Davidstern in Budapest
Das jüdische Viertel lebt wieder
Schon vom Elisabeth-Ring – früher Lenin-Ring – sieht man den prunkvollen Bau mit den beiden Zwiebeltürmen, die größte aktiv genutzte europäische Synagoge in der Dohány utca. Das Gotteshaus in der Elisabeth-Stadt (Erzsébetváros) im siebten Bezirk wurde auch dank Dollars aus den USA wieder aufgebaut.
„Tony Curtis hat viel für den Bau der Synagoge gespendet“, erzählt die burschikose Kartenabreißerin mit dem Kurzhaarschnitt. „Und Sie kennen doch Estée Lauder, die Kosmetik-Firma?“ fragt sie. „Sie finanziert den jüdischen Kindergarten hier um die Ecke.“ Beide US-Promis stammen von ungarischen Juden ab. Estée Lauder hieß eigentlich Josephine Esther Mentzner, Tony Curtis wurde als Bernard Swartz zwar schon in Manhattan geboren, doch seine Eltern stammten noch aus dem ungarischen Mátészalka.
Kurz bevor Sándor die Tore der Synagoge schließt, füllt sich die Synagoge im maurischen Stil noch mit neuen Besuchergruppen: Italienern, Amerikanern, Ungarn. Hier wird in vielen Zungen gesprochen. Gott ist polyg(l)ott. Obligatorisch ist für alle Männer die „Kippa“, die den Kopf bedeckt. Sándor verteilt sie. „Mein Bruder kam in Tel Aviv bei einem Anschlag ums Leben“, erzählt er beiläufig und rückt verlegen seine Schiebermütze zurecht. Schicksalsschlag im gelobten Land.
Enttäuschte Ungarn wenden sich den Rechtsextremen zu
Seine Kollegin erklärt die drei Säulen der Halacha, der mehr als 600 Gesetze der jüdischen Tradition. „Du sollst den Schabbat einhalten, die Thora lesen und den anderen geben.“ Geben sei in diesen Zeiten besonders wichtig, betont die rundliche Frau, die gerade mal so ihre vier Kinder durchbringt. Die jüdische Gemeinde versorge jetzt sehr viele Leute mit Essen. „Es ist schwer für alle, egal ob Juden oder andere.“ Das erklärt wohl auch den Erfolg der rechtsextremen Wehrsportgruppe „Ungarische Garde“, die seit einem Jahr durch ungarische Städte marschiert, meint sie. „Die Leute haben keine Perspektive.“ Ein Eindruck, den der Soziologe Pál Tamás bestätigt: „Das sind Menschen, die nach der Wende große Hoffnungen hatten und bitter enttäuscht wurden.“ Einen Bodensatz von 12 Prozent potenziell rechtsradikalen Wählern, rechnet er vor. Wobei es die rechtsextreme Lebens- und Wahrheitspartei (MIÉP) des antisemitischen Schriftstellers István Csurka nach der Wende nur einmal ins Parlament geschafft hat. Und „Jobbik“ („Die Besseren“, „Rechteren“), die die Wehrsportgruppe „Ungarische Garde“ betreiben, um die 1,5 Prozent Zustimmung dümpeln. Aber die Gruppe ist präsent. Im Internet und auf der Straße. Gerade erst haben wieder neue Gardisten einen Fahneneid abgelegt – auf dem Heldenplatz, nur zwei Kilometer Luftlinie entfernt, einem der wichtigsten Plätze in der Pester Innenstadt. In Geist und Aufmachung beziehen sich die rechtsextremen Wehrsportler auf die „Pfeilkreuzler“, den ungarischen Ableger der Nationalsozialisten. 600.000 ungarische Juden deportierten die Nazis und ihre magyarischen Helfershelfer in die Vernichtungslager. Was sagt die Kartenabreißerin zu den Gardisten, die in Uniform und Symbolik an die ungarischen „Pfeilkreuzler“ anknüpfen, die im Winter 1944/45 die Budapester Juden in ein Ghetto pferchten und Hunderte in die Donau schossen? Sie zuckt die Schultern und antwortet mit einem Wortspiel. „Wissen Sie“, meint sie, „meine Mutter sagte immer: Es gibt zwei Arten von Menschen. ‚Ember‘ und ‚gazember‘, Menschen und Halunken.“
Der Geist des Antisemitismus ist aus der Flasche
„Nach der politischen Wende ist der Geist des Antisemitismus der Flasche entwichen“, sagt der greise Ernö Lazarovics in seinem kleinen Zimmer im dritten Stock des Gebäudes in der Síp utca, in fußläufiger Entfernung von der Synagoge. Im Innenhof, zwischen Sperrmüll, ist der Davidstern als Bodenmosaik zu erkennen. Hier residiert der Verband der ungarischen jüdischen Gemeinden (MAZSIHISZ). Lazarovics vertritt die rund 80.000 ungarischen Juden im Ausland.
Der Philosoph ist über 80, er stammt aus dem heutigen Rumänien – auch er hat eine „Lagergeschichte“. Er sitzt zwischen Bücherstapeln, vor einer uralten Schreibmaschine, und er entwirft das Bild des heutigen Ungarn aus der Sicht eines Holocaust-Überlebenden: Er berichtet von Vandalismus auf jüdischen Friedhöfen, von Hassbriefen, dem alltäglichen Antisemitismus, dem die ungarischen Juden wieder ausgesetzt sind. „Ich sage Ihnen als jemand, der den Zweiten Weltkrieg überlebt hat, als Mitglied des Mauthausen-Komitees: Es ist schrecklich.“
Und so wie ihm gehe es vielen Holocaust-Überlebenden, meint Lazarovics. „Wir haben geglaubt: Nach der politischen Wende wird es Freiheit und Demokratie geben. Alle werden sich verstehen.“ Aber es kam anders. „Ab in die Donau“ ist der Schlachtruf der heutigen Rechtsextremen: Sie münzen ihn auf Juden, Homosexuelle, Linke, kurz: alle, die sie hassen. Deshalb kommt man ohne Sicherheitskontrolle gar nicht zu Lazarovics. Der greise Herr schüttelt den Kopf: „Es geht ja nicht nur gegen das Judentum, sondern gegen alle progressiven demokratischen Bewegungen. Das sehen Sie hier am Nationalfeiertag, dem 15. März. Sie werfen mit Flaschen und Paradeisern (Tomaten). Warum?“ Lazarovics hofft auf ein Verbot der Ungarischen Garde. Und er hofft auf einen Volksverhetzungsparagraphen, der die täglichen Schmähungen endlich unter Strafe stellt.
Altehrwürdige Lehranstalt
„Schauen Sie“, sagt Professor Alfréd Schöner, und beugt sich im Nadelstreifenanzug zu seinem Gegenüber – über die Stapel der Abschlussarbeiten hinweg. Sein Büro ist einen Kilometer Luftlinie entfernt, im ältesten europäischen Rabbinerseminar. Schöner ist Direktor der 131jährigen Einrichtung. „Ich kann zwar sagen, was ich will. Ich darf aber die Gefühle eines anderen nicht verletzen.“ Eines anderen, dessen Familie 1944 umgebracht wurde, nach dem Krieg nach Cenk in Siebenbürgen ausgesiedelt, während des Aufstandes 1956 erschossen. Eines anderen, der seine Religion während der Kádár-Zeit heimlich oder gar nicht leben konnte, sagt der Rabbiner. „Das alles hat diese Person erlebt, überlebt. Dann geht dieser Mensch ins Fußballstadion und hört: „Der Zug fährt los nach Auschwitz.“ Versetzen Sie sich in die Seele eines solchen Menschen“, sagt er eindringlich und spricht dabei über seine Familiengeschichte. 46 Familienmitglieder wurden ermordet – fünf Halbgeschwister, die Stiefmutter, der Stiefvater und viele andere. „Ich rede nicht gerne über den Holocaust“, seufzt er. „Nur, wenn ich muss.“ Und es ist nicht klar, ob das „Müssen“ durch die Frage angestoßen ist oder einem inneren Drang entspringt. Den Holocaust in Ungarn vergleicht er mit der biblischen Wanderung in der Wüste, die schwierigen Jahre nennt er „unsere Puszta-Wanderung“. Die Einrichtung, der er heute vorsteht, wurde 1944 von Adolf Eichmann zum Gefängnis gemacht. Von hier aus starteten die Transporte in die Vernichtungslager. „Es war auch danach nicht einfach“, sagt Schöner, eine Balance zu finden zwischen atheistischen Machthabern und dem Wiederbeleben jüdischer Geistestradition. Das Thema Staatssicherheit will er nicht vertiefen.
Jude und Patriot
Anders als Ernö Lazarovics glaubt Schöner nicht, dass der Antisemitismus als Flaschengeist bis zur Wende in Ungarn „in der Flasche“ eingesperrt war. Schöner spricht vom Leiden an antisemitischen Schmähungen, denen er sich durch den Umzug nach Israel zu entziehen versucht. Er kehrt 1996 zurück. Denn er ist nicht nur Jude, er ist ungarischer Patriot. „Ja, es gibt hier Gruppen, Personen, Äußerungen, die sind antisemitisch“, sagt er. „Aber das habe ich nie mit Ungarn gleichgesetzt. Das ist ein sehr begabtes Land. Das ist ein begabtes Volk. Ein Volk, das eine tausendjährige tragische Geschichte hat. Besetzt von Türken, von Deutschen, von Österreichern, von Russen, von allen.“ Doch, sagt er, „in diesem Volk, in diesem Land war immer soviel Kraft, dass es sich erneuern konnte.“ Schöners Patriotismus ist unter jüdischen Ungarn verbreitet. „Wir hier in Ungarn sind Neologen“, erklärt Schöner, „traditionsbewusst, aber offen.“ Die Neologen wollten nicht nur Judaistik unterrichten, sondern auch den ungarischen Patriotismus fördern. Insofern gehörte auch ungarische Sprache und Kultur auf den Lehrplan – erklärtes Ziel war die Assimilation der ungarischen Juden. „Es ist eine der europäischen jüdischen Einrichtungen mit Patina“, sagt Direktor Alfréd Schöner mit sichtlichem Stolz. 1877 wurden die Pforten geöffnet, obwohl die Orthodoxen in Wien bei Kaiser Franz Joseph intervenierten. Vergeblich.
Jung und Alt wollen Bildung
Die 20jährige Renata Tóth-Kása aus dem südungarischen Szeged ist eine der etwa 250 Studenten, die heute ihre Studien in dem klassizistischen Gebäude – unweit von tosender Rákóczi-út und Corvin-Kaufhaus – betreibt, das schon zu Ost-Zeiten Westkonsum möglich machte. Vor der jungen Frau liegt ein Hebräisch-Lehrbuch. Sie zeigt, was sie gerade büffelt: „Jüdische Literaturgeschichte“ steht auf dem Einband. „Ich wollte auf jeden Fall hierhin“, erzählt sie. Um die beiden großen Religionen Christentum und Islam zu verstehen, müsse sie erst das Judentum kennenlernen, sagt sie. „Schließlich ist es die Grundlage für beide Weltreligionen.“ Was die junge Frau mit der Ausbildung einmal anfangen kann, das weiß sie noch nicht, sagt sie. Vielleicht wissenschaftlich arbeiten. Eins spielt für sie – die Nicht-Jüdin – jedoch eine große Rolle: „Ich möchte die anderen auch verstehen.“
Ganz praktische Motive hat ihre Klassenkameradin Veronika Rotter aus Budapest. „Ich bin Jüdin“, bekennt die 21Jährige freimütig. „Ich bin damit groß geworden. Das interessiert mich. Und ich möchte gerne Kinder unterrichten. Beides kann ich hier verknüpfen.“ Die beiden jungen Frauen betonen die gute Ausbildung und den lockeren Umgang in dem klassizistischen Gebäude – ein Kontrast zur Massenuniversität. Rabbiner Schöner möchte „Spezialisten für Jüdisches“ ausbilden an seiner „University of Jewish Studies“, wie er in fließendem Englisch sagt. Leute, die in den Medien, bei Kultureinrichtungen, Museen, Organisationen unterkommen. Er möchte, dass Juden über Jüdisches Bescheid wissen und die Deutungshoheit behalten. Und es gibt ein ganz praktisches Problem. Die jüdischen Einrichtungen, die gut zwei Dutzend Synagogen allein in Budapest – sie brauchen qualifiziertes Personal.
Späte Berufung
Sie brauchen Leute wie Ervin Szerdócz, er ist einer der ältesten Studenten. Der 57jährige stammt eigentlich aus Máramarossziget (Sighetu Marmatiei) im heutigen Rumänien. Von Beruf ist er Zahntechniker. Nebenbei hat er Kunst gesammelt, „die Künstler der Kolonie Nagybánya“, erzählt er. Gegen Ende der Ceauşescu-Zeit habe die Securitate angefangen, ihn zu ärgern. „Woher haben Sie denn diese Gemälde?“ Unangenehme Fragen an einen Kunstsammler in einem sozialistischen Land. Das Leben in Rumänien sei für ihn immer schwieriger geworden. „Ich fand meinen Platz dort einfach nicht.“ Das Thema Auswandern rückte in den Vordergrund. Mögliche Ziele waren Israel oder die USA. „Ungarn sollte dafür das Sprungbrett sein. Und hier sind wir kleben geblieben.“ Heute schlägt sich Szerdócz als Hausmeister in einem jüdischen Kindergarten durch, privat macht er noch das eine oder andere Gebiss. Das erlaubt ihm, tagsüber zu studieren. Zunächst, erzählt er, hat ihn die Kunstgeschichte interessiert. Er schreibt sich ein. Es folgt die Liturgie. Dazu gehört der Gesang. Er lernt auch das, wird zum Kantor ausgebildet. Und so geht er den Weg immer weiter. Jetzt ersetzt er in Újpest den fehlenden Rabbiner. Über seinen Werdegang sagt der Rabbiner-Schüler. „Nur sehr wenige praktizierende Rabbiner können von sich sagen: Ich wollte schon von Kind an Rabbiner werden. Das ist ein Prozess.“ Die Tiefen des Glaubens hätten ihn angezogen. Ervin Szerdócz empfindet Religion als Leitstrahl in einer Gesellschaft, die sich nach jüngsten Umfragen wieder nach den sozialistischen Zeiten zurücksehnt – nicht aus nostalgischer Verklärung, sondern aus Sehnsucht nach Stabilität und Berechenbarkeit. „Die Religion bremst die Demokratie an mancher Stelle, wo sie ohne Religion schrankenlos wäre“, sagt der bedächtige Ervin Szerdócz. „Sie gibt den Menschen Halt und Haltung. So können wir zwischen Gut und Schlecht unterscheiden.“ Religion und Demokratie, meint Szerdócz, „passen sehr gut zusammen.“