OWEP 4/2008
Schwerpunkt:
Serbien
Editorial
Seit Beginn der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts vollzog sich die mediale Wahrnehmung Serbiens in Europa überwiegend im Zusammenhang von Kriegen und politischen Auseinandersetzungen dieses Landes mit seinen Nachbarstaaten. Diese verstellten häufig den Blick auf ein Land, das eine komplexe Geschichte und Kultur(geschichte) besitzt.
Das vorliegende OWEP-Heft möchte den Leser an dieses Land heranführen und ihm die serbische Identität aus verschiedenen Blickwinkeln näher bringen. Dabei bildet die Kenntnis um die Geschichte des Landes eine wesentliche Grundlage, um gegenwärtige politische Prozesse und Konfliktlagen überhaupt verständlich und beurteilbar zu machen. Besonders die Konflikte – die keineswegs immer von Serbien ausgingen, sondern sich häufig schon allein aus ethnischen Zusammensetzungen verschiedener Regionen ergaben (vgl. Aleksandra Cholewa) – dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich Serbien bis heute als eine Nation in Europa begreift, die einerseits um berechtigten Respekt und Anerkennung kämpft, andererseits mit schwierigen historischen Hypotheken belastet ist, die es aufzuarbeiten gilt. Gerade im Zusammenhang mit dieser Auseinandersetzung um die Frage nach Recht und Gerechtigkeit geben die sehr persönlichen Stimmen von Dragan Stojanović und Vladimir Arsenijević einen eindrucksvollen Einblick in serbische Befindlichkeiten und Stimmungslagen.
Doch Geschichte und Politik allein machen dieses Land nicht aus. Im Gegenteil, manchmal gewinnt man den Eindruck, sie verstellen den Blick auf das Wesentliche, das sich hinter den Kulissen politischer Strukturen und Rasterungen verbirgt und dem meist der Weg in die mediale Öffentlichkeit verwehrt bleibt. Welche Literatur lesen die Menschen in Serbien? Welchem Glauben gehören sie an und wie praktizieren sie ihn? Die Beiträge von Gojko Božović und Radomir Kolundžić können hier nur beispielhaft Konturen aufzeigen. Wie überhaupt dieses Heft nicht in der Lage ist, ein so komplexes Land wie Serbien in seiner Vielfalt widerzuspiegeln. Aber wenn es ihm gelingt, Neugier zu wecken und Motivation zu schaffen, sich mit diesem Land jenseits von Nachrichteninformationen auseinanderzusetzen, dann hat es seine Aufgabe erfüllt.
Die Redaktion
Kurzinfo
Würde ein Journalist in Deutschland Passanten fragen, was sie über Serbien wissen, wären die Antworten vermutlich wenig schmeichelhaft. Kaum ein Land Europas ist hierzulande so wenig bekannt und wird gleichzeitig mit negativen Attributen wie „rückständig“ oder „chauvinistisch“ gekennzeichnet wie das Kernland des ehemaligen Jugoslawien. Wie bei allen Klischees lassen sich diese antiserbischen Stimmen politisch und historisch begründen – sind sie aber in dieser pauschalen Form berechtigt? Haben nicht auch andere Beteiligte in den kriegerischen Auseinandersetzungen in Südosteuropa nach 1989 Fehler begangen? Das vorliegende Heft „Serbien“ kann die vielen offenen Fragen und Probleme natürlich nicht lösen, will aber wenigstens einige Aspekte zu Serbien, einem im Abseits Europas stehenden Land, herausarbeiten, damit sich die OWEP-Leser ein eigenes, möglichst ausgewogenes Urteil bilden können.
Wichtig sind hier wie überall die historischen Wurzeln. Prof. Dr. Holm Sundhaussen, Freie Universität Berlin, vermittelt im Beitrag „Streiflichter aus der Geschichte Serbiens“ einen breiten Überblick über die Geschichte Serbiens bis in die Gegenwart. Ergänzend dazu beschreibt Prof. Dr. Thomas Bremer, Universität Münster, das Verhältnis Serbiens zu seinen Nachbarstaaten, das leider fast durchgängig konfliktbeladen ist.
Die aktuellen politischen Entwicklungen nach den Parlamentswahlen vom 11. Mai 2008 stehen im Mittelpunkt des Artikels von Dr. Nenad Stefanov, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas. Seine Analyse befasst sich darüber hinaus mit dem Parteiensystem und der Rolle der Nichtregierungsorganisationen in Serbien. Auch der in Belgrad lebende Schriftsteller Vladimir Arsenijević beschäftigt sich in seinem Beitrag „Monster & Co.“ mit den Parlamentswahlen und den anschließenden Ereignissen, insbesondere mit der Enttarnung des untergetauchten bosnischen Serbenführers Radovan Karadžić, und der Bewertung der Vorgänge in der EU. Hier wie auch im Essay von Prof. Dr. Dragan Stojanović, Universität Belgrad, halten zwei serbische Intellektuelle dem deutschen (bzw. EU-) Leser einen Spiegel vor. Professor Stojanović geißelt mit scharfen Worten die einseitige Sicht des „Westens“ gegenüber dem „ewigen“ Übeltäter Serbien. Nur wenn alle Seiten zu ihren Fehlern stehen, kann es, wie er hervorhebt, zu einer Verständigung kommen, die es Serbien möglich macht, als gleichberechtigte Nation unter den anderen Völkern Europas zu leben.
Bis heute sind die Wunden der kriegerischen Auseinandersetzungen in Serbien und seinen Nachbarstaaten nicht verheilt. Im Gegenteil, auch dort, wo vermeintlich Ruhe eingekehrt ist, z. B. im Verhältnis zwischen Serbien und Kroatien, ist der Alltag von Problemen gekennzeichnet. Konkret zeigt sich das, wie der Beitrag der in Dubrovnik (Kroatien) lebenden polnischen Journalistin Aleksandra Cholewa zeigt, an der Situation von Serben in Kroatien, die bis heute nicht in ihre Heimatorte zurückkehren können.
Von großer Bedeutung für das Selbstverständnis der Serben ist das Bekenntnis zur Serbischen Orthodoxen Kirche (SOK). Viele Kirchenführer haben im Laufe der Geschichte immer wieder auch politische Aufgaben übernommen, und gerade in jüngster Zeit rückt die SOK als Exponent der serbischen Identität stärker in den Vordergrund. Ausführliche Informationen bietet dazu der Artikel des in Dortmund tätigen serbisch-orthodoxen Priesters Radomir Kolundžić. Ergänzt wird sein Beitrag zur kirchlichen Situation in Serbien durch Prof. Dr. Andrija Kopilović, Prorektor des Instituts für Theologie und Katechese in Subotica, der die ökumenische Situation in Serbien, insbesondere in der Wojwodina, vorstellt. Gerade in dieser Region im Norden Serbiens gibt es seit Jahrhunderten ein friedliches Miteinander von orthodoxen, katholischen und evangelischen Christen.
Abgerundet wird das Heft durch einen Beitrag des in Belgrad lebenden Literaturkritikers Gojko Božović, der einen breiten und ausgewogenen Überblick über die heutige serbische Literatur bietet. Die wichtigsten Fakten zu Land, Politik und Wirtschaft Serbien bietet in knapper Form das von Herbert Schedler, Länderreferent von Renovabis, zusammengestellte Länderprofil „Serbien“. Abgeschlossen wird das Heft mit einem kurzen Beitrag über die Initiative „Jugend denkt Europa“.
Dr. Christof Dahm