fehlende Bereitschaft, sich ihre Überprüfung durch die andere Seite anzuhören. Nicht selten kann man hören, die Lage im heutigen Bosnien sei dem Zustand von Gesellschaft und Politik, wie er 1990-1991 vor dem Krieg war, sehr ähnlich. Für diesen Zustand sucht man Belege in journalistischen Bildern über die Muslime in der Welt, in den Gründen und Zielen der Anti-Terror-Koalition und in vielen verdächtigen Erscheinungen in Gesellschaften, die man mit Muslimen in Verbindung bringen kann. Auf solche Deutungen gibt es keine klaren Erwiderungen, die die realen Erscheinungsbilder in der Gesellschaft von ihren ideologischen Darstellungen trennen würden.

Konsens besteht über den schlechten Zustand von Gesellschaft und Politik im heutigen Bosnien. Aber es ist gerechtfertigt, auch eine andere These aufzustellen: Es gibt in der zeitgenössischen Geschichte keinen Zustand in Bosnien, der weniger schlecht als der heutige wäre.

Der heutige Zustand der Gleichsetzung der ethnonationalen und religiösen Zugehörigkeit ist weder im Interesse der Bosniaken noch Bosniens. Eine Organisierung der Gläubigen ist ihr Bedürfnis und ihr Recht, aber sie darf weder mit einer ethnonationalen Ganzheit noch mit irgendeiner Form der politischen Organisation in einem demokratischen Staat gleichgesetzt werden.

Wenn die bosnischen Muslime die kulturellen Güter, die in der Vergangenheit von den Einrichtungen des osmanischen Sultanats verwaltet wurden, geerbt haben, so kann das nicht bedeuten, dass sie auch politisch dieses verschwundene Sultanat beerben. Für ihre gesellschaftliche Konsolidierung und die Harmonisierung ihrer Beziehungen zu den anderen in der bosnischen Gesellschaft sind die Gleichsetzungen dieses osmanischen Erbes mit ihrer Glaubensorganisation und ihrem Glaubensleben besonders gefährlich. Wenn sich die Muslime von einem solchen emotionalen Erbe distanzieren, würden sie damit akzeptieren, sich hinsichtlich religiöser Privilegien nicht von anderen religiösen Gemeinschaften zu unterscheiden. Anders gesagt: Wie alle anderen würden sie ihre Rechte auf dieselbe Art und Weise auf dem gesamten Staatsgebiet zur Geltung bringen, sodass diese gesetzlich geregelten Rechte grundsätzlich für alle gleich wirksam und gültig wären.

Das Verstehen und die Anwendung dieser Tatsache ist eine der wesentlichen Voraussetzungen für die politische Ordnung des bosnischen Staates. Zugleich werden damit zerstörerische Tendenzen in die Schranken gewiesen, deren bedrohliche Schatten immer noch über dem Land liegen. Allerdings ist dies nur eine wichtige Bedingung für eine gedeihliche Zukunft Bosniens – viele andere müssen ebenfalls noch erfüllt werden.

Deutsch von Berislav Župarić.