EU-Mitgliedschaft und Nachbarschaft
Im Vorwort zum fünften Band seines riesigen Werkes „The Second World War“ schreibt Winston Churchill: „Time and Truth are Healers!“ Ja, Zeit und Wahrheit können in der Tat nach einem Krieg und auch sonst „Heiler“ sein. Allein, was ist Wahrheit? Diese Frage ist uns seit langem bekannt. Niemand verfügt über die Wahrheit. Darüber, was man für die Wahrheit hält, spricht man immer aus einer Stimmung heraus. Das ist zu bedenken.
Ebenso sind die europäischen Werte in aller Munde. Auch hier in Serbien wird viel darüber gesprochen, diskutiert, manchmal auch geschwätzt. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa war wesentlich durch die Weltkriege, den Holocaust, Konzentrationslager, Imperialismus und Kolonialismus, von Ausbeutung und Plünderungen aller Art, Revolutionen und „Revolutionen“ bestimmt. Weltweit gesehen – das ganze Jahrhundert. Niemand wird wohl behaupten wollen, das seien die europäischen Werte oder überhaupt irgendwelche „Werte“. Werte sind vor allem Freiheit, Demokratie, Menschenwürde und Menschenrechte, soziale Verantwortung, Umweltschutz, Wissenschaft im Dienste der Menschheit und nicht umgekehrt, Friedenssicherung durch das Völkerrecht. Die derzeitigen Versuche, Serbien durch die gewaltsame Abtrennung von Kosovo und Metochien1 zu „verkürzen“, sind offensichtlich gegen das Völkerrecht gerichtet – das bestreitet auch niemand. Die „Erklärungen“, warum man es trotzdem tut, sind entweder logisch absurd, heuchlerisch oder zynisch. Man wiederholt hartnäckig, vor allem in den USA, aber auch in einem großen Teil der EU, es bleibe ein einmaliger Vorgang, sonst gelte dieses Prinzip nirgendwo mehr – so als ob etwas besser wäre, wenn man es gegen die eigenen Vorstellungen, politischen Entscheidungen (Helsinki)2 und schließlich auch gegen die eigenen Wertmaßstäbe nur einmal tut („Ich werde dich nur einmal umbringen“) ...
Ohne Heuchelei kommt Politik wahrscheinlich nicht aus. Das ist eine triviale Wahrheit. Aber wenn die Heuchelei zu offensichtlich und zu groß wird, dann wird sie zur Selbstschändung und trägt – noch schlimmer – wesentlich zum Ruin der eigenen Grundlagen bei. Das wird immerhin in einem Teil der EU verstanden, und man will nicht mitmachen, trotz allen Drucks „von außen“. Zynismus? Schon Ausdrücke wie „Krieg von geringer Intensität“ oder „altes Europa“ sind zynisch. Die (große) Macht lebt nicht selten mit dem Gefühl der Allmacht, die zu allem ermächtigt. Allmachtsvorstellungen führen zu Ideen wie „führende Rolle“, „leadership“, überhaupt Führer – das haben wir schon einmal erlebt. Was haben wir heute? Die NATO folgt einem strategischen „Einfall“, und ein kleines, ziemlich erschöpftes Land soll deshalb fallen. Widerstand wird als undemokratisch bezeichnet; man mahnt, die Staatsgrenzen seien unantastbar, also auch die Grenzen des „Staates“ Kosovo. Im gleichen Atemzug werden die Grenzen Serbiens ignoriert.
Der bedeutende Theologe Hans Küng schreibt: „Kriege sind nicht von vornherein unvermeidbar: eine besser koordinierte Diplomatie, unterstützt von effizienten Waffenkontrollen, hätte sowohl die Jugoslawienkriege wie die beiden Golfkriege verhindern können.“3 Der deutsche General Heinz Loquai hat direkt an den Balkanereignissen teilgenommen und danach zwei Bücher veröffentlicht: „Der Kosovo-Konflikt. Wege in einen vermeidbaren Krieg“, Baden-Baden 2000, und „Weichenstellungen für einen Krieg. Internationales Krisenmanagement und die OSZE im Kosovo-Konflikt“, Baden-Baden 2003. Damit zeigt sich, welche Vortäuschungen von „Wahrheit“ nötig waren, um der westlichen Öffentlichkeit glaubhaft zu versichern, die kriegerische Intervention 1999 sei unvermeidbar gewesen.
Küng hat natürlich vollkommen Recht. Aber man muss auch Diplomatie koordinieren und Waffen kontrollieren wollen. Das geschieht aber auch heute nicht. Vielmehr ging es und geht es um zweierlei:
Entweder man hat eine bestimmte Vorstellung von der Wirklichkeit, die der Wirklichkeit nicht entspricht, und bemüht sich dann, die Wirklichkeit in diese Vorstellungen zu zwingen, meistens ohne die Verhältnisse, die betreffende(n) Tradition(en) und Geschichte überhaupt zu kennen, anstatt von den Tatsachen auszugehen und daraus Schlüsse zu ziehen – sich einzumischen ist man aber bereit, gegen Kants Verbot in solchen Situationen (wer liest denn noch Immanuel Kant?);
oder aber man kennt die Verhältnisse und die Tatsachen mehr oder weniger, verspricht sich aber etwas in strategischer, ökonomischer oder wer weiß welcher Hinsicht von der Zergliederung Jugoslawiens (jetzt auch: Serbiens), und dann verfährt man so, wie wir jetzt die Gelegenheit haben zu beobachten.
Beides hat uns sehr viel gekostet, zusammen freilich mit vielen eigenen Fehlern und Fehleinschätzungen auf allen Seiten. Das Schlimmste: Alles war unnötig.
Katharsis? Der Westen empfiehlt oder verlangt gar (besonders in Deutschland) die Katharsis eines ganzen Volkes. Katharsis ist eine sehr gute Sache, besonders wenn sie aus eigenen Motiven und Bedürfnissen moralischer und geschichtlicher Art vollzogen wird. Sie muss aber allen gelten und überall durchgeführt werden – wenn man nur eine der beteiligten Seiten dazu zwingt, wird daraus nichts. Einer Katharsis sind auch diejenigen bedürftig, die von außen sehr viel und meistens unglückselig die Ereignisse in Jugoslawien und jetzt in Serbien im Wesentlichen mitbeeinflusst haben. Dazu wird es meines Erachtens nie kommen. Wenn sich jemand in einem Moment mächtig fühlt, Geld, Gold und Bomben hat, kann und will er an eigene „Katharsis“ überhaupt nicht denken, geschweige denn, dass er sie für notwendig hält. Das ist nun einmal so. Übrigens, die Zerstörung der alten serbischen Klöster und Kirchen im Kosovo vor vier Jahren ist weder von den damals anwesenden fremden Soldaten verhindert noch später sanktioniert worden, und der Schaden ist auch nicht wieder gutzumachen. Welche „Werte“ rechtfertigen ein solches Benehmen? Etwa die christlichen? Aber das ist auch ein Problem des modernen Nihilismus, nicht nur ein Problem Serbiens.
Was mit den Kriegsverbrechen? Kriegsverbrechen sollen und müssen bestraft werden. Das ist klar und unbestreitbar. In einem Bürgerkrieg ist das besonders wichtig. Bis jetzt wurden vorwiegend Serben in Den Haag verurteilt, z. T. drakonisch, und es ist sehr unwahrscheinlich, dass sich das ändern wird. Im Gegenteil, manche überführten Kriegsverbrecher (z. B. aus dem Kosovo) werden nicht nur freigesprochen, sondern ermuntert, dort Politik zu treiben und führende Positionen zu übernehmen. Das wird bei den Serben eine Katharsis bestimmt nicht beschleunigen und bei den anderen übrigens auch nicht.
Dieses Problem hat auch noch einen anderen Aspekt. Am 5. Juni 2004 hat der damalige Kardinal Ratzinger, heute Papst Benedikt XVI., auf dem deutschen Militärfriedhof La Cambe bei Caen in der Normandie über die gefallenen deutschen Soldaten unter anderem Folgendes gesagt: „Es muss uns als Deutsche schmerzlich berühren, dass ihr Idealismus und ihr Gehorsam dem Staat gegenüber von einem ungerechten Regime missbraucht wurden. Aber das entehrt diese jungen Menschen nicht, in deren Gewissen nur Gott hineinblicken kann. Und jeder steht einzeln mit seinem Weg und seinem Sterben vor Gott, in dessen barmherziger Güte wir alle unsere Toten geborgen wissen.“4 Es wäre interessant zu wissen, was die Richter und die Ankläger in Den Haag dazu sagen würden, dass nur Gott in das Gewissen eines Soldaten hineinblicken kann.
Omnia vincit ars – Nadežda Petrović. Am Anfang dessen, was heute klassische Moderne heißt, steht in der serbischen Kunst eine Frau, die Malerin Nadežda Petrović. Sie war eine Pionierin und ist bis heute eine unbestrittene Autorität. Geboren 1873, hat sie in Deutschland studiert, in München, 1898 bis 1903. Deutschland und die deutsche Kultur haben sie in vieler Hinsicht geprägt. Bei Kriegsausbruch 1914 war sie in Italien, aber sie wollte unbedingt zurück nach Serbien, wo sie freiwillig als Krankenschwester beim Heer diente. Enttäuschung und Erbitterung, hervorgerufen durch die österreichische und deutsche Invasion, mögen dabei eine Rolle gespielt haben. Hätte sie ihr Leben für die Malerei aufbewahrt, wäre das nicht nur für die Kunst besser gewesen. Doch ihr Patriotismus war stärker. Sie starb 1915 im Städtchen Valjevo an Typhus.
In demselben Jahr, 1915, erscheint in Berlin das Buch „Mitteleuropa“ von Friedrich Naumann. Der ehemalige Pastor, Mitglied des Deutschen Reichstags, beschreibt ausführlich, wie er sich die neue, vor allem ökonomische Ordnung nach dem deutschen Sieg im Krieg vorstellt. Ähnlichkeiten mit heute will ich hier nicht erwähnen. Im nächsten Kriegsjahr erscheint ein viel kleineres Buch von Naumann, „Bulgarien und Mitteleuropa“, wo u. a. Folgendes zu lesen ist: „Eine mitteleuropäische Militärkonvention muß in ihren Hauptbestimmungen bis ans Ägäische Meer reichen, möglicherweise auch bis in die Türkei hinein. Schon darin liegt, daß das serbische Gebiet nicht als feindliches Kastell innerhalb des mitteleuropäischen Schützengrabenverbandes geduldet werden kann. Ich spreche absichtlich nichts Weiteres über diesen Punkt, solange wir noch mit einer serbischen Armee zu kämpfen haben. Als Volk haben die Serben dasselbe Recht zu existieren wie jedes andere, aber das Recht auf berufsmäßige Friedensstörung darf von den Anwohnern nicht gewährt werden, falls nicht die Zukunft des ganzen Erdteils von neuem in Frage gestellt werden soll.“5 Selbst wenn man das Kriegspropagandistische und Zeitbedingte einkalkuliert und davon absieht, mutet es etwas sonderbar an, so etwas zu lesen. Nirgendwo habe ich je gelesen, dass Engländer, Franzosen, Deutsche oder etwa Amerikaner professionelle Friedensstörer sind. Die Frage ist insofern wichtig, da sich dieser Geist – im zusammenwachsenden Europa – bis heute, 2008, noch fortsetzt. Man sollte jedoch aus Naumanns Zynismus auch lernen, was an ihm richtig ist: „Mag Serbien zertreten sein, erdrückt und erledigt, so verbleibt doch in dem letzten Kinde der Berge ein Rest von Wiederherstellungswillen.“6 Naumann sieht das richtig, wie er auch die Gefahr sieht, die von den „unbefriedigten Nationalitäten“ herrührt. „Das letzte Kind“ in den Bergen ist wirklich noch da.
Genau siebzig Jahre nach dem Tod der serbischen Malerin findet im Sommer 1985 eine große Ausstellung ihrer Werke in der Neuen Pinakothek in München statt. Im Vorwort für einen schönen Katalog schreibt Erich Steingräber treffend: „Nadežda Petrović ist eine Schlüsselfigur der serbischen und jugoslawischen Kunst unseres Jahrhunderts. Entscheidend trug sie dazu bei, die serbische und jugoslawische Kultur an moderne internationale Strömungen anzuschließen. Ihr Ziel war es, nicht epigonal europäische Entwicklungen für ihr Land fruchtbar zu machen, sondern das Gesehene und Gelernte einem eigenen, spezifisch serbischen Ansatz zu integrieren.“7 95.000 Ausstellungsbesucher – enormer Widerhall in der Presse, wo Petrović im Zusammenhang mit Gabriele Münter, Wassily Kandinsky und Alexej von Jawlensky dargestellt wird. Zehn oder zwanzig Jahre später ist eine solche Ausstellung in Deutschland undenkbar.
Noch ein Beispiel: Milutin Milanković ist ein weltberühmter Wissenschaftler, in deutschem Sprachraum geschult, hat auf Deutsch (und Französisch) geschrieben, seit 1909 Professor der Himmelsmechanik in Belgrad. Ein Krater auf dem Mond heißt nach ihm, auch ein Asteroid. Er hat sich in verschiedenen Gebieten ausgezeichnet, sein Hauptwerk gilt aber der Geschichte der Erde und dem Klimawandel. Die erste serbische Übersetzung des Hauptwerks erscheint merkwürdigerweise erst 1997. Hätte Milanković nicht auf Deutsch geschrieben, wäre das alles vermutlich ganz anders gewesen. Die Königliche Serbische Akademie veröffentlicht also auf Deutsch die endgültige Fassung seines Hauptwerkes „Kanon der Erdbestrahlung und seine Anwendung auf das Eiszeitproblem“, Belgrad 1941. Das muss vor Ostern am 6. April 1941 gewesen sein. Ostern?
Ostern. Ja, Ostern 1941 – die Bombardierung Belgrads bzw. Serbiens durch Hitler. Große Zerstörungen, darunter die Nationalbibliothek; Tausende von Zivilisten werden ermordet. Ostern 1944 – Bombardierung Belgrads durch die Alliierten, wieder große Zerstörungen und Tausende von Toten, wobei kaum ein deutscher Okkupationssoldat ums Leben gekommen ist. Nach dem Krieg wird darüber nicht viel gesprochen; welche Zerstörungen größer waren, ist nicht ganz klar. Ostern 1999 – die Bombardierung Belgrads und des ganzen Landes, wieder durch die „Alliierten“ – jetzt ist die Kombination etwas verschieden. Der serbische und der russische Patriarch und selbst der damalige Papst haben appelliert, wenigstens Ostern zu überspringen in einer 78 Tage langen Bombardierung. Die NATO wollte nicht kostbare Zeit verlieren. Auf welchen Tag „fällt“ aber Ostern? Nach julianischem und nach gregorianischem Kalender ist das selten derselbe Tag. Milutin Milanković hat schon 1923 seinen Vorschlag für einen viel genaueren Kalender in Konstantinopel vorgestellt. Die Abweichung ist eine Sekunde in 400.000 Jahren. Das lässt sich ertragen. Bis heute interessiert sich niemand dafür. Bis zu seinem Tode 1958 hat sich der serbische Wissenschaftler gewundert, warum niemand seinen Vorschlag und seine Berechnung in Betracht gezogen hat.
Wo ist Serbien? Serbien ist, war und bleibt in jeder Hinsicht ein europäisches Land, ob in der EU oder nicht. Seit 1804 – Datum des ersten Aufstandes gegen die Osmanen – ist Serbien in Europa. Man lese Leopold Ranke, „Serbische Revolution“, von 1829, wieder eine ausgesprochen deutsche Quelle. Wenn Serbien nicht bald und oder vielleicht nie in die EU kommt, was leicht möglich ist, bleibt es trotzdem europäisch, in diesem Fall als ein guter Nachbar der EU. Das sollte nicht verhindern, dass man Ausstellungen macht, sollte aber jede weitere Bombardierung oder etwas ähnliches verhindern.
Vielleicht wird alles besser gehen, wenn man die EU nicht als ein utopisches Ziel betrachtet, als ein Paradies oder ein Schlaraffenland, weil sie es nicht ist. Die moderne Technik ist universell. Das Geld findet immer seine Kanäle, wenn es schon um Geld geht. In geistigem und kulturellem Bereich bestehen sowieso keine Grenzen. Kunst ist universell, Wissenschaft ist universell.
Fußnoten:
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Kosovo und Metochien (serbisch „Kosovo i Metohija“) ist die offizielle serbische Bezeichnung für die aus der Sicht Belgrads abtrünnige Provinz Kosovo (Anm. d. Redaktion). ↩︎
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Anspielung auf die Beschlüsse der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Helsinki (Schlussakte vom 01.08.1975), u. a. auf die Bekräftigung des Prinzips der Unverletzlichkeit der Grenzen (Anm. d. Redaktion). ↩︎
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Hans Küng: Der Islam. Geschichte, Gegenwart, Zukunft. München 2006, S. 718. ↩︎
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Joseph Ratzinger: Gnade der Versöhnung. In: ders.: Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen. Freiburg 2005, S. 143. ↩︎
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Friedrich Naumann: Bulgarien und Mitteleuropa. Berlin 1916, S. 55. ↩︎
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Ebd, S. 54. ↩︎
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Vgl. dazu Katarina Ambrozić: Nadežda Petrović (1873-1915). Eine Ausstellung des Nationalmuseums Belgrad und der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen in der Neuen Pinakothek, München, 28. Juni-25. September 1985, S. 6. ↩︎