OWEP 3/2008
Schwerpunkt:
Jüdisches Leben in Mittel- und Osteuropa
Editorial
Die deutsche und die jüdische Geschichte sind durch die Schoah auf unheilvolle Weise intensiv miteinander verbunden. Für das Ostjudentum bedeutete der Zweite Weltkrieg das fast vollständige Ende seiner Existenz. Eine Jahrhunderte alte Tradition wurde bis auf wenige Reste ausgerottet. Die religionsfeindlichen und oft antisemitischen kommunistischen Regime haben dafür gesorgt, dass sich diese Reste nicht wieder zu lebendigen Gemeinschaften entwickeln konnten.
Deutsche Juden hatten das Judentum in Mittel- und Osteuropa stark geprägt. Das Ostjudentum hatte eine intensive Beziehung zum deutschen Raum; seine wichtigste Sprache, das Jiddische, gehört nicht zufällig zur germanischen Sprachgruppe. Über die Katastrophe, die der Nationalsozialismus über die Juden in Mittel- und Osteuropa gebracht hat, sind die vielen Jahrhunderte des Zusammenlebens mit ihren vielfältigen Erfahrungen und Beeinflussungen fast völlig in Vergessenheit geraten.
Das östliche Judentum ist mit vielen Mythen verbunden, von denen das „Schtetl“, oft romantisch verklärt, wohl der bedeutendste ist. Im Musical „Anatevka“, in den von Martin Buber überlieferten Erzählungen der Chassidim sowie in der heute so beliebten Klezmer-Musik etwa wird der Mythos vom Leben der Juden in Mittel- und Osteuropa aufrecht erhalten. Doch ist die Tradition dieses jüdischen Lebens abgerissen. Es ist bezeichnend, dass die heutige Wiederbelebung des Judentums in den mittel- und osteuropäischen Staaten ohne die Hilfe vor allem aus den USA und aus Israel nicht möglich wäre.
Mit diesem Heft wollen wir historische Entwicklungen nachzeichnen und nach der heutigen Lage der Juden in Mittel- und Osteuropa fragen. Wir befassen uns mit dem Mythos und mit der Wirklichkeit, mit den Blütezeiten der Entwicklung und mit den Katastrophen: All das war für uns Anlass genug, dieses Thema aufzugreifen.
Die Redaktion
Kurzinfo
„Neues Leben blüht aus den Ruinen“ – selten hat dieses Wort von Friedrich von Schiller so gut eine Entwicklung charakterisiert wie die Erneuerung jüdischer Gemeinden im Osten Europas seit der „Wende“ von 1989/90. In vielen Ländern Mittel- und Osteuropas hat sich nach dem Ende des Kommunismus ein reges jüdisches religiöses und kulturelles Leben entwickelt. Überraschenderweise haben sich auch die jüdischen Gemeinden in Deutschland, deren Ende sich durch Überalterung abzeichnete, seit den neunziger Jahren erholt. Allerdings sind auch neue Konflikte zu beobachten, und auch althergebrachte und neue Vorurteile gegen „die“ Juden werden laut.
Das vorliegende Heft „Jüdisches Leben in Mittel- und Osteuropa“ erhebt nicht den Anspruch, umfassend über alle Entwicklungen jüdischen Lebens zu informieren. In erster Linie soll es darum gehen, die aktuelle Situation anhand von Streiflichtern aus einzelnen Ländern vorzustellen, damit sich die Leserin und der Leser selbst ein Bild machen können. Eine kurze historische Einführung über Geschichte, Kultur und Selbstverständnis des „Ostjudentums“ ist jedoch notwendig, um die gegenwärtigen Probleme zu verstehen. Priv.-Doz. Dr. Monica Rüthers, Osteuropahistorikerin an der Universität Basel, vermittelt einen instruktiven Überblick, der u. a. das Verhältnis der Juden zur nichtjüdischen Umwelt und den „Mythos Schtetl“ beschreibt. Historisch ist auch der Ansatz von Dr. Uri Kaufmann, Heidelberg, der sich dem Verhältnis zwischen deutschen und osteuropäischen Juden vornehmlich im 19. und 20. Jahrhundert widmet.
Mit der Wende von 1989/90 öffneten sich für die Juden in der Sowjetunion die Grenzen. Hunderttausende verließen ihre Heimat, viele ließen sich auf Dauer in Deutschland nieder, sodass binnen Jahre zahlreiche neue Gemeinden entstanden und alte Gemeinden sich völlig veränderten – beides war und ist mit vielen Konflikten verbunden. Der Beitrag der Schriftstellerin Lena Gorelik, die selber 1992 als „Kontingentflüchtling“ nach Deutschland kam, skizziert die vielfältigen Probleme in den jüdischen Gemeinden Deutschlands. Anders sieht es in Polen aus, dessen jüdische Gemeinschaft vor dem Zweiten Weltkrieg über drei Millionen Mitglieder zählte. Bella Szwarcman-Czarnota, Redakteurin der Warschauer jüdischen Monatszeitschrift „Midrasz“ und Tochter von Holocaust-Überlebenden, beschreibt anhand ihres Lebensweges die Höhen und Tiefen der kleinen jüdischen Nachkriegsgemeinde in Polen, die auch in der Gegenwart immer wieder mit Anfeindungen zu kämpfen hat. Ihr ernüchterndes Fazit im Blick auf die Zukunft des polnischen Judentums lautet: „Wir sind einfach zu wenige, und die Demographie ist erbarmungslos.“
Zwei weitere Beiträge schildern die Situation der jüdischen Gemeinschaft in Weißrussland und in der Ukraine. Prof. Dr. Manfred Zabel, engagiertes Mitglied des Internationalen Bildungswerks Dortmund, vermittelt Eindrücke in das Gemeindeleben von Minsk, beschreibt aber auch die Erinnerungskultur und gelegentlich aufscheinende antisemitische Vorfälle in Weißrussland. Aus der Sicht eines liberalen Rabbiners und zugleich stark biographisch geprägt ist der Text von Alexander Dukhovny in Kiew, der auch der Vorsitzende des „Osteuropäischen Verbandes der progressiven Rabbiner“ ist. Stärker beschreibend sind die Ausführungen von Dr. Gerd Stricker, Zürich, über die Entwicklung der jüdischen Gemeinden in Russland; sein Beitrag trägt nicht ohne Grund den Titel „Bleiben oder Gehen?“
Literatur, Kunst, Musik – all das und mehr klingt an bei dem Begriff „Czernowitz“, jener in der heutigen Ukraine gelegenen Stadt, die in der Erinnerung als ein Idealfall fruchtbarer deutsch-jüdischer Symbiose inmitten des alten Habsburgerreiches galt. Was ist davon Mythos, was Realität? Der Literaturwissenschaftler Dr. Markus Winkler, Portsmouth/Berlin, versucht, diese Frage einer Lösung näherzubringen.
Zwei Interviews vermitteln sehr persönliche Sichtweisen über jüdisches Leben und Selbstverständnis. Jakob Finci, Vorsitzender der jüdischen Gemeinde Sarajewo, beschreibt seinen Lebensweg und gibt einen Überblick über die Rolle der jüdischen Gemeinde in Bosnien-Herzegowina. Piotr Paziński, Chefredakteur der Warschauer jüdischen Monatszeitschrift „Midrasz“, antwortet auf Fragen nach der aktuellen Situation der jüdischen Gemeinschaft in Polen, besonders im Blick auf unzureichende bzw. fehlende Vergangenheitsbewältigung seitens der nichtjüdischen Umwelt. Abgeschlossen wird das Heft mit einer Reportage von Stephan Ozsváth, Berlin, über das jüdische Leben in Budapest. Auch hier gilt: Das jüdische Leben blüht auf, doch auch die Geister der Vergangenheit sind wieder lebendig.
Dr. Christof Dahm