Czernowitzer Judentum: ein Mythos am Rande Europas?

aus OWEP 3/2008  •  von Markus Winkler

Dr. Markus Winkler ist Research Fellow am Centre for European and International Studies Research (CEISR) der University of Portsmouth (Großbritannien).

Der Reisende, der diese Stadt besucht, kennt sie schon, bevor er sie erreicht. Im Koffer altes Kartenmaterial, Bildbände und Memorienliteratur, im Kopf ein festes Image des Ortes. Warum konnte gerade dieser Ort einen solch hohen Imaginationsgrad erringen, dass auch seine zahlreichen Beinamen bereits Legende geworden sind? Oder lassen sich die vielen Attribute – „Jerusalem am Pruth“, „Klein-Wien“, „Schweiz des Ostens“, „das zweite Kanaan“ oder „jüdisches Eldorado Österreichs“ – womöglich auch so deuten, dass nach dreißigstündiger Fahrt und 1.215 Zugkilometer von Berlin entfernt, nach obligatorischen Zwischenstationen in Warschau, Krakau, Przemyśl und Lemberg (Lwiw) ein Ort zu finden ist, der nur in Spiegelungen existiert und Konturen gewinnt? Czernowitz – ein Mythos? Interessanterweise sind die genannten geographisch-ideellen Beschreibungen der Stadt zeitgenössische Prägungen aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert und nicht – wie man vermuten könnte – rückwärtsgewandte Utopisierungen. Es sind fast allesamt bildhafte Zuspitzungen, in denen sich zwei Charakteristika der Stadt manifestieren: ein Mikrokosmos der habsburgischen Vielvölkermonarchie und – dies vor allem – eine exponierte Stellung der jüdischen Bevölkerung.

Hier spiegelten sich die mannigfaltigen kulturellen, politischen und religiösen Strömungen des Judentums wider und eine lange Zeit währende deutsch-jüdische Kultursymbiose, die – ebenso wie in Deutschland – spätestens in den 1930er Jahren unterging. Czernowitz steht exemplarisch für die Geschichte der europäischen Juden im 19. und 20. Jahrhundert, ihren gesellschaftlichen Aufstieg und ihre prägende Rolle im Bürgertum. Doch die Geschichte handelt auch vom Zivilisationsbruch und vom „vergessenen Holocaust“, der sich in den Lagern Transnistriens ereignete, wohin zehntausende Juden aus Czernowitz und der Bukowina deportiert wurden und von wo nur wenige zurückkehrten. Diese antagonistischen Erinnerungsbezüge fließen immerzu in die Begegnung mit Czernowitz ein.

Historische Rückblende

Nach ihrer erstmaligen urkundlichen Erwähnung 1408 in einem Vertrag des moldauischen Fürsten mit der Lemberger Kaufmannsgilde (die Stadt feiert am 8. Oktober 2008 ihr 600jähriges Jubiläum) wurden Czernowitz und die Bukowina in den kommenden Jahrhunderten zum Schauplatz politischer und sozialer Metamorphosen und zu einem Spielball europäischer Mächte: Teil des mittelalterlichen Fürstentums Moldau unter osmanischer Herrschaft, nach dem russisch-türkischen Krieg von der österreichischen Krone 1775 annektiert, dem Kronland Galizien einverleibt und 1849 in die Regionalautonomie mit einem eigenen Landtag (1861) entlassen, im Ersten Weltkrieg dreimal von russischen Truppen besetzt, nach 1918 in den Pariser Friedensverträgen Rumänien zuerkannt, 1940/41 im Anschluss an den Hitler-Stalinpakt vorübergehend sowjetisiert (nördliche Bukowina mit Czernowitz), 1941-1944 unter deutscher und rumänischer Besetzung Ghetto und Deportation, nach 1944 Teil der ukrainischen Sowjetrepublik (wiederum nördliche Bukowina) und ab 1991 kleinster Verwaltungsdistrikt (Oblast’) der unabhängigen Ukraine. Die Stadt und ihr Name waren in diesem Zeitraum vielen Wandlungen unterworfen, und es verwundert nicht, dass Czernowitz – Cernăuţi – Черновцы (Tschernowzy) – Чернiвцi (Tscherniwzi) in den nationalen Historiographien zu einem Vexierbild mutierte und – je nach Blickrichtung – bis heute unterschiedliche Lesarten produziert. Doch für die jüdische Bevölkerung stellte dieser Ort – gleichsam „ein Schwarzwalddorf, ein podolisches Ghetto, eine kleine Wiener Vorstadt, ein Stück tiefstes Russland und ein Stück modernes Amerika“ (Karl Emil Franzos) – lange Zeit eine idealtypische Heimstätte dar, in der sie sich emanzipierte, Selbstbewusstsein erlangte und hohe Anerkennung erfuhr.

Czernowitzer Juden und ihr Weg in die Moderne

Doch womit hing der kulturelle, soziale und politische Aufstieg der Juden zusammen, noch dazu an einem Ort, der um 1775 gerade einmal 112 jüdische Familien zählte? Steuererleichterungen und Befreiung vom Militär förderten über Jahrzehnte die Kolonisation, wodurch sich nach und nach in dieser einst bevölkerungsschwachen und wirtschaftsarmen Region eine Infrastruktur entwickeln konnte. Von einschneidender Bedeutung war die Gleichstellung der Juden mit den christlichen Bewohnern der Monarchie durch das Staatsgrundgesetz von 1867 und damit verbunden die Aufhebung aller Besitzbeschränkungen und die Freizügigkeit innerhalb der Staatsgrenzen. Spätestens seit diesem Zeitpunkt waren die Juden dem Kaiser Franz Joseph I. in Treue verbunden, einer Treue, die auch noch in den 1920er und 1930er Jahren bewahrt wurde, und selbst bei den noch lebenden Czernowitzer Juden, der „Generation der Nostalgie“ (Marianne Hirsch), bis heute nachwirkt. Keine andere Volksgruppe stand in dieser Weise stellvertretend für den übernationalen österreichischen Staatsgedanken, der die Monarchie lange Zeit wie ein Bindemittel zusammenhielt, ehe er mit dem Ersten Weltkrieg unterging.

Die neue Freizügigkeit fiel in eine Zeit der Modernisierungsprozesse des Landes. Und diese Prozesse waren generell mit Zuwächsen an Bevölkerung, Bildung, Industrie und Verkehrswesen verbunden. Die Zahl der jüdischen Bevölkerung in der Bukowina und in Czernowitz stieg enorm. Sie wuchs in der Bukowina von 67.418 (1880) und 96.135 (1900) auf 102.900 (1910). 1910 lebten in Czernowitz 28.613 Juden, die mit rund 32 Prozent die relative Mehrheit der Stadtbevölkerung bildeten. Und 1930 hatte die Stadt mit 47 Prozent einen jüdischen Bevölkerungsanteil wie kaum eine andere in Europa.

Sichtbare äußerliche Zeichen der Modernisierung und urbanen Entwicklung waren die neuen Bauwerke. Die Gründung der östlichsten deutschsprachigen Universität der Monarchie (1875), das Neue Stadttheater (1905), die um die Jahrhundertwende entstehenden rumänischen, deutschen, ukrainischen, polnischen und jüdischen Nationalhäuser (bis 1910) prägten das Selbstbewusstsein einer in Randlage lebenden, sich jedoch stets am Zentrum der Habsburgermonarchie orientierenden Bevölkerung, deren Alltagsleben auch durch ein wachsendes städtisches Versorgungssystem – Einführung der Straßenbahn (1897), Bau von Kanalisation und Wasserleitungen oder die Installierung elektrischer Beleuchtung – erleichtert werden konnte. Der Blick ging immer nach Westen, nach Wien.

Ein engmaschiges Wohlfahrts- und Bildungswesen entstand in dieser Zeit, ein jüdisches Krankenhaus, Synagogen und Bethäuser, eine israelisch-deutsche Schule und Bibliotheken wurden von der Israelitischen Kultusgemeinde unterhalten. Viele private Initiativen, Vereine und Zeitungen strukturierten eine jüdische Öffentlichkeit, in der sich die Assimilierten, Zionisten, Sozialisten (Bundisten) und Orthodoxen wiederfanden. Bildung wurde groß geschrieben.

Stadt der Sprachen

Auch wenn die häufig kolportierte friedliche Koexistenz der Völker in der Bukowina und der Landeshauptstadt Czernowitz bereits vor 1914 nicht der Realität entsprach, so hatte die relativ gleichmäßige Verteilung der jüdischen, deutschen, rumänischen, ruthenischen (ukrainischen) und polnischen Bevölkerung stets eine ausgleichende Wirkung. Entscheidungsprozesse im Landtag konnten nur im Konsens gelingen, und bisweilen lagen die Beschlüsse sogar konträr zu den Vorgaben der Wiener Behörden, als beispielsweise die Juden in der Bukowina nicht nur als israelitische Konfession, sondern formell als nationale Gruppe anerkannt werden sollten – eine einzigartige Sonderstellung in der Habsburgermonarchie. Nach altösterreichischem Nationalitätenrecht war der nationale Status ausschließlich jenen Völkern vorbehalten, die sich einer der neun in der Monarchie anerkannten Umgangssprachen bedienen konnten. Da Jiddisch nicht als eigenständige Sprache galt (obwohl Czernowitzer Juden gerade dies zu beweisen versuchten und dafür um 1909 in Wien prozessierten) und Hebräisch fast ausschließlich als Sakralsprache in Erscheinung trat, wurden die Juden stets der deutschen Volksgruppe zugeteilt. Doch zweifelsohne beförderte gerade die Anknüpfung an die deutsche Kultur und Sprache einen urbanen Aufstieg großer Teile der jüdischen Bevölkerung in die Verwaltungspositionen und freien Berufe.

Deutsch, Rumänisch, Ukrainisch, Jiddisch, Polnisch, Ungarisch, Armenisch und Russisch, auch Hebräisch in einigen Schulen und in den Synagogen ergaben hier zu österreichischen und rumänischen Zeiten einen Sprachenklang ohne babylonische Verwirrung. Denn Deutsch blieb bis 1940 lingua franca der Stadtbewohner, auch wenn die Rumänisierung nach 1918 zu einer neuen Schul- und Verwaltungssprache führte. In Gesprächen mit Zeitzeugen lässt sich die Erkenntnis gewinnen, dass von Generation zu Generation die Sprache in vielen jüdischen Familien verdeutscht wurde, denn der gesellschaftliche Aufstieg war mit der deutschen Sprache verbunden, die in dieser Region weitab vom Zentrum der Monarchie ein Inseldasein führte. Auch das erklärt die Zuneigung zur deutschen Sprache und Kultur, die mit positiven Werten besetzt war. Nur vor diesem Hintergrund kann man halbwegs ermessen, was es für die Juden bedeutet haben muss, in ihrer Sprache und der „Sprache der Mörder“ zugleich nach dem Zweiten Weltkrieg weiter zu leben und zu denken, noch dazu für die dieser Region zahlreich entstammenden Dichter und Schriftsteller. Die Lyrikerin Rose Ausländer verstummte wie viele andere über Jahre hinweg, schrieb Gedichte auf Englisch, ehe sie wieder in ihre Muttersprache zurückfand. Und Paul Celan widmete 1944 seiner ermordeten Mutter, wissend um sein fortan niemals widerspruchsfreies Schreiben und Denken in deutscher Sprache, die Zeilen: Und duldest du Mutter, wie einst, ach, daheim / den leisen, den deutschen, den schmerzlichen Reim? („Nähe der Gräber“).

Czernowitz/Tscherniwzi heute

Noch leben in Czernowitz/Tscherniwzi Menschen, die vier Staatsbürgerschaften besaßen und doch niemals den Wohnort gewechselt haben. Nur wenige sind es unter den 254.000 Einwohnern, die heute hinter Fassaden wohnen, die die architektonischen und damit auch geschichtlichen Zäsuren der Vergangenheit und Gegenwart reflektieren. Im alten Stadtkern fast unverändert und teilweise restauriert habsburgisches Fin de siècle und rumänischer Konstruktivismus, in der Neustadt die sowjetisch geprägten Trabantensiedlungen mit einem eigenen Organismus und einem Netz von Straßennamen, die Zeugnis ablegen von einem gewesenen Kapitel ideologischer Erstarrung und heutzutage angesichts von Raubtierkapitalismus und Konsumfreudigkeit fast wie Epitaphe oder Abgesänge auf eine Welt von gestern anmuten: Straße der Roten Armee, Straße der Enthusiasten, Straße der Moskauer Olympiade. Selbst die Spuren der Neuzeit sind schon zu erkennen. Am Stadtrand liegen die von vermögenden Ukrainern errichteten Einfamilienhäuser – teilweise mit schlichten Fassaden, doch bisweilen auch mit übertriebenem Ornament und zahlreichen Türmchen verziert und ins Märchenhafte stilisiert (der ukrainische Volksmund nennt diese Ansiedlung spöttisch „Beverly Hills“) – Ausstellungsstücke der neuen Zeitrechnung.

Hat das ukrainische Tscherniwzi auch eine jüdische Gegenwart angesichts des Bevölkerungsaustauschs seit den 1940er Jahren? Kurz nach Kriegsende konnten Juden noch nach Rumänien ausreisen und von dort nach Israel emigrieren. Einige kehrten nach Jahrzehnten aus Sibirien zurück, wohin sie 1940 vom sowjetischen NKWD deportiert worden waren oder auch flüchteten, so wie Josef Burg, 96jährig und fast erblindet, letzter Überlebender jener jiddischsprachigen Autorengeneration der Zwischenkriegszeit, die mit Itzig Manger, Elieser Steinbarg oder Moshe Altman der Sprache zur Blüte verhalf. Einige haben fast ihr ganzes Leben in dieser Stadt verbracht, so wie Rosa Zuckermann (1908-2002), dem Publikum hierzulande auch bekannt geworden durch den erfolgreichen Dokumentarfilm „Herr Zwilling und Frau Zuckermann“ (1999). Ihr volles Berufsleben lang hatte sie als Sprachlehrerin gearbeitet. Auch das gab es im Sprachenreich Czernowitz: Französisch und Englisch an der Schule und der Universität zu erlernen und später zu unterrichten, denn fast alle anderen „Fremdsprachen“ hatten die Bewohner bereits auf der Straße erworben. Sie war eine Zionistin und Monarchistin zugleich, denn es war in Czernowitz kein Widerspruch, den Aufbau Erez Israels, des „gelobten Landes“, zu unterstützen und den österreichischen Kaiser zu verehren. Sie – eine Zeitzeugin, in einer Wohnung mit klassischen Werken der deutschen Literatur, mit Büsten des Kaisers und Porzellanteller mit Sissibild, bot dem Verfasser in vielen nachmittäglichen Gesprächen Einblicke in ihr Leben: „Ich bin Jüdin, so wie früher. Ich habe viele Leben gelebt, ein österreichisches, ein rumänisches, ein staatenloses und allen Gewalten des Schicksals ausgeliefertes, ein sowjetisches und jetzt ein ukrainisches Leben. Sterben werde ich als Jüdin, und auf dem jüdischen Friedhof von Czernowitz werde ich begraben sein.“ Wer dem unerschütterlichen Optimismus dieser Frau und ihrer Lebenskraft je begegnete, hatte eine Lektion für das Leben gelernt.

Viele haben die Stadt nach 1991 verlassen. Auf 3.000 schätzt man die Zahl der Juden, die heute hier leben und zum überwiegenden Teil Russisch sprechen. Die Mittelschule Nr. 41 ist die einzige jüdische Schule. Sie nimmt auch Nicht-Juden auf, um den Schulbetrieb am Laufen zu halten. Die Vermittlung jüdischer Traditionen und zwei bis drei Stunden Hebräisch stehen auf dem wöchentlichen Unterrichtsplan. Um die Alten und Hilfsbedürftigen kümmern sich einige Vereine. Der Wohltätigkeitsverein „Chessed Schuschana“ kann mit Unterstützung des Joint (American Jewish Joint Distribution Committee) eine medizinische Versorgung gewährleisten. Täglich versammeln sich rund sechzig alte Juden zum kostenlosen Mittagessen im Restaurant Tscherniwtschanka. Hausbesuche erleichtern den Bettlägerigen den Alltag. Und in der einzig verbliebenen Synagoge in einer Stadt, die einst den Israelitischen Tempel, die Große Synagoge und siebzig Bethäuser beherbergte, hofft Rabbiner Noah Kaufmansky, einen Minjan (d. h. „Zahl“) bilden zu können, um mit mindestens zehn jüdischen Männern den Gottesdienst zu zelebrieren. Alle anderen Gotteshäuser waren von den sowjetischen Behörden zweckentfremdet und als Boxhalle oder Kinosaal entweiht worden.

Doch auch neue Initiativen entstehen. Ein kleiner Museumsraum wird demnächst im ehemaligen jüdischen Nationalhaus, einem prachtvollen Gebäude am Theaterplatz, eingerichtet, der die Kultur, Religion, Politik und den Alltag des Czernowitzer Judentums bis 1940 erfasst. Die 1905 erbaute Zeremonienhalle am Eingang des jüdischen Friedhofs, mit rund 50.000 Gräbern einer der größten Europas, soll in den kommenden Jahren vor dem Verfall gerettet und restauriert werden. Und Bürgermeister Mykola Fedoruk bemüht sich seit Jahren darum, das Erbe der Stadt zu bewahren, auch um einem hoffentlich sanften Kulturtourismus den Weg zu ebnen. Kooperationen gibt es zahlreiche, so beispielsweise eine „International Summer Academy of Architecture“, ein Gemeinschaftsprojekt deutscher, österreichischer, rumänischer und ukrainischer Universitäten, in dem 2006 städtebauliche Konzepte für Czernowitz erarbeitet und vorgestellt wurden. Es ist eine Entdeckung des alten Kulturraums und seine Einbettung in den sozialen Raum der Gegenwart. Vielleicht werden hier erste Spuren gesetzt, in die es sich einzutreten lohnt. Der Titel des Projekts klingt vielversprechend: „Czernowitz tomorrow – Ideas for the City of Chernivtsi“.


Literaturhinweise:

  • Rose Ausländer: Immer zurück zum Pruth. Ein Leben in Gedichten. Frankfurt (Main) 1989.

  • Andrei Corbea-Hoisie: Czernowitzer Geschichten. Über eine städtische Kultur in Mittel(Ost)-Europa. Wien (u.a.) 2003.

  • Markus Winkler: Jüdische Identitäten im kommunikativen Raum. Presse, Sprache und Theater in Czernowitz bis 1923. Bremen 2007.