Europäische Werte – die Grundlage für die Zukunft Europas
„Die Völker Europas sind entschlossen, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer engeren Union verbinden. In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität.“
So beginnt die Präambel der Charta der Grundrechte. Die darin verbrieften Rechte lassen sich auf die Präambel und den darin ausgedrückten unerschütterlichen Grundsatz der Humanität, der seinen Ursprung im christlichen Menschenbild findet, zurückführen. Nach der Ratifizierung des am 13. Dezember 2007 in Lissabon von allen Staats- und Regierungschefs der EU unterschriebenen Reformvertrags werden die Rechte, die die Charta der Grundrechte enthält, verbindlicher Bestandteil des europäischen Rechts. Für viele Gründer der Europäischen Gemeinschaften war die christliche Prägung der europäischen Einigung eine unbezweifelbare Tatsache. Auf dieser Grundlage engagierten sie sich für die europäische Einigung mit dem Ziel, dem Kontinent Frieden zu bringen, die Teilung Europas zu überwinden und das Wohlergehen der Menschen zu fördern. Fundament dieser Ziele waren und sind gemeinsame europäische Wertvorstellungen, deren Kern der Respekt der Menschenwürde ist.
Der spanische Philosoph Ortega y Gasset sagte Anfang des letzten Jahrhunderts, vier Fünftel unserer geistigen Habe seien europäisches Gemeingut, und vergleicht man die verschiedenen europäischen Länder, muss man erkennen, dass unsere wesentlichen Werte und Interessen identisch sind. Die Mitglieder der Union verbindet das aus dem Christentum erwachsene Menschenbild. Sie bildet damit eine Wertegemeinschaft. Das geistige und kulturelle Erbe Europas ist eine Kombination aus griechischer Philosophie, römischem Recht, Christentum, Humanismus und Aufklärung. Die Europäische Union verbindet der Respekt der Freiheit und der Eigenverantwortung, der Würde des Menschen, der Solidarität, der Gerechtigkeit, der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie. Diese Werte müssen durch unsere demokratischen Institutionen geschützt werden.
Die Gemeinsamkeit, die das in Vielfalt vereinte Europa ausmacht, muss das Fundament der Union bleiben, denn die Identifizierung mit der gemeinsamen europäischen Politik und mit der europäischen Idee kann nur gelingen, wenn die Bürgerinnen und Bürger der EU die Verbindung spüren. Dabei ist die Identifizierung mit den Zielen eine Sache des Kopfes, die Identifizierung mit den Werten und der Idee hinter der Europäischen Union dagegen eine Sache des Herzens. Es sind zwei Seiten derselben Medaille, gewachsen auf unserer gemeinsamen Kultur und gemeinsamen Geschichte. Ohne die Überzeugung, dass uns Europäer mehr eint als uns unterscheidet, hätte die Europäische Union auf lange Sicht keine Zukunft.
Für die weitere Integration der immer engeren Union ist es nötig, auf einen festeren soziokulturellen Zusammenhalt aller EU-Mitglieder hinzuarbeiten. Nur so kann politische, wirtschaftliche und soziale Solidarität innerhalb Europa funktionieren.
Die Ziele der Reform der Europäischen Union sind eindeutig: Die Europäische Union sollte nicht nur im institutionellen Sinne handlungsfähig sein, um neuen Herausforderungen begegnen zu können. Es sollte auch klar sein, auf welchen Werten die Union aufbaut, wofür sie steht und welche Ziele sie verfolgt. Dieser Anspruch galt für die Union in ihrer Gesamtheit, aber auch – in besonderem Maße – für die einzelnen Bürger. Den in der Charta der Grundrechte verbrieften Werten kommt diesbezüglich ein entscheidender Stellenwert zu. Die Europäische Union zeigt damit erneut, dass sie längst keine wirtschaftliche Zweckgemeinschaft mehr ist, sondern ein Raum, der ein gemeinsames Leben ohne Grenzen in Frieden, Freiheit und Wohlstand ermöglicht.
Um das Projekt der EU nicht zu gefährden, ist es nun vor allem erforderlich, dass sich die Union konsolidiert und konzentriert. Nach der letzten EU-Erweiterungsrunde, die mit der Aufnahme Kroatiens ihren Abschluss finden wird, müssen wir Europäer uns darüber klar werden, in welche Richtung sich die EU entwickeln soll. Die EU-Erweiterung darf weder Automatismus werden, noch darf sie der einzige Mechanismus sein, um über die Grenzen der EU hinaus Frieden und Wohlstand zu gewährleisten. Der EU-Vertrag besagt eindeutig, dass nur europäische Staaten Mitglieder der Union sein können. Damit kann wiederum nicht nur die geographische Lage gemeint sein. Vielmehr spielt auch in dieses Erfordernis die Identifizierung mit unseren gemeinsamen Werten hinein. Der innere Zusammenhalt der Union muss gestärkt werden. Eine Überdehnung würde den inneren Zusammenhalt gefährden. Nach der Aufnahme Bulgariens und Rumäniens, die nach heutigen Erkenntnissen Anfang 2007 nicht für den Beitritt bereit waren – noch immer gibt es große Defizite bei der Bekämpfung von Korruption und im Justizwesen – muss die Union aus ihren Fehlern beim Aufnahmeverfahren lernen.
In der internationalen Wahrnehmung wird ein auch im Geiste geeintes Europa seine Verantwortung besser wahrnehmen können. Zu oft gelingt es, dass kurzfristige nationale Interessen ausgenutzt werden, um langfristig sinnvolle europäische Politiken zu untergraben. Eine von den EU-Bürgerinnen und -Bürgern getragene gemeinsame Politik würde dies schwieriger machen. Die EU ist unsere Antwort auf viele der aktuellen Herausforderungen wie Klimawandel, Energiesicherheit, Kampf gegen Terrorismus und organisiertes Verbrechen oder Immigration. Wir Europäer müssen aber noch lernen, das enorme politische Potenzial der Union entsprechend unseren Möglichkeiten zu nutzen.
Die Präambel der Charta der Grundrechte verweist auf das „geistig-religiöse und sittliche Erbe“ des Kontinents, um ihre Prinzipien zu begründen. Nun hatte ich als christlich-demokratischer Vertreter bei den Beratungen zur Charta während des Verfassungskonvents gerne einen unmittelbaren Gottesbezug in der Charta festlegen wollen. Meine Vorstöße hatten zwar eine Mehrheit, fanden aber wegen anderer Traditionen oder Denkweisen in einigen Mitgliedsstaaten und politischen Kräften keinen Konsens. (C) Auch wenn Gott nicht ausdrücklich erwähnt wird, steht jedoch eines fest: Die Charta baut ganz wesentlich auf dem christlichen Menschenbild auf, das von der Würde des verantwortungsbewussten Individuums geprägt ist und in Europa durch die Lehre der Bibel im Verlauf der Jahrtausende verbreitet wurde.
Insbesondere stellt der Reformvertrag auch einen wesentlichen Schritt für die Anerkennung der Bedeutung der Kirchen in der EU dar. So heißt es in Artikel 17: „(1) Die Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedsstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht ... (3) Die Union pflegt mit diesen Kirchen und Gemeinschaften in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog.“
Obwohl es nicht schriftlich festgelegt wird, sind die geistigen Wurzeln der Rechte, die die Charta in sich trägt, in den Grundwerten und Prinzipien des Christentums zu finden. Die Charta legt den Grundstein für ein werteorientiertes und sozial gerechtes Europa, indem sie den Bürgern – ohne der EU neue Kompetenzen zu verleihen – umfassende Rechte im Bezug auf die europäische Gesetzgebung und deren Implementierung verleiht; sie schützt die Religions- und Meinungsfreiheit; sie schützt den Status der Kirche, der Ehe und der Familie; sie schützt vor Irrwegen der modernen Wissenschaft. Dabei regelt die EU nicht das Familien- oder Eherecht – dies muss in der Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten bleiben – sie garantiert vielmehr, dass durch europäische Gesetze diese wichtigen Bereiche nicht verletzt werden dürfen.
Mit dem Reformvertrag von Lissabon bekommt die Charta die volle Rechtsverbindlichkeit. Die Europäische Union verfügt damit endlich über einen der modernsten und umfassendsten Grundrechtskataloge, der wesentlich auf unserer christlichen Herkunft aufgebaut wurde – dazu gehört auch die Begrenzung moderner Wissenschaft, wenn sie der Würde des Menschen entgegensteht (z. B. Klonen).
Die Mitglieder der EU teilen das aus dem Christentum erwachsene Menschenbild, das Freiheit, Frieden, Toleranz und die Menschenrechte als Grundprinzipien der menschlichen Gesellschaft wahrnimmt. Der Respekt vor der Menschenwürde sowie die katholische Soziallehre, derzufolge das verantwortungsbewusste Individuum nach dem Gemeinwohl streben soll, sind zudem die Grundlagen zur Förderung moderner politischer Konzepte, die den Kern der Demokratie bilden: der Schutz der Rechtsstaatlichkeit, die Solidarität und die Subsidiarität.