Muslime in Bulgarien

(Bericht)
aus OWEP 4/2007  •  von Ina Merdjanova

Dr. Ina Merdjanova leitet das Zentrum für Interreligiösen Dialog und Konfliktverhütung an der Universität Sofia. Ihre Forschungen gelten den Muslimen auf dem Balkan und den interreligiösen Beziehungen in Südosteuropa.

Statistischer Überblick

Bulgarien ist die Heimat von etwa 970.000 Muslimen, was einem Anteil von 12,2 Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht.1 Die muslimische Gemeinschaft ist in sich vielgestaltig, sowohl in ethnischer (sie umfasst Türken, Pomaken, Roma und Tataren) als auch in religiöser Hinsicht (die türkischen Muslime bestehen aus einer größeren Gruppe von Sunniten und einer kleineren Gruppe heterodoxer Aleviten, die aufgrund der Verehrung des Imam Ali von einigen Autoren auch den Schiiten zugerechnet werden)2. Die Aleviten werden in Bulgarien nach ihrer traditionellen Kopfbedeckung mit zwölf Streifen, die die zwölf Imame repräsentieren, Aliani oder Kazilbash („Rotschöpfe“) genannt. Die Mehrheit der Kazilbash wanderte aus Anatolien ein und siedelte sich im 15.-17.Jahrhundert im Nordosten des heutigen Bulgarien an. Sie hatten Kontakt zu verschiedenen Sufigemeinschaften3, die zur Zeit des Osmanischen Reiches auf dem Balkan aktiv waren. Die Kazilbash wurden von der Mehrheit der Sunniten als Häretiker angesehen und wiederholt verfolgt, weshalb sie sich oft als Sunniten ausgaben. Ihre Gemeinschaft zählt heute 86.000 Mitglieder (ca. 7,8 Prozent aller bulgarischen Muslime.

Zusätzlich zu den oben genannten religiösen Unterschieden zwischen den türkisch sprechenden Muslimen gibt es noch drei ethnische Gruppen innerhalb der muslimischen Gemeinschaft, nämlich Pomaken, Roma und Tataren.

Die Pomaken sind bulgarisch sprechende Muslime und werden auch „Muslime bulgarischer Abstammung“ genannt. Ihre Anzahl bewegt sich nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 200.000 und 270.000, was 2,5-3,4 Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht. Die Pomaken leben überwiegend auf dem Land, vor allem im Rhodopengebirge im Südosten Bulgariens. Nach dem Ende des Kommunismus wurde ihre Existenz vor völlig neue Herausforderungen gestellt, auf die sie mit drei verschiedenen Arten der Identifikation reagierten: Ein Teil betonte die Zugehörigkeit zum bulgarischen Volkstum und konvertierte zum Christentum, ein anderer Teil beanspruchte die ethnische Zugehörigkeit zum Türkentum4, eine dritte Gruppe schließlich versuchte, eine neue ethnische Identität auf der Basis des Islam zu errichten.5

Hinsichtlich der religiösen Zugehörigkeit der Roma sind die Zahlen ebenso unsicher wie die Gesamtzahl überhaupt.6 Einige Schätzungen gehen von 700.000-800.000 Personen aus, was 8,8-10 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen würde. Da die Roma vielfältigen Diskriminierungen ausgesetzt sind, verschleiern oder leugnen sie oft ihre Volkszugehörigkeit, wechseln aber wohl auch häufig die eigene religiöse Zuordnung. Nach neueren Statistiken kann man davon ausgehen, dass ca. 44 Prozent der Roma Christen verschiedener Konfessionen sind, ca. 39 Prozent Muslime und ca. 16 Prozent ohne Bekenntnis.

1992 umfasste die Gemeinschaft der Tataren 4.515 Mitglieder – um 1870 zählte sie noch ca. 100.000 Personen. Die Tataren lebten überwiegend im Nordosten Bulgariens in den von ethnischen Türken bewohnten Regionen und gingen im 20. Jahrhundert sprachlich und kulturell weitgehend in der türkischen Minderheit auf. Ein Teil wanderte auch in die Türkei ab.7

Entwicklung während des Kommunismus

Die Politik der kommunistischen Regierung gegenüber den muslimischen Minderheiten war sehr unbeständig und meistens geleitet vom Zuckerbrot-und-Peitsche-Prinzip.8 Da der Islam als ein ernstzunehmendes Hindernis für die Integration der Türken und anderer Muslime in die bulgarische Gesellschaft angesehen wurde, versuchte die bulgarische kommunistische Partei, künstlich eine „sozialistische türkische Minderheit“ zu schaffen. Zwischen 1944 und 1956 wurde die Existenz von Minderheiten in Bulgarien verfassungsrechtlich anerkannt. Während allerdings die religiöse Identifikation unterdrückt wurde, sorgte man staatlicherseits für die Entwicklung einer säkular geprägten türkischen Elite durch planmäßige Verbesserung der Ausbildung und Förderung des kulturellen Erbes. In der Praxis führte das nach der kommunistischen Machtübernahme zur Schließung aller Koranschulen und vieler Moscheen; im Gegenzug wurde die Zahl türkischsprachiger Schulen in den Gebieten mit türkischsprachiger Bevölkerung erhöht, türkischsprachige Zeitschriften herausgegeben und mehrere türkischsprachige Oberschulen eröffnet.

Diese Maßnahmen sorgten für eine rasche Verbreitung atheistischer und antiislamischer Propaganda unter den bulgarischen Türken. In den Massenmedien verstärkten sich gleichzeitig die Angriffe auf muslimische Glaubenspraxis und Riten wie Beschneidung, Fasten, Beerdigungsbräuche und das Tragen traditioneller Kleidung. In Folge dieser Einschränkungen unter dem kommunistischen Regime, aber auch unter dem Einfluss der laizistischen Entwicklungen in der Türkei9 verwandelte sich das Selbstverständnis der türkischen Minderheit in Bulgarien allmählich von „Religion“ in Richtung „Volkszugehörigkeit“.

Mitte der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts begannen große Teile der Pomaken, muslimischen Roma und Tataren, sich als Türken zu bezeichnen. Infolgedessen schafften die Regierungen die Minderheitenrechte ab und führten im Gegenzug verschiedene Maßnahmen zur Förderung der Assimilierung in die Mehrheitsbevölkerung durch. Die Verfassung von 1971 unterließ jeglichen Bezug auf nationale Minderheiten und mied sogar das Wort Minderheit mit dem Ziel einer weiteren kulturellen Homogenisierung des bulgarischen Staates. Die offizielle politische Lesart, die auch in den Medien propagiert wurde, lautete nun „bulgarische Bürger nichtbulgarischer Abstammung“. In den siebziger und achtziger Jahren wurden die traditionellen türkisch-arabischen Namen der Pomaken, muslimischen Roma und Türken unter Zwang in bulgarische Namen verändert. Türkischsprachige Publikationen wurden verboten, strenge Schritte gegen religiöse Praktiken und den öffentlichen Gebrauch der türkischen Sprache durchgeführt. Zynischerweise sprach man bei dieser Kampagne von einem „Wiederbelebungsprozess“, einer Rückkehr der von den osmanischen Herrschern islamisierten Bevölkerungsgruppen zu ihren „bulgarischen Wurzeln“. Viele Türken verließen das Land in Richtung Türkei; letztlich stärkte die Politik aber das Zusammengehörigkeitsgefühl der Minderheit. Besonders brutal war die erzwungene Assimilierungskampagne 1984-1985: Selbst die Namen der verstorbenen Muslime wurden durch bulgarische Namen ersetzt, Grabsteine mit türkischen und arabischen Inschriften zerstört.

Trotz aller Bemühungen der kommunistischen Regierung, die religiöse Verwurzelung der türkischen und muslimischen Bevölkerung durch anti-islamische Propaganda, Enteignung frommer Stiftungen (wakfs) und die Schließung von Moscheen zu lockern, folgten die Türken und anderen Muslime weiterhin den traditionellen auf dem Islam basierenden Riten. Selbst unter dem Kommunismus durchgeführte Umfragen in den siebziger und frühen achtziger Jahren belegen, dass die Religiosität unter der türkischen Bevölkerung doppelt so hoch wie unter der bulgarischen war. 1985 gaben nur 25 Prozent der ethnischen Bulgaren an, religiös zu sein, im Gegensatz zu 55 Prozent der Türken. In einer soziologischen Umfrage zu religiösen Anschauungen der erwachsenen Bevölkerung im Jahre 1992 bezeichneten sich 30,5 Prozent der Muslime als „tief religiös“, 41,7 Prozent beteten regelmäßig und 20 Prozent antworteten, sie gingen regelmäßig in die Moschee. Ländliche Muslime waren der Umfrage zufolge religiöser als Stadtbewohner, muslimische Frauen frommer als muslimische Männer, ältere Muslime religiöser als jüngere. Die Ergebnisse bestätigten außerdem eine größere Religiosität unter den Muslimen als unter den Christen und eine größere Toleranz der Muslime gegenüber Anhängern anderer Religionen als bei Christen.

Zur Situation seit dem politischen Umbruch

Im Zusammenhang mit den Veränderungen seit dem Ende des Kommunismus wurde die Präsenz der Muslime wieder deutlicher. So kam es schon im Winter 1989/90 zur Aufhebung aller Maßnahmen der Zwangsassimilierung; die Rechte der Muslime auf Namenswahl, Ausübung ihrer Religion und traditionellen Bräuche sowie Verwendung der Muttersprache wurden bestätigt und eröffneten neue Möglichkeiten zur religiösen und kulturellen Wiedergeburt ebenso wie zu politischem Engagement.

Drei muslimische Schulen und eine islamische Hochschule sind seither entstanden, außerdem wird das religiöse Leben durch über 1.000 Moscheen und Gebetshäuser geprägt. Im Jahre 2000 wurde Religionsunterricht als Wahlfach an öffentlichen Schulen eingeführt; laut Angaben des Ministeriums für Bildung und Wissenschaft besuchten 2002/2003 ca. 3.500 Schüler in 350 Schulen den Islamunterricht. All das führte jedoch keineswegs zu einer breiten Reislamisierung, vielmehr vermerkte man schon in den späten neunziger Jahren einen beträchtlichen Rückgang beim freitäglichen Moscheebesuch. Außerdem wurde die islamische Gemeinschaft in Bulgarien von schweren internen Auseinandersetzungen und Machtkämpfen heimgesucht, besonders im Hinblick auf das Amt des obersten Geistlichen, des Großmufti; daneben brachen generationsbedingte Konflikte aus, z. B. zwischen älteren Imamen als Protagonisten eines traditionellen Islam und jüngeren, die an ausländischen islamischen Universitäten studiert haben und oft beschuldigt werden, „ausländische“ Praktiken (etwa rigorose Glaubensformen nach dem Vorbild Saudi-Arabiens) einzuführen.

Seit der Wende werden wieder türkischsprachige Publikationen eingeführt bzw. im Lande gedruckt; auch gibt es in ethnisch gemischten Gebieten türkischsprachige Schulklassen. Ebenso etablierte sich eine politische Partei als Vertretung der Muslime (die „Bewegung für Rechte und Freiheiten“), die inzwischen zu einer einflussreichen politischen Kraft herangewachsen ist. Sie war seit 1990 in jedem Parlament vertreten. Die politischen Führer der „Bewegung für Rechte und Freiheiten“ haben sich bemüht, jegliche Identifikation mit islamistischen oder pan-türkischen Ideen zu vermeiden. In ihren Programmen und Stellungsnahmen benutzen sie eine rein säkulare und gemäßigte Sprache. Die Bewegung steht allen bulgarischen Bürgern offen, auch wenn sie vor allem von Türken und anderen Muslimen unterstützt wird. Vor kurzem hat sie sich für eine noch weitere Öffnung ausgesprochen – sie möchte sich zur Vertretung aller bulgarischen Bürger entwickeln, indem sie versucht, eine größere Zahl ethnischer Bulgaren für ihre Führungsgremien zu gewinnen. Ein gutes Beispiel für diese Bemühungen war im März 2003 die sofortige Amtsenthebung des Vizegouverneurs des Bezirks Pazardjik, Redjep Mollaahmed, einem Mitglied der Bewegung, nachdem dieser öffentlich erklärt hatte, im Rodopengebirge (einer vorwiegend von Muslimen bewohnten Region) gäbe es keinen Platz für Christen, das Türkische solle dort die offizielle Sprache werden.

Seit 1989 hat Bulgarien beträchtliche Fortschritte in den eng miteinander verwandten Gebieten der interethnischen und interreligiösen Beziehungen gemacht. So wurden die kommunistischen Assimilierungskampagnen gestoppt, muttersprachlicher Unterricht für Kinder der Minderheiten und auch Religionsunterricht eingeführt. Weiterhin hat Bulgarien eine Anzahl von wichtigen Gesetzen übernommen und umgesetzt, z. B. die „Rahmenkonvention zum Schutz von nationalen Minderheiten“ des Europarats, ein umfassendes Regierungsprogramm zur Integration der Romaminderheit und ein Antidiskriminierungsgesetz. Im Dezember 2002 verabschiedete die Regierung ein neues Religionsgesetz, das das alte von 1949 ersetzt hat. In Bulgarien sind sicher noch viele Schritte zur Umsetzung aller notwendigen Reformen in Politik und Gesetzgebung zu tun; die Lage der Muslime hat sich seit der Wende auf jeden Fall erheblich verbessert.

Aus dem Englischen übersetzt von Marie-Gabrielle von Elverfeldt.


Fußnoten:


  1. Einen umfassenden Überblick über die muslimische Gemeinschaft in Bulgarien und ihr Verhältnis zur übrigen Bevölkerung, die zu etwa 83 Prozent der Bulgarischen Orthodoxen Kirche angehört, bietet Ina Merdjanova: Uneasy tolerance. Interreligious Relations in Bulgaria after the Fall of Communism. In: Religion, State and Society 35 (2007), Nr. 2, S. 95-103. ↩︎

  2. So z. B. Ali Eminov (Turkish and Other Muslim Minorities in Bulgaria. London 1997). Andere Autoren halten die Aleviten für eine heterodoxe Gruppe innerhalb des sunnitischen Islam. Die bulgarischen Aleviten zerfallen zusätzlich in verschiedene Sekten, deren religiöse Praxis geringfügig variiert. Vgl. dazu auch die Hinweise im Beitrag von Timo Güzelmansur in vorliegendem Heft, bes. S. 269 (der gedruckten Ausgabe). ↩︎

  3. Der Sufismus ist die Sammelbezeichnung für die muslimische Mystik, die im Laufe der Jahrhunderte unterschiedliche Ausformungen erfahren hat (Anm. d. Redaktion). ↩︎

  4. Während der Volkszählung von 1992 bezeichneten sich ungefähr 35.000 Pomaken im Distrikt Blagoevgrad als ethnische Türken; Ursache dafür war die Tatsache, dass die Kategorie „Pomake“ in der Volkszählung nicht vorgesehen war. Dies führte jedoch zu landesweiten Protesten und der Annullierung der Volkszählungsergebnisse in diesem Bezirk hinsichtlich Volkszugehörigkeit, Muttersprache und religiösem Bekenntnis. ↩︎

  5. Einen interessanten Bericht zum Identitätswechsel unter den Pomaken bietet Maria Todorova: Identity (Trans)Formation Among Pomaks in Bulgaria. In: Lásló Kürt / Juliet Langman (Hrsg.): Beyond Borders. Remaking Cultural Identities in the New East and Central Europe. Boulder 1997, S. 63-82. ↩︎

  6. Die statistischen Daten beruhen auf den Volkszählungen von 1991 und 2001 (vgl. http://www.nsi.bg/Census_e/Census_e.htm; letzter Zugriff: 17.10.2013), mit kleinen Ergänzungen aus anderen Quellen. Dennoch bleibt eine Differenz zwischen der ethnischen Selbstzuordnung und der Zuordnung durch andere bestehen. So wird die türkische Minderheit zahlenmäßig niedriger eingeschätzt, als es die Ergebnisse der Volkszählungen andeuten, weil viele muslimische Roma und Pomaken sich den Türken zurechnen. In der Volkszählung von 2001 haben sich beispielsweise 370.908 Personen als Roma bezeichnet; die tatsächliche Zahl der Roma wird jedoch auf 700.000-800 000 veranschlagt. ↩︎

  7. Vgl. dazu Ali Eminov: Turks and Tatars in Bulgaria and the Balkans. In Nationalities Papers 28 (2000), Nr. 1, S. 129-164, hier 137. ↩︎

  8. Grundlegend für den folgenden Überblick sind die beiden bereits zitierten Arbeiten von Ali Eminov (wie Anm. 2 und 7). ↩︎

  9. Zur Entwicklung in der Türkei vgl. den Beitrag von Timo Güzelmansur in vorliegendem Heft, bes. S. 262-264 (der gedruckten Ausgabe). ↩︎