OWEP 2/2008
Schwerpunkt:
Identitäten in Europa
Editorial
Geht man vom reinen Wortbegriff aus, bedeutet „Identität“ soviel wie „Übereinstimmung“ oder „vollkommene Gleichheit“. Schon der Plural im Titel „Identitäten in Europa“ weist aber darauf hin, dass es in vorliegendem Heft um mehr gehen muss: Ausgehend von soziologischen Überlegungen über individuelle und kollektive Identität zeigen die Beiträge dieses Heftes unterschiedliche Ausformungen des Selbst- und Fremdbildes in Europa auf. Eine wichtige Rolle im zusammenwachsenden und für den „Normalbürger“ immer unübersichtlicher werdenden Europa spielt dabei die Frage einer „europäischen Identität“. Gibt es sie überhaupt? Falls ja, welche Kriterien machen sie aus?
Schon die unterschiedlichen Zugänge der Autoren belegen, wie schillernd die Thematik „Identitäten in Europa“ ist – besonders gut erkennbar etwa an den Überlegungen der beiden Abgeordneten des Europäischen Parlaments, Viktória Mohácsi und Elmar Brok. Das aktuelle Heft von OST-WEST. Europäische Perspektiven richtet bewusst den Blick in die Westhälfte Europas, nach Belgien und in das Baskenland, dann aber auch in die Osthälfte, nach Russland, um an drei Beispielen spezifische Ausformungen der Identitätsfindung vorzustellen.
In allen Fällen spielt die religiöse Komponente historisch und aktuell eine wesentliche Rolle. Dies gilt in einem weiteren Sinne auch für das deutsch-polnische Verhältnis, das wohl eines der schwierigsten Beziehungsgeflechte innerhalb Europas bildet. Die Ergebnisse einer kleinen Umfrage sind sicher nicht repräsentativ, vermitteln aber doch so etwas wie ein Stimmungsbild. Auch der außerhalb des Schwerpunktthemas stehende Beitrag zur Maximilian-Kolbe-Stiftung berührt das Verhältnis der beiden Nachbarn in Mitteleuropa. Aus aktuellem Anlass eingefügt ist eine Stellungnahme über die Haltung der Serbischen Orthodoxen Kirche zum Kosovokonflikt.
Die Redaktion
Kurzinfo
Unter „Identität“ ist vom Begriff her zunächst „Übereinstimmung mit sich selbst“ zu verstehen. Allerdings zeigt ein Blick in die soziologische Literatur, dass „Identität“ sich doch nicht so ganz klar umschreiben lässt; manche Forscher wollen den Terminus sogar ganz unter den Tisch fallen lassen. Besser ist es wohl, von „Selbstverständnis“ zu sprechen, zumal wenn es um ganze Völker oder Nationen geht. Was aber macht ein Volk zu dem, was es ist? Faktoren wie Sprache, Religion, Kultur und Territorium gehören sicher dazu. Gerade in Europa mischen sich diese Zuordnungen jedoch erheblich, es entstehen vielfältige Überlappungen, die sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder verändert haben. Besonders schwierig ist es natürlich, von einer „europäischen Identität“ zu sprechen; auch müsste man davon noch einmal eine „Identität der Europäischen Union“ unterscheiden, denn Europa und die Europäische Union sind nicht deckungsgleich.
Das aktuelle Heft der Zeitschrift „OST-WEST. Europäische Beziehungen“ möchte anhand einiger Beispiele aufzeigen, wie vielfältig und oft auch problematisch sich die Identität der Europäer und der Völker Europas im Mit- und Nebeneinander präsentiert. Inga Beinke M. A., Halle, geht eingangs dem soziologischen Phänomen auf den Grund und sorgt für notwendige Differenzierungen. Konkreter wird dann Jörg Lüer, Generalsekretär der Europäischen Konferenz Justitia et Pax, Berlin, in seinen Überlegungen über Identitätsfragen im Rahmen der europäischen Zusammenarbeit. Dem Thema „europäische Identität“ widmen sich zwei Abgeordnete des Europäischen Parlaments auf unterschiedliche Weise. Elmar Brok (Europäische Volkspartei) weist auf die Bedeutung der europäischen Werte als Grundlage für die Zukunft Europas hin. Viktória Mohácsi (Fraktion der Liberalen) skizziert die Lage der Roma als einer Minderheit, die in Europa unter großen Benachteiligungen leidet.
Zwei Beispiele aus dem Westen Europas stehen für Sonderfälle des Identitätsbegriffs. So widmet sich Prof. Dr. Jan Kerkhofs SJ, Leuven, dem Phänomen „Belgien“ und „dem“ Belgier; Dr. Antje Bräcker, Trier, beschreibt das Selbstverständnis der Basken in Spanien und Frankreich. Prof. Dr. Jutta Scherrer, Paris, wendet den Blick wieder nach Osten und untersucht die Rolle der orthodoxen Kirche für das Selbstverständnis des heutigen Russlands.
Für Europa als Ganzes, sicher aber noch mehr für die beiden Völker selbst ist das deutsch-polnische Verhältnis von besonderer Bedeutung. Wie kaum zwei andere Nachbarn in Europa sind beide Nationen ineinander verzahnt und durch eine tragische Geschichte miteinander verbunden. Unter dem Titel „Katholiken in Deutschland, Katholiken in Polen – gegenseitige Erfahrungen und Erwartungen“ bietet das Heft die Ergebnisse einer kleinen Umfrage, zu der sich je fünf Autoren aus beiden Ländern geäußert haben: Prof. Dr. Dieter Bingen, Prof. Dr. Hans Hecker, Józefa Hennelowa, Kultusminister a. D. Prof. Dr. Hans Maier, Zbigniew Nosowski, Wojciech Pięciak, Prof. Dr. Adam Przybecki, Dr. Burkard Steppacher, Botschafter a. D. Wojciech Wieczorek und Karin Ziaja. Ihre Positionen sind sicher nicht repräsentativ, bieten aber dennoch manche Anhaltspunkte zur weiteren Diskussion.
Abgeschlossen wird das Heft mit einem Beitrag von Dr. Friedrich Kronenberg, Bonn, über die Entstehung und Ziele der Maximilian-Kolbe-Stiftung und – aus aktuellem Anlass – mit einem kurzen Text von Irena Pavlović, Erlangen, über die Haltung der Serbischen Orthodoxen Kirche zur Unabhängigkeitserklärung des Kosovo.
Dr. Christof Dahm