Verbindlichkeit und Aufgeschlossenheit
Anna ist dreiundzwanzig und kommt aus der Slowakei. Sie sitzt unter dem Glockenturm unweit der Kirche der Versöhnung in Taizé, das Tablett mit dem Abendessen auf den Knien. Dass es hauptsächlich Kartoffelbrei gibt, stört sie nicht. „Im Sommer 2002 war ich zum ersten Mal in Taizé. Ich kam ohne große Erwartungen. Ich war einfach neugierig, weil ich vorher an einem der Europäischen Jugendtreffen teilgenommen hatte. Die Überraschung war groß. Ich komme hierher, weil ich erzählen und zuhören will. Das gibt mir Mut, zu Hause weiterzumachen.“ In welche Richtung? „Wir müssen sehen, wie wir in der Slowakei das religiöse Brauchtum mit einem tiefen Bewusstsein des christlichen Glaubens verbinden. Darauf suchen wir mit einigen Jugendlichen Antworten. Offenheit ist das Wichtigste, was ich hier gelernt habe. Ich will es daheim in meiner Kirche am Ort umsetzen, in kleinen Schritten, und dabei habe ich keine Angst, denn auch ein Schritt, der daneben geht, war wenigstens ein Schritt.“
Die Sehnsucht, Neues zu wagen, ohne aufzugeben, was sich in der Vergangenheit bewährt hat, ist die schwer lösbare Aufgabe, vor der sich nicht nur Anna in ihrem Land gestellt sieht. In Taizé verstehen viele, wovon sie spricht; sie ist nicht allein. Gerade dort wird Woche für Woche greifbar, dass diese Frage eine ganze Generation verbindet, die nicht auf der Stelle treten will. Junge Franzosen, Deutsche, Schweden brauchen freilich immer noch eine Weile, bis sie sich in die Umbruchsituation ihrer Nachbarn weiter östlich einfühlen können. Viele führten vorher noch nie ein tieferes Gespräch mit Gleichaltrigen aus Mittel- und Osteuropa.
Heute fällt es längst nicht mehr auf, dass nicht nur über den Sommer Jugendliche aus allen europäischen Ländern um die seit dem Mauerfall mehrfach erweiterte Kirche der Versöhnung herum zusammenkommen. Ihre Kleidung, ihr Musikgeschmack, ihre Vertrautheit mit den neuesten technischen Errungenschaften unterscheiden sie nicht voneinander.
Man kann heute wohl in keinem europäischen Land von „der“ Jugend sprechen, und nach Taizé zieht es ohnehin von jeher ganz unterschiedliche Jugendliche aus einer Nation. Neben den Konfessionen stehen die gesellschaftlichen Schichten und so manches Gefälle in den Mentalitäten. Auch die Lage und Vorstellungen der Jugendlichen aus den mittel- und osteuropäischen Ländern, die nach Taizé kommen, lassen sich also nicht einfach in großen Linien beschreiben. Sie decken sich überdies zu einem guten Teil mit denen aus westeuropäischen Ländern – und aus den anderen Erdteilen. So kommt hier einfach eine Reihe im Lauf des Sommers 2007 angesprochener Jugendlicher zu Wort, mit ihren Erwartungen und mit ihren Erfahrungen an einem Ort wie Taizé, die zugleich etwas von ihrem Lebensgefühl, ihren Lebensbedingungen zu Hause verraten.
Einen Freiraum für die eigene Entwicklung finden
In Taizé ist von einem „Pilgerweg des Vertrauens auf der Erde“ die Rede, und es wird darauf Wert gelegt, dass dieser Weg zunächst in das eigene Innere führt, dorthin wo, wie Frère Roger einmal sagte, „kein Mensch dem anderen gleicht“. Szymon aus der Nähe von Stettin in Polen meint, dass er in seinem Land genug Hinweise für ein gutes Leben als Christ bekommt, „vielleicht nicht gerade Anweisungen, aber es wird doch vieles angesprochen und deutlich auf den Punkt gebracht.“ Nach Taizé ist er gekommen, weil er noch tiefer zu den inneren Quellen gehen möchte. „Das fällt mir bei den Gottesdiensten zu Hause, zu denen nach wie vor die Kirchen gefüllt sind, oft schwer. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass doch viele aus Gewohnheit dorthin gehen. Wir können aber nicht nur aus der Vergangenheit leben, in der wir uns behaupten mussten, wir müssen in die Zukunft gehen, alle zusammen, aber auch jeder Einzelne auf seine Art.“ Er sieht bei den Jugendtreffen in Taizé einen Freiraum, sich selbst weiter zu entwickeln. „Man kann sich als Christ vieles sagen lassen, aber man kann nicht nur sozusagen von außen bestimmt leben, es ist nötig, im Glauben auf eigene Beine zu kommen, um dann wieder etwas zum Ganzen beitragen zu können.“
Dem pflichtet Ania aus dem polnischen Thorn bei: „Nach Taizé kommen heißt für mich, den Ruf Gottes zu erwidern, mich auf eine intensive Suche nach Heimat und Geborgenheit zu begeben.“ Geht das nicht zu Hause viel besser? „Im Alltag ist es wirklich schwer, sich Zeit für Gott zu nehmen. Die Menschen bei uns sind sehr beschäftigt. Viele arbeiten unentwegt, nehmen zum Beispiel zwei Arbeitsstellen an, weil ein Gehalt nicht ausreicht, die Familie zu ernähren. Ein Wunder, dass sie noch Zeit finden, an der Sonntagsmesse teilzunehmen – erstaunlicherweise auch diejenigen, die selbst sonntags arbeiten müssen. Es gibt kaum Polen, die nur ab und zu in die Kirche gehen – entweder immer oder gar nicht. Meiner Meinung nach üben sie ihre Religion oft aus Pflichtbewusstsein aus. Vielleicht haben sie Gedanken über Gott im Kopf, sie lassen sie aber nicht heraus. Nach Taizé fahren heißt, diese Gedanken befreien, sie mit anderen teilen. Auch mit Menschen, die aus ganz anderen Verhältnissen kommen.“
Das Schlüsselwort für diesen Freiraum ist für viele die „Stille“, die in Taizé einen besonderen Platz einnimmt, das minutenlange Schweigen in jedem der drei täglichen gemeinsamen Gebete, aber auch die Momente, in denen der Redefluss in den kleinen Gesprächsgruppen mitunter versiegt. Eine Erfahrung, die Jugendliche auch im längst nicht mehr gemächlichen Mittel- und Osteuropa viel seltener machen. Jelena aus Belisce/Valpovo in Kroatien meint: „Das alltägliche Leben lässt uns schnell vergessen, wer wir eigentlich sind, was wir brauchen und fühlen. Auch nur einen kleinen Moment der Stille zu finden, scheint oft kompliziert. Aber in Taizé bleibt Zeit für das persönliche Gebet, das einem ermöglicht, Probleme aus einer anderen Perspektive zu betrachten, ihnen die Spitze zu nehmen.“
Und Ginta aus Lettland fügt hinzu, dass sie den Realismus schätzt, mit dem die Gespräche geführt werden. In Taizé, meint sie, ist das möglich, weil niemand den anderen Glaubenssicherheit vorspielen muss, um dazuzugehören. Auch die Brüder kämen in den Bibeleinführungen und in den kurzen Gebetstexten in der Kirche auf Zweifel zu sprechen. Bis in die gemeinsamen Gebete hinein würde sorgfältig vermieden, dass sich die einen vor den anderen zur Schau stellen. Der von Taizé ausgehende „Pilgerweg des Vertrauens auf der Erde“ sei ein gemeinsames Unterwegssein auf den Spuren Christi, keine groß angelegte Demonstration.
Gleichaltrigen aus vielen Völkern begegnen
Bei der weltweiten Gemeinschaft auf diesem Pilgerweg spielen die Jugendlichen aus den mittel- und osteuropäischen Ländern eine besondere Rolle. Sie wollen in ihrem eigenen Leben umsetzen, was den Ländern, in denen sie aufgewachsen sind, im wahrsten Sinn des Wortes in der Umbruchszeit Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre widerfahren ist: aufgeschlossen werden. Mit der Sehnsucht nach weiten Horizonten reisen sie dementsprechend viel, oft bis die Kreditkarte leer ist, und auch nach Taizé. Szymon hatte bereits vorher Erfahrungen gesammelt: „Bei uns in Polen gibt es Ordensleute, die sich bemühen, Jugendliche aus verschiedenen Völkern zusammenzuführen. Ich war vor kurzem bei einem Lager in den Bergen, zusammen mit Jugendlichen aus der Ukraine. Das sind wichtige Kontakte und das hat mich auch auf den Geschmack gebracht, für eine Zeit nach Taizé zu gehen und dort einzutauchen in die weltweite Gemeinschaft, die dort die Jugendlichen jede Woche provisorisch bilden. Das ist in dieser Intensität und Regelmäßigkeit meines Wissens sonst nirgendwo der Fall.“
Freilich gibt es auch Hürden, zeigt sich doch den kleinen Gruppen, dass die Gesprächskultur oder auch -unkultur quer durch Europa verschieden ausgeprägt ist. „Ich bemerke“, sagt Szymon, „dass die jungen Italiener und Spanier die Welt mit viel unbefangeneren Augen sehen als viele von uns. Wir tun uns oft, nicht immer, in den Gesprächsgruppen viel schwerer.“ Dem nach außen hin selbstbewussten Auftreten der einen stehe aber nicht unbedingt ein Mangel an Selbstwertgefühl der anderen gegenüber, betont er: „Aus Polen bringe ich nach Taizé meine eigene Erfahrung und Kultur mit. Auf der einen Seite kann ich mit anderen meinen Glauben teilen, weil ich dadurch, dass ich in Polen aufgewachsen bin, eine viel größere Chance hatte, gläubiger Christ zu werden und zu bleiben. In meinem Land gehört der Glaube zu unserer Tradition.“ Aber es gelte, über den Tellerrand zu schauen: „Auf der anderen Seite ist es für mich eine sehr wertvolle Erfahrung, Leuten zu begegnen, die in säkularisierteren Ländern wie Frankreich oder der Schweiz leben. Die müssen sich viel stärker fragen, warum sie an Gott glauben und in der Kirche sind. Ich habe einen Freund in der Schweiz, der Theologie studiert. Er kennt Leute, die später Jugendliche auf die Firmung vorbereiten sollen, und sagte mir, dass diese zukünftigen Lehrkräfte manchmal nicht einmal wüssten, wie viele Evangelien es in der Bibel gibt. Ich bewundere ihn sehr dafür, dass er in einem solchen Land bewusst als Christ lebt.“ Solche Erfahrungen könnten auch weiter östlich fruchtbar werden, gerade dort, wo die kirchlichen Traditionen verblassen, meint er: „Die Leute bei uns sollten allmählich den Glauben auch als etwas einfach Frohmachendes, das weit reichende Konsequenzen im Leben hat, als etwas Tiefes begreifen.“ Dabei gelte in Ost und West gleichermaßen: „Wenn Gott am rechten Platz steht, dem obersten natürlich, findet alles andere auch seinen Platz. Diese Überzeugung sollten wir nicht verbergen.“
Ewa, ebenfalls aus Thorn, erlebt im Zusammensein mit Jugendlichen aus Westeuropa Ähnliches, nämlich, dass sie „eher daran gewöhnt sind, in einer säkularen Umgebung zurechtzukommen. Auf Polen könnte eine solche Erfahrung auch zukommen. Umso mehr macht es mir Hoffnung, dass eine Gemeinschaft wie die von Taizé im laizistischen Frankreich so viele Menschen anzieht, die nach Gott suchen, die sichtbar macht, dass es überhaupt keine Grenzen für die menschliche Sehnsucht nach Gott gibt.“ Und gerade das könne die Christen ermutigen, ohne Ängste aufeinander zuzugehen: „Ich glaube fest daran, dass die Christenheit nicht nur eine unter vielen historischen Erscheinungen ist, sondern ihre Wurzeln in einer Offenbarung hat, und von diesem Standpunkt aus werden Unterschiede ein viel kleineres Hindernis.“
„Wenn wir über unsere persönlichen Erfahrungen und Gefühle sprechen, entdecke ich immer wieder, dass es für Gott keine Kulturen oder Länder gibt“, fügt sich für Ginta aus der lettischen Hauptstadt Riga alles zusammen: „Gott setzt in das Herz eines jeden Menschen dasselbe Verlangen nach ihm. Sicherlich hat jeder andere Geschichten in seiner Kindheit gehört, gibt es Unterschiede in Hautfarbe, Kleidungsstil, aber wenn wir mit der Sprache des Herzens kommunizieren, sind sie kein Hindernis mehr.“
Zuhause Hoffnung für die Zukunft wecken
Die Jugendlichen aus Mittel- und Osteuropa kehren aus Taizé häufiger in noch ungesicherte Verhältnisse zurück als die Jugendlichen aus den westlichen Ländern. Ania, die oben zu Wort kam, wählte vor fünf Jahren das damals aussichtsreiche Betriebswirtschaftslehre-Studium, und befürchtet nun kurz vor ihrem Abschluss, keinen Arbeitsplatz zu bekommen. Die Jugendlichen fragen aber nicht nur nach den wirtschaftlichen und materiellen Chancen, die ihnen ihr Land bietet, sondern wollen die Verhältnisse aktiv mitprägen und mitgestalten.
„Ich denke, dass jeder, der nach Taizé reist, sehr viele Fragen mitbringt“, nimmt Justinas aus Litauen an. „Aus Litauen reisen sehr viele junge Leute hierher, und ich glaube, sie tragen alle die tiefe Hoffnung in sich, dass sie mit ihrem Glauben die Gesellschaft verändern können. Ein solches Leben ist aber ein langer Weg, und in Taizé kann ich die Energie finden, auf diesem Weg geduldig und menschenfreundlich zu bleiben. Ich pilgere auch wie ein Botschafter meines Landes, von dem viele wenig Ahnung haben, nach Taizé.“
Jelena aus Belisce/Valpovo in Kroatien setzt ihre Erfahrungen zu Hause im Beruf um: „Ich arbeite an einer Grundschule als Englischlehrerin und stelle dabei immer wieder fest, wie wichtig es ist, Kindern zu zeigen, tolerant zu sein, ihnen über fremde Traditionen und Kulturen zu berichten. Schon ganz früh erwacht in ihnen ein Verständnis dafür, mit anderen zu sprechen, anderen zuzuhören. Taizé stärkt mein Vertrauen in diese Kinder darin, dass sie später mit ihrer Familie und in ihrer Arbeit einen guten Weg gehen werden.“ Die Notwendigkeit, sich untereinander besser zu verständigen, sieht sie sowohl auf der Ebene ihres Landes als auch auf der Europas: „Kroatien ist ein religiös sehr vielseitiges Land, das auch in seiner politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung sehr schnell voranschreitet. Wenn ich hier in Taizé auf andere junge Erwachsene treffe, stelle ich zweierlei fest: Einerseits gibt es noch eine Menge zu tun, um Ungerechtigkeiten in Politik, Gesellschaft etc. auszugleichen. Ich denke an die vielen arbeitslosen Menschen in meinem Land und an die vielen alten Menschen, um die sich keiner mehr kümmert. Andererseits scheint unter all den Unterschieden doch immer wieder das Gemeinsame, Verbindende mit den anderen Ländern durch, sodass ich Europa auf einem guten Weg sehe, zu einer Familie zusammenzuwachsen. Während der Vorbereitung auf den Beitritt in die Europäische Union ist mir sehr deutlich geworden, dass Kroatien nicht alle Probleme für sich allein lösen kann.“ Und selbstbewusst fügt sie hinzu: „Vorwärts kommen, die Gesellschaft verändern kann bei uns jeder, wenn er sich auf den Austausch mit uns Jugendlichen einlässt.“
Den Jugendlichen ist dabei bewusst, dass die Christen mit gutem Beispiel vorangehen müssen, wenn ihnen daran liegt, dass sich in den Gesellschaften etwas bewegt. Sie müssten sich besser untereinander verstehen, meint Ania: „Wir Polen wissen nur ganz wenig über den Protestantismus. In Taizé treffe ich selbstverständlich auf Jugendliche evangelischen Glaubens und auch auf Orthodoxe. Was ich dabei erfahre, möchte ich natürlich an meine Landsleute weitervermitteln. Wir brauchen eine Kraftquelle. Wie sollen wir uns sonst als Land den Herausforderungen stellen? Aber woher die Kraft nehmen, auch unter diesen Bedingungen dem Weg des Neuen Testaments zu folgen?“
Diese Fragen versteht László, ein junger Orthodoxer aus Rumänien, auf Anhieb: „Mein Land wandelt sich intensiv auf dem Weg zur Marktwirtschaft in einer globalen Welt. Insgesamt gehe ich davon aus, dass sich die Situation in meinem Land verbessern wird, unter anderem mit dem Beitritt in die Europäische Union. Aber ich habe leider den Eindruck, dass dabei vielfach die Ausrichtung auf den materiellen Reichtum Oberhand gewinnt. Ich hoffe nach wie vor sehnlich, dass Rumänien diese Phase überwindet und sich auf andere Prämissen stützt, zum Beispiel auf den Glauben.“ Da würde auf die Kirchen eine riesige Aufgabe warten. „Nur scheint meine orthodoxe Kirche weitgehend in einer eher unbeweglichen Phase zu stecken. Und so ist das Interesse der Jugendlichen an der Kirche und am Glauben allgemein zu schwach, was zu einem komplexen Werteverlust geführt hat. Ziemlich weit verbreitet im praktischen Leben ist dagegen der Aberglaube.“
„Ich denke“, führt er weiter aus, „die Kirche ist bei uns oft zu sehr mit den Behörden und anderen gesellschaftlichen Instanzen verknüpft. So scheint es einige Politiker zu geben, die nur wegen der Wählerstimmen in die Kirche gehen. Ich denke nicht, dass wir um eine strikte Trennung zwischen Staat und Kirche herumkommen.“ Das heißt nicht, dass sich die Kirche aus den Fragen der Gesellschaft zurückzieht: „Wo soll um Verständnis für die ethnischen Minderheiten wie Roma, Sinti und auch die Ungarn geworben werden, wenn nicht in den Kirchengemeinden? Außerdem muss glaubwürdig gegen die Korruption gekämpft werden, sollen nicht noch mehr Menschen aus Rumänien abwandern. Diese Wege können Politiker ebnen, in die man Vertrauen haben kann, zum Beispiel weil sie aufgrund des Glaubens aufrichtig sein wollen.“
Auch für Magda aus Polen steht und fällt alles mit dem Vertrauen: „Ich hoffe, dass sich die Situation in der Politik klärt. Viele Bürger wollen nicht zur Wahl gehen, da sie kein Vertrauen in eine echte Veränderung haben, sie wollen deshalb auch keine Verantwortung übernehmen. Meiner Meinung nach kann man aber nicht wissen, was die Zukunft bringt. Vielleicht sind wir oft ratlos, aber wir dürfen nicht davon ausgehen, dass sich nichts verbessern kann. Dass Polen nicht zur Europäischen Union gehört, kann ich mir gar nicht mehr vorstellen.“
Silvia aus Rumänien sieht noch eine andere Aufgabe für die junge Generation. „Ich habe in Taizé eine junge Polin getroffen, die mit ihrem ganzen Herzen versucht, die negative Haltung ihrer Mutter gegenüber Deutschen und Russen zu verändern.“ Und sie denkt noch einen Schritt weiter: „Ich glaube an ein Europa ohne Grenzen, zu dem auch Menschen aus Afrika und Asien offene Türen finden. Vor allem sollten die Menschen lernen, sich für die Muslime zu öffnen und mit ihnen ein Miteinander zu pflegen.“
Europa als gemeinsamer Weg, auf dem die Beziehungen zueinander wachsen – Jelena aus Kroatien muss da an die von Taizé aus für jeden Jahreswechsel vorbereiteten Europäischen Jugendtreffen denken. Sie sieht diese Treffen nicht nur als Chance für die, die sich von überall her auf den Weg machen, sondern vielmehr auch für die Menschen, die jemanden bei sich zu Hause beherbergen können. „Was für ein Gefühl, einen völlig Fremden bei sich aufzunehmen, ihm Bett und Verpflegung anbieten zu können. Ein Europäisches Jugendtreffen ist ein eindrückliches Zeichen gelebten Glaubens.“ Das Treffen, das 2007/2008 in Genf stattfand, war bereits das dreißigste.
Tiefe mit Weite verbinden
Am Ende dieser Zuhör-Runde kann man sich fragen: Könnte es nicht sein, dass gerade die Jugendlichen aus den mittel- und osteuropäischen Ländern mit der Frage nach Taizé kommen, ob es möglich ist, Verlässlichkeit mit Offenheit zu verbinden? In den früheren Notgemeinschaften der dortigen Christen, die sich unter ihnen ungut gesinnten Bedingungen behaupten und oft abschotten mussten, konnte man sich durchweg aufeinander verlassen. In der Umbruchphase erlangten die Kirchen dann meist eine Schlüsselrolle für den Neuanfang, symbolisierten den Aufbruch aus jahrzehntelangen gesellschaftlichen Zwängen, und es erwies sich schnell, dass auch Christen ganz unterschiedliche Wege offen stehen, aus ihrem Glauben heraus für andere da zu sein. Heute zeigt sich, dass die Offenheit pluralistischer Gesellschaften auch raffiniert missbraucht werden kann, und es fragt sich, welches die geeignete Weise ist, in der sich die Kirchen dieser Herausforderung stellen, ohne die errungene Offenheit zu diskreditieren.
Die Erfahrung der vorhergehenden Generation, dass lange propagierte Werte-Gerüste plötzlich nicht mehr gelten, dass ein öffentliches gesellschaftliches Klima umschlägt, wenn auch mancher Trott unter umgekehrten Vorzeichen einfach weitergeht, dass Solidarität oft nur Fassade war, sollte die Jugendlichen eigentlich dazu verleiten, sich auf das Vertraute, das Private zurückzuziehen. Würden sie dieser Versuchung nachgeben, wäre es, was Mittel- und Osteuropa anbelangt, ziemlich ruhig und still in Taizé. Das Gegenteil ist der Fall, wie man auch an der ausgeglichenen Beteiligung von Jugendlichen aus ganz Deutschland ablesen kann. Auf dem burgundischen Hügel herrscht somit eine ganz eigene Form von Öffentlichkeit, die alle gemeinsam prägen. Vielleicht verschaffen sich die Jugendlichen aus Mittel- und Osteuropa in ihr eher durch ihre leise, beharrliche Art Gehör und Anerkennung. Dazu ist eine Woche gerade lang genug. Und sie bringen immer noch am meisten von dem Rohstoff mit, der zur Vertiefung der Jugendtreffen in Taizé bitter nötig ist: Zuhören können.
So scheint es, als würden es gerade die Jugendlichen aus Osteuropa schätzen und brauchen, dass Taizé für sie ein Zwischenraum ist zwischen verfestigten Glaubensstrukturen einerseits, die aus der Zeit der Bewährung überliefert wurden, nun aber neu ihre Tragfähigkeit unter Beweis stellen müssen, und der Beliebigkeit und Selbstbedienungsmentalität andererseits, zu denen freie Gesellschaften in Ost wie West chronisch neigen. In Taizé machen sie die Erfahrung, dass sich Tiefe und Weite im Leben wie im Glauben nicht ausschließen müssen. Damit verbundene Spannungen sind auch dort nicht fremd. Aber die Brüder hüten sich, um einer vermeintlichen Sicherheit willen die Jugendlichen in bestimmte Richtungen zu lenken; sie hören eher zu, lassen auch manches Unfertige erst einmal stehen. Und doch verschweigen sie bei den Bibeleinführungen, durch die gemeinsamen Gebete und in den unzähligen Gesprächen keineswegs, für welchen Weg sie sich selbst entschieden haben.
So ist Taizé ein Ort, an dem Jugendliche einander an dem sehnlichen Wunsch erkennen, dass mehr und mehr Menschen die Liebe Gottes erfahren und sich davon getragen fühlen, und dass dies so weit ausstrahlt, dass es die Menschen in den Ländern und Erdteilen verbinden kann. Nicht ohne die Erfahrung und Erwartung, dass die Kirche eines jeden Landes dafür den Boden bereitet und zum Anziehungspunkt für alle wird, die das Beste für ihr Land und ihren Erdteil suchen.