Eine vergessene Gegend Europas: Die Berge des Piemont
Die italienische Region Piemont (vom Lateinischen „ad pedes montium“, „zu Füßen der Berge“) umfasst 25.400 km² Fläche mit ca. 4,3 Millionen Einwohnern und bildet mit der Hauptstadt Turin (Ballungsraum: 1,7 Millionen Einwohner) das industrielle Herzland Italiens. Die Bergregionen im Norden und Westen (bis über 4.000 Meter aufsteigend) sind hingegen wirtschaftlich zurückgeblieben; auch der Tourismus steckt erst in den Anfängen. Dort leben auch Restgruppen der im Mittelalter zugewanderten Walser, die zum Teil noch einen schweizerischen Dialekt („Tittschu“) sprechen.
Ab Mitte der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts wurde in Norditalien ein rund fünfzig Tagesetappen langer Fernwanderweg durch den Bogen der Westalpen angelegt, die Grande Traversata delle Alpi (GTA, „Große Alpendurchquerung“). Er beginnt am Griespass an der Schweizer Grenze und führt vorwiegend auf Höhen zwischen 900 und 1.800 Metern durch die Walsertäler am Monte Rosa und Gran Paradiso vorbei und dann durch die Grajischen und Cottischen Alpen und die Seealpen, um schließlich am Ende der Ligurischen Alpen bei Ventimiglia am Mittelmeer zu enden. Mit der Anlage des Wanderwegs durch abwechslungsreiche, zauberhafte und weithin leere Landschaften hatte man beabsichtigt, diese vergessene, zunehmend aussterbende Region durch einen sanften Tourismus zu beleben. Die Wanderung führt im Wesentlichen über uralte Hirten- und Maultierpfade, die man wiederherstellte, miteinander verknüpfte und in bestimmten Abständen mit Übernachtungsmöglichkeiten versah. Im ersten Jahrzehnt erfreute sich der Weg namentlich bei deutschen Bergwanderern einiger Beliebtheit; inzwischen ist das Interesse spürbar zurückgegangen.
Bereits im Herbst 1995 bin ich auf einer der ersten Etappen in dieser wunderbaren Gegend hängen geblieben und habe mir auf 1.400 Meter Höhe in einem leer stehenden, verfallenen Dorf (20 Häuser, eine Kirche) ein verfallendes Haus erworben und im Laufe etlicher Jahre ausgebaut. Damals erzählten mir meine Nachbarn, die alten Leute im Dorf gute hundert Meter darunter (50 Häuser, 18 ständige Einwohner), voller Freude, sie seien auch „Deutsche“. Es stellte sich heraus, dass sie „Tittschu“ sprachen, einen schweizerischen Dialekt, der sich seit dem 13. Jahrhundert fast nicht mehr verändert hatte. So kam ich mit der interessanten Geschichte der Volksgruppe der Walser in Berührung, die vor fast 800 Jahren die Gebirgsgegend im oberen Sesia- und Aostatal besiedelten. Unglaublich viele verfallende „Alpen“ – Gruppen von Häusern aus dicken Trockensteinmauern und mit Granitplatten-Dächern – in großer Höhe und in steilen Lagen erinnern an eine ehemals dichte Besiedlung.
Die Walser waren auf der Suche nach neuen Existenzmöglichkeiten von der Schweiz her über die Berge gezogen und hatten in den Regionen zwischen 1.000 und 1.800 Metern Höhe ihre Wiesen und Felder angelegt. Im zeitweise wärmeren Klima des Mittelalters hatten sie dort sogar Roggen anbauen können. Als es wieder kälter wurde, führten sie das System der „transhumanza“ ein, um die Gebirgsflächen optimal nutzen zu können: Sie überwinterten mit ihrem Vieh in ihren Dörfern auf 1.000 bis 1.200 Meter Höhe, zogen im Frühjahr auf eine „Alpe“ in 1.400 oder 1.500 Meter Höhe um, in den wärmsten Sommermonaten auf eine weitere „Alpe“ in 1.800 oder 1.900 Meter Höhe, im Herbst die gleichen Stationen wieder zurück.
Der Kontakt der Bergbauern zur italienisch sprechenden Bevölkerung in der Ebene war Jahrhunderte lang gering. Eine Straße von der Stadt her, die 30 Kilometer von „meinem“ Dorf entfernt und 1.000 Meter tiefer liegt, wurde erst 1886 bis auf 1.100 Meter hinauf geführt; 1988 erst bis zum Dorf unter mir. Für die steilen letzten hundert Höhenmeter gibt es bis heute nur den alten Bergsteig. Infolge dieser Isolation haben sich bis vor wenigen Jahrzehnten etliche Sprachinseln erhalten können, die aber in den beiden letzten Jahrzehnten fast verschwunden sind. Sprachwissenschaftler haben in jüngster Zeit etliche Dialekte noch rasch archiviert. Bald nach der Errichtung des Königreichs Italien im Jahr 1861 waren im Zuge einer rigorosen Verwaltungsreform alle alten Familien- und Ortsnamen italianisiert worden; das Italienische wurde Amtssprache. Auch auf den Bergen kam das in Gebrauch, Tittschu blieb aber bis in die sechziger Jahre Umgangssprache.
Das Piemont, das Land „ad pedes montium“, „zu Füßen der Berge“, ist mit 25.400 Quadratkilometern Fläche nach Sizilien die zweitgrößte Region Italiens und zählt heute zu den reichsten und am besten industrialisierten: In der Hauptstadt Turin bauen Fiat und Lancia ihre Autos, in Alba sitzt der Lebensmittelproduzent Ferrero, in Ivrea der Elektronikhersteller Olivetti. Zudem ist es das größte Reisanbaugebiet Europas. Aber das alles spielt sich im Tal ab; die Menschen auf den Bergen ringsum haben davon kaum etwas mitbekommen. Hier ist die Zeit stehen geblieben.
Das Leben der Bergbauern in dieser Gegend war immer sehr karg. Die Hänge sind steil; in aufwändiger Arbeit wurden viele hohe Trockensteinmauern errichtet, um Terrassen für Gärten anzulegen. Ein paar Tiere – Kühe und Ziegen, vielleicht ein Schwein – und kleine Äcker konnten kaum die Familien ernähren. Deshalb ging ein Großteil der Männer bereits seit Jahrhunderten auf Wanderarbeit. Von Frühjahr bis Herbst versorgten die Alten, Frauen und Kinder die Landwirtschaft, während die Männer in den Reisanbaugebieten in der Poebene und in der Schweiz, in Frankreich und Deutschland Geld verdienten. Aus den Bergen des Piemont kamen namentlich viele Stuckateure, Kirchenmaler und Maurer. Sie müssen zum Teil recht gut verdient haben, denn auch zuhause bauten sie stattliche Häuser. Man kann noch heute überall die zahlreichen vier- oder fünfstöckigen Häuser bestaunen, die hoch oben an steilen Hängen auf winzigen Plateaus kleben und zum Teil noch Spuren ihrer kunstvollen Bemalung tragen. Außerdem erhielt jeder kleine Weiler seine eigene Kirche und dazu gleich noch ein paar Kapellen längs der Wege, alle einst kunstvoll ausgemalt.
Datumsinschriften an Kirchen und Wohnhäusern verraten, dass diese Gegend gegen Ende des 19. Jahrhunderts ihre letzte Blüte erlebte. Dann setzte rasch der Zerfall ein. Bis 1911 war aus dem Bezirk, in dem ich wohne, bereits ein Fünftel der Bewohner ausgewandert. Nach und nach wurden immer mehr Alpen aufgegeben. „Mein“ Dorf auf 1.400 Meter Höhe war das höchstgelegene, das ganzjährig bewohnt war. Es stand seit den sechziger Jahren leer. Das große Dorf unter dem meinigen hatte bis zu 200 Einwohner, einen eigenen Pfarrer und eine Grundschule. Den Pfarrer gibt es längst nicht mehr, die Grundschule wurde 1975 geschlossen. 2008 hat das Dorf noch 14 ständige Einwohner, davon eine Familie mit zwei Kindern, deren Grundschule 20 Kilometer entfernt im Tal liegt. Wer kann, bringt die Kinder während der Woche bei Verwandten im Tal unter. Die Wochenenden verbringen sie dann als einzige Kinder unter einer Handvoll alter Leute in ihrem weit abgelegenen Dorf – spätestens für Teenager ein Intensivkurs in „Verdruss am Leben im Gebirge“. Nach dem Schulabschluss gibt es für sie vor Ort keine Erwerbsmöglichkeiten. Täglich dreißig, vierzig Kilometer bis zu Arbeit zu fahren, ist heutzutage zwar nichts Unzumutbares mehr; aber dabei auf Serpentinen tausend Höhenmeter bis ins Tal zu überwinden, ist noch einmal etwas anderes, namentlich im Winterhalbjahr. So wandern fast alle Jüngeren ab und siedeln sich in den Tälern an, wo sie nicht nur Arbeit, sondern auch alle Vorzüge eines heutigen Lebens finden, vom rasch erreichbaren Einkaufszentrum und Arzt bis zum breiten Spektrum von Freizeitangeboten. Die heute aus einem guten Dutzend kleiner Dörfer bestehende Gesamtgemeinde zählte 1900 1.232 Einwohner; 2004 waren es noch 142.
In den letzten dreizehn Jahren war die weitere Schrumpfung deutlich spürbar. Das kulturelle Brauchtum und kirchliche Leben dieser Region sind dem Verfall preisgegeben, sogar das soziale und womöglich auch genetische. Es gibt auffallend viele ledige Männer und Frauen mittleren Alters; nicht wenige Männer finden im Alkohol Trost. Die paar Alten in den Dörfern kommen untereinander kaum zusammen oder sind sogar zerstritten. Selbst Ostern und Weihnachten sind normale Arbeitstage, die sich in nichts von den Werktagen unterscheiden. Ein katholischer Pfarrer ist für sechzig Kirchen und Kapellen in zwei Tälern zuständig. Er hält an zwei Hauptorten schlecht besuchte Sonntagsgottesdienste und in jeder der anderen Kirchen und Kapellen zum Patrozinium eine Messe. Man spürt, dass er mit Überzeugung und Herz für die Menschen engagiert ist, aber die Gottesdienste sind kläglich; gemeinsame Lieder gibt es kaum.
Offensichtlich ist es versäumt worden, diese ganze Region rechtzeitig ins Zeitalter der Industrialisierung zu überführen, wie das in Bergregionen anderer Länder einigermaßen gelungen ist, namentlich in der Schweiz. Hier hingegen haben sich Organisation und Arbeitsmethoden des Mittelalters so gut wie nicht geändert. Die wenigen verbleibenden Familien, die noch Kühe und Ziegen halten, haben ihre Bestände aufgestockt, weil es pro Tier einen Zuschuss von der EU gibt. Sie mähen die Hangwiesen zum Teil noch von Hand und tragen das Heu in riesigen Säcken heim. Sie stellen zum Teil sehr guten Käse her, ohne ihn recht vermarkten zu können. Manche scheinen ihre Kühe und Ziegen gar nicht mehr zu melken, sondern von den Zuschüssen der EU und vom Verkauf der Tiere zu leben. Die Zahl der Bergbauern schrumpft weiterhin rapide. Besonders augenfällig wird das daran, dass die Berghänge zunehmend verbuschen. Der Wald, den die Walser vor 800 Jahren rodeten, kehrt zurück. Wege, künstliche Wasserkanäle und Ruinen verschwinden im Dickicht.
2001 wurde ein dicker Farbbildband neu aufgelegt, in dem das Leben und der Alltag der Walser aufwändig dokumentiert werden. Für den Fotografen stellte man dazu zahlreiche frühere Alltagsszenen nach. Der Band trägt den Titel „Lassù gli ultimi“, „Da oben die Letzten“. Seinen pathetischen Titel kann man als Motto über die verblüffende Fülle von Publikationen stellen, die seit einem Jahrzehnt über die Walser auf den Markt kommen: Bildbände, Ortsgeschichten, Spezialstudien, Sprachforschungen, Kalender. Es ist paradox: Seit die Kultur der Walser so gut wie erloschen ist, findet sie großes Interesse. Der Hauptort, zu dem „mein“ Dorf gehört, ist sogar Sitz eines „Zentrums für Walserstudien“, das alljährlich eine Zeitschrift mit historischen Spezialuntersuchungen und Bildmaterial über die Gegend herausgibt. Man hat die alte Tracht der Walser wieder hervorgeholt; eine größere Gruppe von Männern und Frauen tritt bei verschiedenen Anlässen darin auf, etwa am Patrozinium oder Hauptfest der Kirche, bei traditionellen Festen und vor allem auch am „Internationalen Walsertreffen“, das alle paar Jahre in der Schweiz oder in Italien stattfindet.
Das Eigenartige an dieser Renaissance der Walser-Kultur ist, dass sie nicht von den vor Ort Lebenden getragen wird, sondern im Wesentlichen von den „oriundi“, den „Abstammenden“, also den Nachfahren der Bergbewohner, die oft schon in zweiter oder dritter Generation in Turin, Mailand und anderen Städten bis nach Ravenna und natürlich auch überall im Tal weit verstreut leben. Akademiker und Geschäftsleute in ganz Norditalien haben ihre Walser-Wurzeln entdeckt und stellen ein ganzes Programm auf die Beine, um sie vor Augen zu führen: Studien, Vorträge, Ausstellungen, Kongresse, die gut besucht sind, aber nur von wenigen aus den fast leeren Bergdörfern. Zum Gemeindefest des Dorfes unter mir alljährlich am 14. August kommen bis zu 150 Besucher, aber nur etwa die Hälfte der heute 14 Einwohner.
Wer die Dörfer unterhalb von ungefähr 1.400 Metern – also die ganzjährig bewohnbaren; die anderen sind meistens verfallen – besucht, wird weithin feststellen, dass sie baulich überraschend gut intakt sind. Unter den fünfzig Häusern des Dorfes unter mir gibt es höchstens drei oder vier Ruinen. Bei den meisten anderen sind alle Türen und Läden geschlossen, aber sie wirken nicht vernachlässigt. Zunehmend wird beinahe in jedem Ort renoviert und gebaut. Maurer, die sich auf die Arbeiten an den traditionellen Häusern verstehen, sind gefragt. Meistens sind die Häuser noch im Besitz der „oriundi“, die an ein paar Wochenenden im Jahr oder um den ferragosto im August, d. h. die Zeit um Mariä Himmelfahrt, für ein bis zwei Wochen in Ferien kommen. In einem Nachbartal verstarb 1980 in einem stattlichen Dorf mit sicher auch fünfzig großen Häusern der (ab 1973) letzte Einwohner. Neun Monate im Jahr ist das Dorf völlig verlassen. In den drei Sommermonaten aber erwacht es zum Leben. Die Bewohner bringen aus ihren Städten Haustiere, Blumen und Gartenpflanzen mit, und sogar ein kleiner Laden wird geöffnet.
Seit ungefähr zehn Jahren scheinen Fördergelder der EU zu fließen, mit denen etliches für die Gegend getan wird. 1999 bekamen sämtliche Weiler erstmals eine Ortsbeleuchtung, überall mit den gleichen Lampen. Straßen und Wege wurden ausgebaut, um viele Orte besser zugänglich zu machen und den Wandertourismus zu fördern. Wanderwege wurden ausgeschildert; vor jedem Weiler stehen inzwischen gleich drei, vier große Informationstafeln über Geschichte, Kultur und Sehenswürdigkeiten. Wer in seinem Haus ein paar alte Möbel und Geräte ausstellt und es als „Museum“ deklariert oder angibt, es als „Albergo“ einrichten zu wollen, bekommt auch an den abgelegensten Orten großzügige Fördermittel für die Sanierung, selbst wenn dort kaum Besucher hinkommen werden. Die künstliche Walser-Renaissance treibt ihre Blüten: Die Ortsschilder sind wieder zweisprachig – auf Tittschu und Italienisch – und seit 2007 hängt die Gemeindeverwaltung ihre Bekanntmachungen nicht nur auf Italienisch, sondern auch wieder auf Tittschu aus. Derweil sterben die letzten Muttersprachler aus. Zunehmend erwerben sich Italiener aus den Städten im Tal ein Haus oder eine Ruine, um sich dort ein Feriendomizil zu schaffen. So beleben sich etliche Dörfer an Wochenenden oder im Sommer saisonal kurz einmal, schlummern jedoch die meiste Zeit so gut wie leer vor sich hin. Die Bergregion verändert sich also, aber um die Zukunft der Walser sieht es schlecht aus.