OWEP 1/2008

OWEP 1/2008

Schwerpunkt:
Wallfahrtsorte und Pilgerwege

Editorial

Es ist schon erstaunlich: Noch vor wenigen Jahren verband der durchschnittliche Deutsche mit „Pilgern“ oder „Wallfahren“ etwas völlig Antiquiertes. Allenfalls Katholiken reiferen Jahrgangs reisten noch nach Lourdes oder Fatima, die Besucherzahlen der näher gelegenen Wallfahrtsstätten in Deutschland, etwa Altötting oder Kevelaer, schrumpften von Jahr zu Jahr, ein Zeichen für das Absterben der Volksfrömmigkeit. Dann kam es plötzlich zu einer Trendwende: Binnen kurzer Zeit ist die Wallfahrt auf einem der ältesten Pilgerwege Europas, dem Jakobsweg nach Santiago de Compostela, in aller Munde. Symptomatisch für die neue „Wallfahrtsbewegung“ ist das 2006 erschienene Buch von Hape Kerkeling „Ich bin dann mal weg. Meine Reise auf dem Jakobsweg“, worin der Autor, der eigentlich eher ein Meister der schrillen Töne ist, seine Eindrücke und Gedanken in ungewohnt behutsamer Form wiedergibt. Es ist einer von zahllosen Wallfahrtsberichten, die in den letzten Jahren den Buchmarkt überschwemmen. Viele Europäer begeben sich auf Wallfahrt, meist auf dem Jakobsweg, teils, weil es Mode geworden ist, teils aber auch aus echter religiöser Überzeugung.

Wallfahrten zu heiligen Orten, an denen der Mensch in besonderer Weise das Göttliche spürt, sind Ausdruck eines urmenschlichen Bedürfnisses und finden sich in allen Religionen der Welt. Wenn heute der „postmoderne“ Mensch aufbricht, folgt er uralten Wegen, auf denen schon viele Generationen vor ihm gegangen sind. In diesem Heft soll von jenen Erfahrungen die Rede sein. Die einzelnen Beiträge stellen christliche Wallfahrtsorte in verschiedenen Ländern vor, wobei der Schwerpunkt auf Mittel- und Osteuropa liegt. Ostkirchliche Pilgerziele und ein Wallfahrtsort muslimischer Roma in Serbien stehen für die unterschiedliche Ausformung der Wallfahrt im Osten und Südosten Europas. Dies gilt auch – mit etwas anderer Zielsetzung – für das französische Taizé.

Wallfahren bedeutet immer auch ein Ausbrechen aus dem Alltag mit dem Ziel, sich wieder einmal dem Wesentlichen anzunähern. Das ist für den gläubigen Menschen Gott. Vielleicht können die Texte des Heftes dazu einige Anstöße vermitteln.

Die Redaktion

Kurzinfo

Pilgern liegt im Trend der Zeit – auf diesen kurzen Nenner kann man sicher das erstaunliche Phänomen bringen, dass sich Jahr für Jahr viele Menschen in ganz Europa zu unterschiedlichsten „heiligen Orten“ auf den Weg machen. All das hat viel mit dem Unbehagen des modernen Menschen an der modernen Gesellschaft zu tun, das eine Sehnsucht nach dem Anderen, dem Wesentlichen bewirkt. Ausbruch aus den gewohnten Bahnen auf der Suche nach – ja, wonach eigentlich? Geht es im klassischen Sinne um den Weg zu Gott, der sich an einem bestimmten Ort in einer ganz bestimmten Art und Weise geoffenbart hat? Oder geht es um eine Art von Selbstfindung und Selbsterkenntnis? Heutzutage werden sich diese Elemente nicht immer scharf voneinander trennen lassen, vielleicht war es aber auch schon immer so. Jeder sollte einmal darüber mit sich zu Rate gehen.

Das vorliegende Heft will zeigen, welche Formen von Pilgern und Wallfahren es gibt und was die Menschen bewegt, sich auf den Weg zu machen. Einführend bietet Dr. Alfons Brüning daher einen Überblick über „Menschen auf dem Weg“ von der Antike bis in die Gegenwart. Monsignore Dr. Gerhard Specht, einer der Initiatoren der „Europawallfahrt“, schildert anschließend die Entwicklung des ökumenischen Pilgergedankens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Drei weitere Beiträge sind dem Phänomen „Pilgern“ und „Wallfahrtsorte“ in einzelnen Ländern gewidmet. Dr. Julia Sebastian geht unter dem Titel „Erwanderte Identität: Wallfahrten als Wege der Nation“ der Bedeutung von Wallfahrtsorten für einzelne Nationen wie z. B. Iren, Tschechen und Kroaten nach. Die Journalistin Aleksandra Klich beschreibt die vielgestaltige Form der Wallfahrt in Polen, Prof. Dr. Rudolf Grulich schließlich widmet sich der historischen und aktuellen Situation der Wallfahrtsorte in Tschechien, die auch für das deutsch-tschechische Verhältnis eine wichtige Rolle spielen.

Weniger bekannt sind hierzulande die Pilgerziele im Südosten Europas. Ein eigenartiges Phänomen, nämlich ein muslimisches Heiligtum in der serbischen Stadt Niš, zu dem vorwiegend Roma pilgern, steht im Mittelpunkt des Beitrags von Prof. Dr. Dragoljub B. Djordjević und Dragan Todorović. Priv.-Doz. Dr. Andreas Müller beschreibt die besondere Rolle des Klosters Hilandar auf dem Berg Athos, besonders für die Christen Serbiens. Den Übergang nach Westeuropa bildet zum Abschluss ein Beitrag über die Erfahrungen Jugendlicher aus Mittel- und Osteuropa bei den Jugendtreffen im französischen Taizé. Außerhalb des Schwerpunktthemas steht der Beitrag von Dr. Dunja Melčić über die Situation der Serben in Kroatien.

Dr. Christof Dahm

Inhaltsverzeichnis

3
Von „Heiligen Orten“ und „Heimatlosigkeit auf Zeit“
Alfons Brüning
13
Europäische Wallfahrt
Gerhard Specht
22
Erwanderte Identität: Wallfahrten als Wege zur Nation
Julia Sebastian
30
Pilgern in Polen
Aleksandra Klich
40
Wallfahrten in der Tschechischen Republik
Rudolf Grulich
48
Zajde Badža
Dragoljub B. Djordjević und Dragan Todorović
56
Pilgern in der ostkirchlichen Orthodoxie unter besonderer Berücksichtigung des Pilgerzieles Hilandar/Athos
Andreas Müller
64
Verbindlichkeit und Aufgeschlossenheit. Erfahrungen Jugendlicher aus Mittel- und Osteuropa bei den Jugendtreffen in Taizé
Jugendliche und Brüder aus Taizé
73
Serben in Kroatien (Hintergrundbericht)
Dunja Melčić

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