Identität – Konstruktion und soziale Tatsache

aus OWEP 2/2008  •  von Inga Beinke

Inga Beinke M. A., Halle (Saale), ist z. Zt. beim Internationalen Graduiertenkolleg „Formenwandel der Bürgergesellschaft. Japan und Deutschland im Vergleich“ tätig. Ihre Arbeitsschwerpunkte: Evangelikale Christen in Deutschland, europäische Migrationspolitik, empirische Leseforschung.

Seit Anfang Februar 2008 gelten in den Niederlanden und in der Türkei neue Regelungen für das Tragen von Kleidungsstücken. So findet sich in einer überregionalen Tageszeitung vom 11.02.2008 die Meldung, fortan bestehe ein Verbot von Burkas an niederländischen Schulen für Beamte und Schülerinnen; außerdem sei in der Türkei nach einer Verfassungsänderung das Kopftuchverbot für Studentinnen an staatlichen Universitäten aufgehoben.1 Dass diese neuen Regelungen etwas berühren, was außerhalb ihres Gegenstandes liegt – das (Nicht-)Tragen eines Kleidungsstücks –, wird deutlich, wenn man sich die Argumente und Gegenargumente vergegenwärtigt, die bei diesen Neuerungen ins Feld geführt werden. So begründet Ministerpräsident Balkenende die Einführung des Burka-Verbots an niederländischen Schulen damit, dass der „islamische Schleier“ ein „unheimliches Gefühl“ bei der Bevölkerung auslöse. Nesrin Baytok, Oppositionsabgeordnete im türkischen Parlament, wirft der Regierung vor, mit der Aufhebung des Kopftuchverbots die Türkei in „ein zweites Afghanistan“ verwandeln zu wollen.

Offensichtlich wollen Balkenende und Baytok mit ihren Äußerungen etwas, was sie nicht näher benennen, von dem „Unheimlichen“, dem „Anderen“ abgrenzen. Dieses „Etwas“ steht im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen, die in einem Dreischritt vorgehen. Am Anfang steht ein einführender Überblick über den Identitätsbegriff. Zweitens geht es um die Bedeutung von Identität für moderne Gesellschaften, drittens vermittelt der Text einen kurzen Einblick in gegenwärtige Identitätsproblematiken in Europa.

Der Identitätsbegriff

Je nach Zusammenhang und Benutzer erzeugt das Begriffsfeld „Identität“ unterschiedliche Assoziationen und Abwehrreaktionen.2 Neben der mathematischen Verwendung, also „A = A“, dem Verständnis von Identität als der vollkommenen Gleichheit, finden sich in Belletristik und Feuilletons der Zeitungen sowie Beiträgen unterschiedlicher Forschungstraditionen (Psychologie, Anthropologie, Politikwissenschaft, Soziologie, Geschichtswissenschaft, Literaturwissenschaft usw.) spezifische Vorstellungen von Identität. Die Wurzeln des Identitätsbegriffs liegen zum einen in der Soziologie der Chicago-Schule, zum anderen in Freuds Psychoanalyse.3 Die Ursprünge der Identitätsdiskussion liegen somit weit zurück, was bisher zu einer Vielzahl von Definitionsversuchen geführt hat. Gemeinsam ist der Mehrheit der Definitionen, dass sie Inklusion und Exklusion als die beiden grundlegenden Triebkräfte bei der Herstellung von Identität verstehen. In der Forschung werden verschiedene Formen von Identität entworfen, die sich zunächst auf die Unterscheidung zwischen individueller und kollektiver Identität beziehen. Da kollektive Identität immer vom jeweiligen Individuum ausgeht, werden im Folgenden Anmerkungen über „individuelle Identität“ vorangestellt.

Individuelle Identität

Identität bezieht sich zunächst auf Personen. Die sozialpsychologische Forschungsliteratur unterscheidet auf der Ebene des Individuums zwischen personaler und sozialer Identität, zwei Dimensionen, die das Selbstkonzept, mithin die von einem Menschen entwickelte Sicht auf sich selbst, ausmachen. Die „idiosynkratischen Aspekte einer Person“4 bilden die personale Identität. Demgegenüber ergibt sich die soziale Identität aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe und dem (emotionalen) Wert, der dieser beigemessen wird.

Für die soziale Identität gibt es einen doppelten Definitionsspielraum:

  • Jeder Mensch wählt während seines Lebens verschiedene Mitgliedschaften in Kollektiven aus (Vereine, Clubs, informelle Gruppen usw.), in denen soziale Rollen übernommen oder gemieden werden. Die Wahl der Zugehörigkeit ist jedoch keinesfalls beliebig, denn die Möglichkeiten einer Beteiligung sind in den meisten Fällen begrenzt. Dennoch gibt es einen gewissen Spielraum.

  • Ein weiterer Spielraum besteht in der Intensität, mit der die Zugehörigkeit zu einem Kollektiv in das Selbstkonzept eingebunden wird. Die religiöse Bindung beispielsweise bedeutet für jede(n) Angehörige(n) des Katholizismus, des Protestantismus, des Islam usw. etwas spezifisch anderes, die Mitgliedschaft in einem Kegelverein hat für jede(n) eine andere Bedeutung.

Zusammengefasst: Jedes Individuum besitzt verschiedene vermischte Identitäten, quasi einen „Marmorkuchen“, der sich aus unterschiedlich starken Bezügen zu verschiedenen Gruppen zusammensetzt. Diese soziale Identität bildet zusammen mit der personalen Identität das Selbstkonzept einer Person.

Kollektive Identität – Was sie ausmacht und wie sie entsteht

Der Begriff der Identität wird nicht nur auf Personen, sondern auch auf Gruppen angewendet. Kollektive Identität besteht aus Eigenschaften, die einem Kollektiv zugerechnet werden. Mit anderen Worten: Die tatsächlichen Gruppeneigenschaften machen die kollektive Identität nicht aus, vielmehr sind es die geglaubten Eigenschaften. Die Vorstellungen darüber, wie verbreitet der Konsens sein muss, d. h. wie viele Menschen spezifische Annahmen über eine Gruppe teilen müssen, damit von einer kollektiven Identität gesprochen werden kann, ist zweitrangig, wenn auch nicht unwichtig. Der Kristallisationspunkt von kollektiver Identität liegt jedoch woanders, und zwar dort, wo kollektive Identität in das Selbstkonzept der einzelnen Person eingebaut und so im Denken und Handeln wirksam wird. Das bedeutet anders gewendet: Erst wenn eine kollektive Identität für das Individuum als relevant erachtet wird, ist die/der Einzelne bereit, sich für eine Gruppenidentität zu engagieren und richtet ihr/sein Handeln und Denken danach aus. Um es an einem Beispiel zu illustrieren: Erst wenn sich jemand als Europäerin oder Europäer fühlt, ist sie/er bereit, sich für Europa einzusetzen.

Doch wie kommt es zu der Herausbildung einer kollektiven Identität?

Die Herausbildung einer Gruppenidentität hängt von drei sozialen Voraussetzungen ab: einer institutionellen Ordnung, einer Gemeinschaft und der Kommunikation.5 Identität entsteht zunächst nicht losgelöst von Raum und Zeit. Zur Herausbildung einer Identität bedarf es einer institutionellen Ordnung. Ein solcher „Rahmen“ entsteht durch die Identifikation mit einem Staat, einem Staatenverbund, einem Territorium oder auch einer gesellschaftlichen Bewegung.

Dies führt zu der zweiten wichtigen Voraussetzung: Kollektive Identität ist an eine historische Gemeinschaft gebunden. Diese kann sich durch Nationalität auszeichnen oder über politische Wertorientierungen und Traditionen definiert werden.

Die dritte soziale Voraussetzung lautet: Wenngleich kollektive Identität nicht, wie bereits erwähnt, auf tatsächlichen Eigenschaften einer Gruppe, einer Nation oder einer Gemeinschaft beruht, bilden objektive Gemeinsamkeiten (Abstammung, Sprache, Kultur usw.) doch das „Rohmaterial“. Welche Teile des Materials bei der Identitätsbildung eine Rolle spielen, hängt von den kommunikativen Prozessen ab, denn kollektive Identität entsteht und lebt davon, dass über die Gruppenmitgliedschaft nachgedacht wird, Konflikte gelöst werden und Konsens hergestellt wird – dies geschieht durch Kommunikation. Kommunikation ist damit gleichzeitig der Hauptgrund dafür, dass es keine feststehende Identität geben kann. Vielmehr wird und muss immer wieder neu ausgehandelt werden, was die Identität ausmacht.

Wozu bedarf es einer Identität?

Die Funktion von Identität besteht zunächst im Unterscheiden. Die Unterscheidung von In- und Outgroup, von „Wir“ und „Sie“, dient nach soziologischer Lesart der Kontinuität eines Kollektivs und bedingt ihren „inneren“ Frieden. Doch obwohl der Anlass zur Identitätsbildung der Konflikt ist, in dem das „Wir“ dem „Anderen“ begegnet und aus dieser Grenze Identität gebildet wird, bedeutet es nicht, dass Identitätsbildung vor allem und auf jeden Fall über eine negative Abgrenzung verläuft. Das Verhältnis zwischen der In- und der Outgroup muss jedoch nicht zwangsläufig negativ sein. Letztlich sind ausschlaggebende Aspekte von Identität das Anerkennen und das Anerkanntwerden.

Fassen wir kurz die hier eingeführten Begriffe zusammen: Die Begegnung des „Anderen“ ist ausschlaggebendes Moment für die Herausbildung einer Identität. Das Selbstkonzept bezeichnet die Sicht eines Menschen auf sich selbst. Diese besteht aus zwei Teilen, der personalen und der sozialen Identität. Letztere entsteht aus der Zugehörigkeit zu Kollektiven. Die kollektive Identität besteht aus Eigenschaften, die einem Kollektiv zugerechnet werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob es faktische Eigenschaften sind oder „nur“ vorgestellte. Kollektive Identität ist von sozialen Voraussetzungen (institutionelle Ordnung, Gemeinschaft, Kommunikation) abhängig und konstituiert sich über gemeinsame Erfahrungen.

Moderne Gesellschaften und Identität

Moderne Gesellschaften sind ohne eine kollektive Identität nicht existenzfähig. Denn ein politisches Gemeinwesen wird von seinen Bürgerinnen und Bürgern nur dann akzeptiert und auch legitimiert, wenn sie sich mit ihm identifizieren können. Faktische Akzeptanz ist somit ein wesentlicher Faktor für die Stabilität von politischen Ordnungen. In der Forschung wird diese Akzeptanz gemeinhin unterschieden in spezifische und diffuse Unterstützung.6

Eine spezifische Unterstützung beruht darauf, dass ein politisches System Ergebnisse produziert, in denen Bürgerinnen und Bürger ihre eigenen Interessen widergespiegelt sehen. Wenn etwa die Schaffung von Arbeitsplätzen von großem öffentlichen Interesse ist, dann findet ein System, das diesem Interesse entspricht, große spezifische Unterstützung.

Im Gegensatz dazu findet diffuse Unterstützung unabhängig von den momentanen Leistungen eines Systems statt bzw. nicht statt. Mit anderen Worten: Eine diffuse Unterstützung kann erhalten bleiben, selbst wenn die gegenwärtige Arbeitsleistung der Politik nicht mit den Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger konform geht oder die spezifische Unterstützung nicht erreicht wird. Grundsätzliches Vertrauen in die Institutionen und deren Handeln kann jedoch nur aufgebaut werden, indem eine kollektive Identität herausgebildet wird.

Weiter oben wurden die drei sozialen Voraussetzungen von Identität vorgestellt: eine institutionelle Ordnung, eine Gemeinschaft und Kommunikation. Nachfolgend sollen nun drei weitere Merkmale herausgearbeitet werden, die der Konstruktion von Identität dienen und den inhaltlichen Aspekt betonen: gemeinsame Historie, Erfahrung der Gegenwart und Zukunftserwartungen.

  • Identität braucht einen festen und vorstellbaren Bezugsrahmen. Historische Strukturen, Prozesse, Erfahrungen und prägende Ereignisse bilden oft die Grundlage für gemeinsame Wahrnehmungen, Wertentscheidungen und Handlungspotenziale. So sind beispielsweise von Generation zu Generation weitergegebene Geschichten über das Wesen des Kollektivs, politische Grenzen und Ordnungen in der Vergangenheit, religiöse Fundamente, Migrationsbewegungen oder Kriege Momente, die die Identität der Gegenwart unter Umständen stark bestimmen.

  • Erfahrung der Gegenwart: Identität erwächst aus den sozialen, politischen und wertorientierten Bestimmungen in der Gegenwart. Die Qualität der Normen und Verfahren sowie die Leistung eines politischen Systems tragen grundsätzlich zur Bejahung oder Verneinung von Normen, Strukturen und Prozessen des Systems bei und bilden so einen wichtigen Bestandteil von Identität.

  • Zukunftserwartungen: Bürger antizipieren künftiges Handeln. Ziele werden so zu Entscheidungshilfen in der Gegenwart und bestimmen die Identität.

Identitätskonflikte

Die vorherrschende politisch wirksame Identitätsform ist nach wie vor die nationale Identität. Nationale Identität stellt nicht das unveränderliche Wesen einer Nation dar, sondern das Selbstbild einer Gemeinschaft. Die „vorgestellte Gemeinschaft“ ist eine gesellschaftliche Konstruktion von Zusammengehörigkeit. Der Nationalstolz ist jedoch in verschiedenen Ländern unterschiedlich stark ausgeprägt, wie folgende Abbildung zeigt:

Quelle: World Values Survey (http://www.worldvaluessurvey.org)

Konsens besteht in der empirischen Forschung dahingehend, dass Orientierungen gegenüber potenziellen Objekten des Stolzes – sowohl das politische System als auch politikferne Bereiche der Geschichte und Gegenwart – Nationalstolz hervorrufen können.7 Diese sind nicht statisch, sondern unterliegen einem fortwährenden kommunikativen Prozess, der nationale Identität verändert.8 Zum relevanten „Rohmaterial“ werden in europäischen Ländern u. a. die Gemeinsamkeit der Sprache, eine staatliche Ordnung, kulturelle Traditionen, Landschaftsmerkmale und sozialstaatliche Leistungen gezählt. Da die nationale Identität zwar nach wie vor ein wirksames Konzept darstellt, jedoch zunehmend in Konkurrenz zu anderen Identitäten gerät, sind die Objekte des Stolzes herausgefordert und mit ihnen nationale Identitätskonstruktionen insgesamt.

Nachfolgend werden einige Momente angeführt, aus denen sich in europäischen Ländern derzeit Identitätskonflikte ergeben:

  • Migrationsbewegungen,
  • Sozialstrukturelle Veränderungen,
  • Veränderungen in der weltweiten wirtschaftlichen Kooperation,
  • die Rückkehr der Religionen,
  • die Verschränkung und das Spannungsverhältnis traditioneller und moderner Lebensformen.

Die Bewertung dieser und anderer Momente ist von Land zu Land und innerhalb von Bevölkerungen sehr verschieden, wie sich nachfolgend exemplarisch zeigt.9 So sprechen sich in Ungarn beispielsweise 21 Prozent der Bevölkerung dafür aus, dass man „niemanden ins Land lassen“ dürfe, votieren mit anderen Worten für eine vollständige Schließung der nationalen Grenzen, wohingegen der Anteil derer, die der Ansicht sind, „jede(r) könne kommen“, bei 1,8 Prozent liegt. In Deutschland hingegen liegen die Angaben bei 7,8 Prozent zu 7,3 Prozent und unterscheiden sich damit sowohl in der stark befürwortenden Gruppe als auch in der die Migration ablehnenden Gruppe deutlich. Betrachtet man die Einstellungen von Bürgerinnen und Bürgern in europäischen Ländern insgesamt, so zeigt sich, dass einerseits Angst vor dem „Anderen“ Teil der meisten nationalen Identitäten ist, sich die Intensität jedoch in Abhängigkeit von Erfahrungen in der Vergangenheit unterscheidet, andererseits die gefühlte Bedrohung sich unabhängig von der tatsächlichen „Bedrohungslage“ gestaltet. So nimmt die gegenwärtige Migrationserfahrung in jedem Land einen anderen Stellenwert bei der Identitätskonstruktion ein und führt auf der Basis von Identität zu einer spezifischen Ausgestaltung der Migrationspolitik im Rahmen der EU-weiten Regelungen.

Dass soziale Tatsachen – oder eher: vorgestellte Tatsachen – einen großen Einfluss auf die Identitätsbildung ausüben, verdeutlichen auch Befragungen zu Orientierungsobjekten. Auf die Frage, ob ihnen ein hohes Wirtschaftswachstum oder die Tradition wichtiger sei, antworten 63,9 Prozent der tschechischen und 57 Prozent der deutschen Bevölkerung: ein hohes Wirtschaftswachstum. Dahingegen stellen 37,1 Prozent der Tschechen und 42,5 Prozent der Deutschen fest, dass ihnen Tradition wichtiger sei. Ganz offensichtlich können Zukunftserwartungen – in diesem Fall augenscheinlich der Glaube an die positiven Effekte eines hohen Wirtschaftswachstums – die Konstruktion nationaler Identität dominieren. Traditionen, die die Gemeinschaft u. U. an ihren Kern erinnern, können hingegen für eine gewisse Zeit oder dauerhaft einen vergleichsweise geringen Einfluss auf die Identitätskonstruktion haben.

Der kommunikative Prozess bei der Konstruktion von Identität entscheidet in diesem Fall, welche Traditionen zur Identitätsbildung weiter herangezogen werden und welche neuen „Anker“ sich die Gemeinschaft in Zeiten weitreichender Veränderungen schafft.

Abschließend muss festgehalten werden, dass Identitätskonflikte entstehen, wenn kollektive Ängste angesprochen werden. Verunsicherungen treten vor allem dann auf, wenn sich Identität von Prozessen bedroht fühlt, auf die sie meint, keinen Einfluss ausüben zu können, wie es z. B bei Migrationsbewegungen der Fall ist.10 Ein demokratieadäquater Patriotismus, der ohne die Abwertung des Fremden auskommt, und die Suche nach konkreten Handlungsalternativen scheint das beste Mittel gegen den Rückzug auf das Selbst und die Betonung der Grenzen zu sein.

Fazit

Die Einführung des Burka-Verbots an niederländischen Schulen, um dem „islamischen Schleier“ und dem „unheimlichen Gefühl“ Herr zu werden, die Äußerung der Angst um das eigene Land, es könne sich (auch bedingt) durch die Aufhebung des Kopftuchverbots an staatlichen Hochschulen in ein anderes Land – und nicht in irgendein Land, sondern in den Augen der Kritikerin in das gefürchtete Land – verwandeln, drücken den Willen zur Bewahrung der eigenen Identität aus. In beiden Fällen wird die Abgrenzung der In- von der Outgroup symbolisch vollzogen und es kommt der Verdacht auf, dass Identität hier als etwas Statisches gesehen wird, von dem man meint, dass es durch die Grenzziehung zum „Unheimlichen“ bzw. zum „Anderen“ erhalten werden könnte.

Die vorliegenden Ausführungen haben deutlich gemacht, dass Differenzieren wichtig ist, um Identität zu erlangen, Abgrenzung jedoch nur ein sekundäres Merkmal von Identität darstellt. Für Identitätsbildungsprozesse ist sie keine notwendige und unvermeidliche Voraussetzung. Mehrfachidentitäten bestimmen die soziale Wirklichkeit und sind ohne die Abwertung des Fremden möglich. Anerkennung kann den zentralen Mechanismus von Identität darstellen. Zudem ist deutlich geworden, dass sich die Objekte des Nationalstolzes wandeln und somit die nationale Identität auf Dauer nicht zu erhalten bzw. zu konservieren ist. Identität ist ein fließendes Gefüge, das sich über kommunikative Prozesse immer wieder neu kreiert.

Diese Grundlagen von Identität sind für die Analyse von kollektiven Identitäten, ihrer Vielfalt und ihrem Zusammenspiel von Bedeutung. Versteht man europäische Identität als eine Identität von vielen, dann kann das Ziel von Identitätsbildung auf EU-Ebene nur heißen: Anerkennung der Unterschiedlichkeit des Anderen.


Literaturhinweise:

  • Walter Reese-Schäfer (Hrsg.): Identität und Interesse. Der Diskurs der Identitätsforschung. Opladen 1999.

  • Anton Sterbling: Aktuelle Identitätsprobleme in Südosteuropa. In: Südosteuropa Mitteilungen 45 (2005), H. 2, S. 6-15.

  • Henri Tajfel: The social dimension: European developments in social psychology. Cambridge 1984.

  • Alexander Thomas: Grundriß der Sozialpsychologie. Göttingen 1992.

  • Horst Walkenhorst: Europäischer Integrationsprozeß und europäische Identität. Die Bedeutung eines sozialpsychologischen Konzepts. Baden-Baden 1999.

Fußnoten:


  1. Zu dieser und den folgenden Nachrichten vgl. „Süddeutsche Zeitung“, 11.02.2008, S. 7 f. ↩︎

  2. Vgl. auch den Vorschlag, den Begriff „Identität“ in der wissenschaftlichen Debatte ganz zu streichen; dazu Reinhard Kreckel: Soziale Integration und nationale Identität. In: Berliner Journal für Soziologie 4 (1994), S. 13-20; Lutz Niethammer: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Hamburg 2000. ↩︎

  3. Vgl. Erik Erikson: Identität und Lebenszyklus. Frankfurt (Main) 1996. ↩︎

  4. Dazu Amélie Mummendey: Verhalten zwischen sozialen Gruppen. Die Theorie der sozialen Identität, in: Theorien der Sozialpsychologie, hrsg. v. Dieter Frey und Martin Irle, Bd. 2: Gruppen- und Lerntheorien, Bern 1985, S. 185-216, hier S. 199. ↩︎

  5. Gerard Delanty: Die Transformation nationaler Identität und die kulturelle Ambivalenz europäischer Identität. Demokratische Identifikation in einem postnationalen Europa. In: Kultur, Identität, Europa, hrsg. v. Reinhold Viehoff und Rien T. Segers, Frankfurt (Main) 1999, S. 267-288, hier S. 269 f. ↩︎

  6. Vgl. David Easton: A Systems Analysis of Political Life. New York 1965. ↩︎

  7. Falsch wäre es jedoch, einen ausgeprägten Nationalstolz per se mit Nationalismus gleich zu setzen, zumal sich die Objekte des Stolzes unterscheiden. ↩︎

  8. So sprechen sich heute beispielsweise nur noch 3 Prozent der französischen (!) Bevölkerung dafür aus, dass es sich lohnt, für die Nation das Leben zu verlieren. Vgl. World Values Survey (http://www.worldvaluessurvey.org). ↩︎

  9. Vgl. zu den folgenden Angaben World Values Survey (http://www.worldvaluessurvey.org). ↩︎

  10. Vgl. dazu Orietta Angelucci von Bogdandy: Zur Ökologie einer europäischen Identität. Soziale Repräsentationen von Europa und dem Europäer-Sein in Deutschland und Italien. Baden-Baden 2003. ↩︎