Islam in Russland

(Bericht)
aus OWEP 4/2007  •  von Gerd Stricker

Dr. Gerd Stricker ist Chefredakteur der Monatszeitschrift „G2W – Glaube in der 2. Welt“ in Zürich.

Von „einem“ Islam in der Russischen Föderation kann keine Rede sein. Im Gesamt der Bevölkerung Russlands (2007: 142,2 Millionen Einwohner) bildet der „muslimische“ Anteil eine Minderheit von etwa 18-22 Millionen (14 Prozent). Der Islam in Russland wird von vielen größeren und kleineren Völkerschaften getragen, die ihm ein je anderes Gepräge geben. Zu unterscheiden ist zwischen einem „Glaubens-Islam“ und einem „Kultur“- bzw. „politisch-nationalen“ Islam. Die Übergänge zwischen beiden Kategorien sind – auch in den folgenden Ausführungen – fließend. Davon abgesehen sind viele Menschen muslimischer Abkunft Atheisten (dabei oft ausgesprochen muslimische Nationalisten) oder aber zur Orthodoxie konvertiert (1-2 Millionen): Sie alle weisen Prägungen ihrer angestammten islamischen Kultur auf. Und wie soll man die angeblich 7 Millionen ethnischen Russen einordnen, die zum Islam konvertiert sind (wie z. B. 1999 der profilierte russisch-orthodoxe Erzpriester Wjatscheslaw Polosin)?

Zu Sowjetzeiten gab es einen „offiziellen“ Islam, der sich aufgeklärt gab und dessen Repräsentanten – vier Großmuftis – vom Moskauer „Rat für Angelegenheiten der Religionen beim Ministerrat der UdSSR“ bestimmt waren: Sie hatten Seite an Seite mit Vertretern der russischen Orthodoxie, des Judaismus und des Buddhismus als Aushängeschild für die „tolerante“ Religionspolitik der Sowjetunion zu dienen. Die höhere religiöse Ausbildung wurde seitens der Sowjetbehörden auf eine einzige Institution (in Taschkent/Usbekistan) beschränkt, der Sowjetideologie angepasst und streng kontrolliert (wie orthodoxe Ausbildungsstätten). Daneben gab es den „inoffiziellen“ Islam, wo es hinsichtlich religiöser Bildung noch viel schlechter aussah: Islamischer Fanatismus und Fundamentalismus (von Wanderpredigern vieler Couleur geschürt) bildeten (und bilden bis heute) die treibende Kraft. Heute sind dort Hasspredigten gegen Russen üblich: Sie hätten die Muslime unterjocht und ihnen seit Jahrhunderten ein Märtyrerschicksal aufgezwungen.

Allgemeingültige Aussagen und genaue statistische Angaben zum Islam in Russland sind also fast nicht möglich. Deshalb sind Statistiken oft sehr widersprüchlich. Der vagen Angabe „18-22 Millionen Muslime in Russland“ steht, da Moscheegemeinden keine „eingeschriebenen Mitglieder“ kennen, eine ähnlich vage Zahl von maximal 14 Millionen praktizierenden Muslimen gegenüber. „Mischehen“ zwischen Muslimen und Christen (Orthodoxen) sind häufig; sie machen zum Beispiel in Tatarstan amtlichen Angaben zufolge ein Drittel aller Eheschließungen aus. Die Muslime in Russland sind zum überwiegenden Teil Sunniten; der Anteil von Schiiten dürften bei 10-20 Prozent liegen, und zwar Gruppen traditionell schiitischer Aserbaidschaner und Tadschiken, die sich namentlich in Russlands Städten niedergelassen haben. Daneben finden sich in praktisch allen muslimischen Kulturen Russlands schiitische Gruppen.

Zwei traditionell islamische Gebiete

Im heutigen Russland gibt es zwei bedeutende traditionell islamische Gebiete – und daneben eine breitgestreute Diaspora im ganzen Lande, vor allem in den Großstädten. Das ältere traditionelle islamische Gebiet ist der Raum südliche Wolga/Südural, wo in den Autonomen Republiken Tatarstan (Hauptstadt: Kasan) und Baschkirien („Baschkortostan“, Hauptstadt: Ufa), aber auch in Udmurtien und Mordwinien (viele) und in Tschuwaschien sowie Mari El (weniger) Muslime leben – insgesamt ca. 10 Millionen (davon allein 6 Millionen Tataren). Man kann in diesem Raum von einer russisch-tatarischen oder auch einer orthodox-islamischen Symbiose, von einem in vielen Lebensbereichen geglückten Miteinander sprechen: Nachdem die Kiewer bzw. Moskauer „Rus“ 1240 bis 1480 unter der Botmäßigkeit der Tataren (Teil der „Goldenen Horde“) gestanden hatte, eroberte der Moskauer Zar Iwan IV. („der Schreckliche“) die Hauptfestungen der Tataren Kasan (1552) und Astrachan (1556) sowie die tatarischen Rückzugsgebiete bis nach Westsibirien. Die Baschkiren unterwarfen sich Iwan IV. freiwillig, erhoben sich später aber häufig gegen die Russen (zuletzt 1773/74). Ihre Zentren bilden die Städte Ufa und Orenburg im Südural. Kasan, die Hauptstadt Tatarstans, ist unbestrittener Mittelpunkt des Islam im heutigen Russland und gilt unter den Muslimen als dritte Hauptstadt nach Moskau und St. Petersburg.

Von einer christlich-muslimischen Symbiose wie an der Wolga kann unter den islamisch geprägten Völkern des Nordkaukasus keine Rede sein. Sie wurden erst um 1800 gegen erbitterten Widerstand dem Russischen Reich angegliedert, aber nicht vor der Mitte des 19. Jahrhunderts wirklich erobert – und schon gar nicht befriedet.1 Glühender Nationalismus und vehemente Ablehnung alles Russischen, Traditionalismus und Religiosität sind für viele Kaukasusvölker charakteristisch – viel stärker als für die Muslime im Wolgaraum. Die Völkervielfalt – Tschetschenen, Inguschen, Tscherkessen, Kabardiner, Awaren, Darginer (in Daghestan), Lesgier, Laken usw. – und die Vielfalt der nationalen Konflikte unter ihnen ist verwirrend.

Hinzu kommen einige Millionen Menschen muslimischer Prägung aus Zentralasien, namentlich Kasachen und Aserbaidschaner, die z. T. schon zu Sowjetzeiten, wohl mehr noch nach dem Zerfall der Sowjetunion als „Wirtschaftsflüchtlinge“ – in der Regel ohne Aufenthaltsbewilligung, also illegal – nach Russland eingedrungen sind und als Arbeitssklaven oder Arbeitslose wachsende soziale Probleme verursachen, was antiislamische Aversionen unter den Russen verschärft. Unter den russischen Großstädten, die als Auffangbecken dieser zentralasiatischen Migranten mit muslimischem Hintergrund dienen, stechen Moskau und St. Petersburg hervor, wo man allein 1,5-2 Millionen Menschen mit muslimischem Hintergrund vermutet. Als Ärmste der Armen, Arbeitssklaven und Rechtlose bilden sie ein hochexplosives Konfliktpotenzial.

Auffällig ist die seit 1991 stark wachsende Geburtenrate unter den historisch muslimischen Völkern. Mehr und mehr sehen die Russen darin eine Bedrohung: Die Geburten unter muslimischen Völkern sind im Schnitt um weit über 50 Prozent angestiegen (z. B. bei den Inguschen: um 90 Prozent), wohingegen der Anteil der Russen infolge Geburtenrückgangs und Alkoholmissbrauchs drastisch zurückgeht, sodass (trotz der muslimischen Geburtenüberschüsse!) die Gesamtbevölkerung der Russischen Föderation im Durchschnitt jährlich um 780.000 Personen sinkt. Mit Recht befürchten die Russen, dass der muslimische Bevölkerungsanteil mit der Zeit stark wachsen werde.

Russland ist also im Gegensatz zu den eigentlichen muslimischen Ländern ein Vielvölker- und multi-religiöser Staat, in dem die Muslime erstens unter der Gesamtbevölkerung (bisher) eine Minderheit von 10-15 Prozent bilden. Zweitens zerfallen sie, namentlich im Nordkaukasus, in zahlreiche, z. T. verfeindete Völkerschaften, die nur der Islam und die Gegnerschaft zu Russland verbinden. Drittens bilden die muslimischen Titularnationen in ihren Republiken meist eine Minderheit gegenüber Russen und anderen Völkern – Ausnahmen: Tatarstan (Tataren: 52 Prozent, Russen: 40 Prozent) und die Kaukasusrepubliken Tschetschenien (Tschetschenen: 94 Prozent, Russen: 4 Prozent), Inguschetien (Inguschen: 77 Prozent), Kabardino-Balkarien (Kabardiner, Balkaren, Tscherkessen, Adygier: 67 Prozent). Das alles hat zur Folge, dass sich die Muslime Russlands je nach statistischer Relation und Vermischungsgrad mit Russen und anderen Völkerschaften, mit denen sie auf ihrem Territorium zusammenleben, arrangieren, wie es etwa im Wolgaraum geschieht. Wo das aber nicht funktioniert, kommt es zum Konflikt – wie in Tschetschenien.

Muslime nach dem Zusammenbruch des Kommunismus

Vor 1917 zählte man im Russischen Reich ca. 50.000 Moscheen, davon 22.000 auf dem Boden des heutigen Russlands, und zahlreiche muslimische Institutionen. Nach siebzigjähriger sowjetischer Religionsverfolgung dienten in der ganzen Sowjetunion 1986 nur noch 392 Moscheen religiösen Zwecken. Aber Atheismusexperten hatten sich geirrt, als sie meinten, mit Gesetzen, mit der Schließung von Moscheen und Medressen (muslimischen Hochschulen), mit der angeblichen Gleichstellung der muslimischen Frau usw. den Islam im Kern treffen zu können. Und Ende der siebziger Jahre mussten Sowjetfunktionäre zugeben, dass der Islam noch tiefer verwurzelt war als erwartet. Nicht ohne Grund unterstrich der Vater der „Perestroika“, Michail Gorbatschow, noch am 22. November 1986 in Taschkent, dem Zentrum des Islam zu Sowjetzeiten, die Notwendigkeit eines „entschiedenen und kompromisslosen Kampfes gegen alle religiösen Erscheinungsformen“.

Zu Sowjetzeiten waren die muslimischen Völker theoretisch zwar den Russen und anderen Sowjetvölkern gleichgestellt; in der Praxis jedoch rangierten Russen – die Staatsnation und ideologisch als Führervolk definiert – an erster Stelle; die Muslime dagegen bildeten hinter den europäischen Sowjetvölkern faktisch Nationen dritter Klasse. Sie galten mit Blick auf Bildung und Kultur, auf sozialen bzw. wirtschaftlichen Status als rückständig; die Kaukasier waren zudem berüchtigt und gefürchtet: Tschetschenische Mafias deckten bereits zu Sowjetzeiten weite Bereiche der Wirtschaftskriminalität und des Verbrechens ab. Das Image der Kaukasier, z. T. auch der zentralasiatischen Völker, war negativ. Sie wurden im inoffiziellen russischen Sprachgebrauch als „Schwarze“ diffamiert. Schließlich wurden unter dem sowjetischen Atheisierungsdruck viele Muslime ihrer Religion entfremdet (allerdings nicht in dem Maße wie Christen und Juden!). Spricht man von „Muslimen“ in Russland, ist zu bedenken, dass viele von ihnen heute Atheisten sind. Die Völker islamischer Prägung haben unter dem Russifizierungsdruck der Sowjetzeit weitgehend ihre eigenen Sprachen verloren und bedienen sich heute überwiegend des Russischen (wohl etwas weniger im Kaukasus als an der Wolga) – die alten Volkssprachen müssen heute daher vielfach neu erlernt werden.

In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts war wie auch sonst in der Welt in der Sowjetunion ein Wiedererwachen des Islam zu beobachten – dieser Prozess erhielt durch den Zusammenbruch des Kommunismus ungeheure Schubkraft. Nach dem Ende von Staatsatheismus und systematischer Religionsverfolgung wurden die – theologisch meist ungebildeten – „Roten Muftis“, die die Anweisungen aus dem Kreml umgesetzt hatten, davongejagt. Die Erneuerung zeigte sich nach 1991 schon rein äußerlich im rasanten Wiederaufbau islamischer Institutionen. So geht man im Jahre 2007 auf russischem Boden wieder von 7.000 Moscheen aus, die meisten davon im Nordkaukasus: 5.000 – hier, in Machatschkala/Daghestan, befindet sich die (bis 2005) größte Moschee Russlands; seit 2005 gibt es im tatarischen Kasan eine noch größere. Zur Zeit lässt Ramsan Kadyrow, Präsident Tschetscheniens, eine Moschee errichten, die eine der größten in der Welt werden soll. In der Sowjetunion gab es vier geistliche Leitungen, heute gibt es deren vierzig allein in Russland. Daneben existieren verschiedene Leitungs- und Verwaltungszentren nebeneinander, deren Funktionen und Kompetenzen offenbar unklar sind. Ihre bekanntesten Führer, die Großmuftis Talgat Tadschutdin (Ufa) und Rawid Gainutdin (Moskau/Kasan), befehden sich bei jeder Gelegenheit.

Die Renaissance des Islam hatte, neben der Wiederbelebung der Religion selbst, das Hauptziel, den Muslimen Russlands ihre Identität, ihr Selbstbewusstsein wiederzugeben. 70 Jahre Sowjetherrschaft hatten, wie erwähnt, ihre Substanz schwer geschädigt. In den neunziger Jahren gab es Versuche, die ethnischen Muslime durch politische Parteien zu einer wichtigen Kraft in Russland, etwa im Parlament, der Duma, zu machen und die muslimischen Belange in staatlichen Institutionen zu vertreten. Weit ist man damit nicht gekommen. Die bedeutendste Partei, die „Partei der Islamischen Wiedergeburt“, hat sich 1994 faktisch aufgelöst. Aus ihr sind allerdings zwei Parteien hervorgegangen, die bis heute innerhalb der muslimischen Völker eine gewisse Bedeutung haben:

  • Die „Union der Muslime Russlands“, laizistisch ausgerichtet, verfolgt politisch-nationale Ziele und strebt beispielsweise eine muslimische Regierungsbeteiligung in Moskau an; verbreitet ist sie vor allem im Nordkaukasus und auch in Baschkirien.

  • Die zweite „Tochter“ ist „NUR“ (= Licht). „NUR“ verfolgt eher kulturelle und Bildungsziele, engagiert sich für Menschenrechte und Religionsfreiheit der Muslime, für den Islam als Religion und für islamische Traditionen; die Basis von „NUR“ liegt in Tatarstan.

Den Parteien blieben bisher größere Erfolge versagt, weil Eitelkeiten und Sonderinteressen der islamischen Repräsentanten sowie nationale Interessen der einzelnen Völker eine engere Zusammenarbeit erschweren. Derzeit hat kein einziger Vertreter einer muslimischen Partei einen Sitz in der Moskauer Duma.

Zeichen eines vielleicht übersteigerten muslimischen Selbstbewusstseins waren die Versuche, sich von Russland abzuspalten. In Tatarstan wurden solche illusorischen Bestrebungen (Insellage der Republik!) bald wieder zugunsten einer größeren Autonomie im Rahmen der Russischen Föderation aufgegeben. Dagegen waren Sezessionsabsichten von Kaukasusrepubliken wegen ihrer Lage an der Peripherie Russlands realistischer, aber wegen der russischen Interessenlage dennoch nicht aussichtsreich. Auch bestehen zwischen den Kaukasusvölkern erhebliche Mentalitätsunterschiede, etwa zwischen den Tschetschenen, die auf der Eigenstaatlichkeit Tschetscheniens beharren, und den benachbarten Bewohnern Inguschetschiens, das bei Russland bleiben möchte.

Gemäßigter und fundamentalistischer Islam

Die beiden Zentren des Islam in Russland stehen auch für die zwei gegensätzlichen Ausprägungen des Islam. An der Wolga, namentlich in Tatarstan, sowie in der sibirischen Diaspora orientiert man sich an der laizistischen Türkei und wünscht eine Annäherung an Europa und die USA, wohingegen die radikaleren, oft auch fundamentalistischen Muslime im Kaukasus – bei allen Unterschieden auch zwischen ihnen – auf Saudi-Arabien, Pakistan und den Iran blicken. Neben diesem Schema gibt es auch innerhalb dieser Richtungen manche Unterschiede oder sogar Konflikte: an der Wolga zwischen Tataren und Baschkiren, im Kaukasus zwischen Tschetschenen einerseits, Inguschen und Darginern (Daghestan) andererseits.

Die Angst vor islamistischen Terroristen in Russland ist gewiss nicht nur herbeigeredet. Die Tschetschenienkriege, die Geiseldramen im Moskauer Musical-Theater „Nord-Ost“ am 23. Oktober 2002, in einer Schule zu Beslan (Nordossetien) am 3. September 2004 und Bombenanschläge auf Wohnhäuser in russischen Städten, die muslimischen Fundamentalisten zugeschrieben werden, haben unter den Russen Angst vor den „Islamisten“ ausgelöst. Diese Angst wurde aber auch geschürt und instrumentalisiert durch Präsident Putins so genannte Antiterrorkampagne, mit deren Hilfe er sich im Tschetschenienkrieg 1999/2000 die Stimmen für seine Wahl zum Präsidenten sicherte („Wider die tschetschenischen Terroristen und Banditen“) – diese „Losung“ hat übrigens Patriarch Alexij II. auch in die orthodoxe Kirche getragen. Gegen „muslimische Fundamentalisten“ und „Islamisten“ wurde systematisch Panik gemacht, worunter friedfertige Gläubige und Atheisten an der Wolga ebenso wie im Kaukasus bis heute leiden.

In Tatarstan mit der „heimlichen Hauptstadt des Islam“, Kasan, ist, wie man sagt, die Staatsideologie von Präsident Mintimer Schamijew der „Jadidismus“ – ein erneuerter Islam, der von kaukasischen Fundamentalisten als „westlich infiziert“ und „liberal“ abqualifiziert wird. Auch Baschkirien sieht sich, etwas anders zwar, als Zentrum eines aufgeklärten Islam. An der Wolga will man neue gesellschaftliche Entwicklungen in den religiösen Bereich einbeziehen; im Säkularen wird jene Koexistenz zwischen Christen und Muslimen befürwortet, die seit Jahrhunderten im Wolgaraum besteht. Aber Unterschiede und Auseinandersetzungen sind auf diesem Feld auch in Zentralrussland zu beobachten: So hatte nach Beginn des Irakkrieges der sich immer radikaler gebärdende Großmufti Talgat Tadschuddin (Ufa) im April 2003 zum „Heiligen Krieg“ (Dschihad) gegen die USA und ihre Verbündeten aufgerufen, woraufhin Großmufti Rawit Gajnutdin (Moskau/Kasan) ihn als „falschen Propheten und Abtrünnigen“ beschimpfte.

Den integrativen Weg der Wolga-Muslime lehnen muslimische Führer im Kaukasus ab: Nationalismus und religiös fundamentale Positionen sowie Sympathien mit Saudi-Arabien, Pakistan und Iran verbinden sich (wenn auch unterschiedlich stark) mit antirussischen Tendenzen. In Daghestan und Tschetschenien haben die „Wahhabiten“ ihre stärksten Positionen: Diese fundamentalistisch-radikale Bewegung, die in Saudi-Arabien beheimatet ist, den Islam von allem Neuen reinigen möchte und u. a. die Wiederherstellung der echten Sunna, die Einführung von Scharia-Gerichten und die Islamisierung Russlands fordert, wurde Anfang der neunziger Jahre zwar offiziell verboten, agiert aber, von Saudi-Arabien und der Islam-Bank finanziert, im Untergrund weiter. Im Tschetschenienkrieg, in dem muslimische Führer die Islamisierung der Republik und die Abspaltung von Russland anstrebten und ausländische Söldner den Islamisten zu Hilfe kamen, hat die Zivilbevölkerung die allermeisten Opfer gebracht und will heute nur noch Frieden, selbst unter einer so schillernden Gestalt wie dem jetzigen Präsidenten Ramsan Kadyrow.

Der Islam in Russland ist vielgestaltig und noch immer in (meist politischer) Bewegung. Aber auch die gemäßigten Muslime im Wolgaraum, die an der bewährten Koexistenz von Russen und Muslimen festhalten, haben Probleme mit Putins Russland. Sie wehren sich gegen eine „Orthodoxisierung“, eine Verkirchlichung der Russischen Föderation, und kritisieren, dass die orthodoxe Kirche faktisch zur Staatskirche geworden ist; so stoßen sie sich an einem Satz in der Präambel des Religionsgesetzes von 1997, wo der „besondere Beitrag der Orthodoxie zum Werden der Staatlichkeit Russlands, zur geistigen Entwicklung und Kultur“ gewürdigt wird. Repräsentanten der zweitstärksten Religion im Lande wehren sich gegen eine solche Bevorzugung der russischen Kirche. Diese sehen sie auch in in den vielfältigen Bemühungen gegeben, in ganz Russland (auch in nichtrussischen Gebieten) orthodoxen Religionsunterricht als Pflichtfach einzuführen. Und eine wachsende Gefahr für ihre Entfaltung erblicken die Muslime darin, dass Präsident Putin ein System der Zentralisierung der Russischen Föderation aufbaut, das dem Bestreben der Muslime nach innerer Autonomie ihrer Republiken und Gebiete diametral zuwiderläuft.

Eine Stabilisierung des auf russischem Boden in sich zerrissenen Islam – in religiöser und politischer Hinsicht – wird vermutlich noch auf sich warten lassen.


Fußnote: