Schlaglichter auf das bulgarische Wahljahr 2009

aus OWEP 4/2009  •  von Tim Graewert

Der Autor hat in Sofia und Osnabrück studiert und sich besonders mit der Entwicklung des bulgarischen Parteiensystems beschäftigt.

Einleitung

Zweimal innerhalb eines Monats, am 7. Juni und am 5. Juli, waren die bulgarischen Wähler in diesem Jahr aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. Seit den ersten freien Wahlen 1990 wurden die Regierenden bei jedem Urnengang vom Wähler abgestraft. Das war auch dieses Jahr bei den Europa- und Parlamentswahlen nicht anders.

Die parlamentarische Vertretung im zentralistisch gegliederten Bulgarien ist ein Einkammersystem. Das Parlament, im Bulgarischen „Narodno sabranie“ (= Volksversammlung) genannt, wird nach dem Verhältniswahlrecht für vier Jahre gewählt und umfasst 240 Abgeordnete. Es existiert eine Sperrklausel von 4 Prozent. 2009 wurde ein Grabensystem eingeführt, wonach 87 Prozent der Sitze weiterhin nach dem Verhältniswahlrecht, 13 Prozent hingegen nach dem Mehrheitswahlrecht vergeben werden. Im Gegensatz zum deutschen Wahlrecht sind in Bulgarien Wahlbündnisse unterschiedlicher Parteien zugelassen.

Bulgarische Sozialistische Partei (BSP)

Die BSP ist die direkte Nachfolgepartei der Bulgarischen Kommunistischen Partei (BKP). Die Wende wurde in Bulgarien von Reformkommunisten der BKP initiiert, die am 10. November 1989 Staatschef Todor Živkov stürzten. Da zum Zeitpunkt des Systemwechsels keine starke Oppositionsbewegung existierte, leistete die BSP dem politischen Gegner Starthilfe und stattete die Opposition mit finanziellen Ressourcen aus.1 1994 errang die BSP die absolute Mehrheit der Parlamentssitze, erlebte aber bei den vorgezogenen Parlamentswahlen im Jahr 1997 mit einem relativen Stimmenverlust von 21,43 Prozent ein Debakel. Ursache dafür war die nationale Wirtschaftskrise, in deren Folge Engpässe in der Lebensmittelversorgung und eine Hyperinflation auftraten. Nachdem das Wahlbündnis der Sozialisten bei den Wahlen in den Jahren 1997 und 2001 erheblich an Stimmen einbüßte, konnte das von der BSP dominierte Wahlbündnis „Koalition für Bulgarien“ (KB) bei den Wahlen im Jahr 2005 erneut gewinnen und mit Sergej Stanišev den Ministerpräsidenten der „Dreierkoalition“ von Sozialisten, Zarenpartei und „Partei der Bewegung für Rechte und Freiheiten“ (BRF) stellen. Trotz des 2007 erfolgten EU-Beitritts gelang es der Regierung nicht, die organisierte Kriminalität wirksam zu bekämpfen, die Unabhängigkeit der Justiz zu verstärken oder die Korruption unter Staatsbediensteten einzudämmen. Dieses waren die Hauptgründe dafür, dass die EU-Kommission letztes Jahr zum ersten Mal komplette Förderprogramme eines EU-Mitgliedsstaats einfror.

Obwohl der Premierminister bei Umfragen im Vorfeld der Wahl wesentlich negativer bewertet wurde als sein Herausforderer Bojko Borisov, ließ er sich auf einen personalisierten Wahlkampf ein, was im Gegensatz zur kollektivistischen Tradition bisheriger BSP-Wahlkämpfe stand. Staniševs Strategie bestand darin, auf Borisov als unerfahrenen politischen Newcomer mit ungenügenden wirtschaftlichen Kenntnissen und möglichen fatalen Folgen bei der Bewältigung der globalen Finanzkrise hinzuweisen. Zusätzlich brachte Stanišev Borisov mit dem unbeliebten Ex-Premierminister Ivan Kostov (amtierte 1997-2001) als dessen möglichen Koalitionspartner in Verbindung. Die Angst vor dieser „unerwartet schlechten (Personal-)Kombination“ wurde in einem Wahlwerbespot akzentuiert, der nach der Aussage einiger Mütter zwar dazu in der Lage war, kleine Kinder zu erschrecken, die erwünschte Wirkung beim Wähler jedoch verfehlte.

Die blaue Koalition

Darunter ist ein Wahlbündnis zwischen der „Union der Demokratischen Kräfte“ (UDK) und den „Demokraten für ein starkes Bulgarien“ (DSB), die sich vor den Parlamentswahlen 2005 von der UDK abgespalten hatte, zu verstehen. Die UDK entstand 1989 als Dachorganisation verschiedener informeller Gruppen, die die führende Rolle der kommunistischen Partei infrage stellten. Die Parteiführung reformierte sie vor der Wahl 1997 zu einer einheitlichen Partei mit bürgerlich-konservativem Antlitz. Dies trug dazu bei, dass bei der Wahl 1997 52,26 Prozent der Stimmen erreicht werden konnten und die UDK als dominierende Partei des kurz vor der Wahl formierten Wahlbündnisses „Vereinte Demokratische Kräfte“ (VDK) mit Ivan Kostov den Premierminister stellte.

Trotz außen- und innenpolitischer Erfolge wie etwa Eindämmung der Hyperinflation (1997) und Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen im Jahr 1999 blieb die Regierung Kostov von Korruptionsvorwürfen, insbesondere im Zusammenhang mit Privatisierungsprozessen, nicht verschont2. Auch verlangten die Sparauflagen des 1997 eingeführten Währungsrats der Bevölkerung zahlreiche Opfer ab, weshalb sich ein Großteil der Wählerschaft wieder von der UDK abwandte. Interne Konflikte führten zu wiederholten Parteiabspaltungen. Im Frühjahr 2009 bildeten die UDK mit ihrem Vorsitzenden Martin Dimitrov und die DSB das Wahlbündnis der blauen Koalition, die bei den Parlamentswahlen 2009 jedoch nur 6,76 Prozent der Stimmen auf sich vereinigten.

Nationale Bewegung für Stabilität und Aufschwung (NBSA)

Ursprünglich hieß die Partei „Nationale Bewegung Simeon II.“ und ist untrennbar mit der Person des letzten bulgarischen Monarchen verbunden. Dieser war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor den Kommunisten ins spanische Exil geflohen, kehrte 2001 nach Bulgarien zurück, gründete nur wenige Monate vor der damaligen Parlamentswahl eine Partei und versprach mit einem populistischen Wahlprogramm, die Lebensverhältnisse der bulgarischen Bevölkerung binnen 800 Tagen entscheidend zu verbessern. Die Popularität der Partei sank aber schnell, da das unrealistische Wahlversprechen nicht eingehalten wurde und der Ex-Zar darüber hinaus ehemalige Grundstücke seines Vaters im Zuge der Reprivatisierung für sich beanspruchte. Die Partei wurde 2007 in „Nationale Bewegung für Stabilität und Aufschwung“ umbenannt, ihr inzwischen in Ungnade gefallener Gründer gab die Parteiführung jedoch nicht auf. So verwundert es nicht, wenn die Partei bei den Parlamentswahlen nur 3 Prozent der Stimmen erhielt und damit die Vierprozenthürde verfehlte. Der Ex-Zar trat daraufhin als Vorsitzender zurück.

Populärstes Parteimitglied ist die erste bulgarische EU-Kommissarin Meglena Kuneva, die im Jahr 2007 das wichtige Ressort für Verbraucherschutz übernahm und sich in Brüsseler Kreisen schnell einen Namen machte, zum Beispiel mit Vorschlägen zur Verbesserung von Privatklagen bei Verletzungen des Kartellrechts. Die Teilnahme Kunevas als Spitzenkandidatin bei der Europawahl trug dazu bei, dass die NBSA bei diesem nur einen Monat früher stattfindenden Urnengang 8 Prozent der Stimmen gewann und mit zwei Abgeordneten ins Europaparlament einzog. Kuneva nahm ihr Mandat jedoch nicht an. Den Posten als EU-Kommissarin muss sie nach der Neuwahl der Kommission im September räumen, da die derzeitige Außenministerin Rumjana Jeleva die Nachfolge Kunevas als bulgarische EU-Kommissarin antreten wird.

Mit dem Ex-Monarchen waren wohl die größten politischen Hoffnungen der Bulgaren seit der Einführung der Demokratie verbunden. Da sein Handeln in eklatantem Widerspruch zu den selbst geweckten Erwartungen stand, wird der Exil-Monarch möglicherweise als die größte Enttäuschung der Nachwendezeit in die bulgarische Geschichte eingehen.

Bewegung für Rechte und Freiheiten (BRF)

Die „Bewegung für Rechte und Freiheiten“ ist eng mit dem Namen ihres Gründers und Parteivorsitzenden Achmed Dogan verbunden, der sich in den achtziger Jahren gegen die von der kommunistischen Partei initiierte Kampagne zur Assimilierung der türkischen Minderheit wandte. Vorrangiges Ziel der BRF ist die Vertretung dieser Minderheit in Bulgarien, die ca. 10 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmacht.

Die Partei ist Mitglied der Liberalen Internationalen und der Allianz der Liberalen im Europaparlament, der innerparteiliche Führungsstil Dogans ist jedoch alles andere als liberal. Er allein bestimmt die Kandidaten für Abgeordnetenmandate im Parlament und die Bewerber für die Oberbürgermeisterämter; auch ist er befugt, Parteimitglieder aufgrund von Aktionen, die zu innerparteilichen Spaltungen führen könnten, auszuschließen.3

Im Vorfeld der Wahlen sorgte die Aussage Dogans bei einer Wahlkampfveranstaltung für Aufsehen. Die bulgarische Internetzeitung mediapool zitierte ihn mit den Worten „Seid überzeugt, dass ich vieles kann, darin einbegriffen die Regierenden regieren“.4 Die Bemerkung Dogans, er sei „das Instrument der Macht“, führte zu einem Sturm der Entrüstung bei den bulgarischen Wählern. Aufforderungen wie „Wählt gegen die BRF“ oder „Wählt gegen den unverschämten Dogan“ waren in den Tagen vor der Wahl oft zu hören. Sicherlich wurden so einige Wähler dazu motiviert, ihr Kreuzchen zu machen, die sonst zu Hause geblieben wären. Es drängt sich die Frage auf, ob dem als klugen Strategen bekannten Dogan mit seinen öffentlichen Aussagen überraschenderweise ein Fehler unterlaufen war. Für das Abschneiden der BRF bei der Wahl hatten sie jedenfalls keine negativen Konsequenzen. Trotz gestiegener Wahlbeteiligung, die sich zu Ungunsten der BRF hätte auswirken können, steigerte sie ihr Wahlergebnis von 2005 (12,81 Prozent) auf 14,46 Prozent. Da die BRF neben dem Wahlsieger GERB als einzige Partei Direktmandate gewinnen konnte, belegt sie jetzt 15,8 Prozent der Parlamentssitze.

Ataka (Attacke)

Die Wahlinitiative „Ataka“ wurde erst einige Monate vor den letzten Parlamentswahlen im Jahr 2005 gegründet und erzielte mit einem Stimmenanteil von 8,14 Prozent einen schnellen Erfolg. Der Parteiname ist gewählt in Anspielung auf die erfolgreiche bulgarische Attacke auf die türkische Festung Adrianopel (Edirne) während des ersten Balkankriegs (1913). „Führer“ von „Ataka“ ist der Journalist Volen Siderov, ehemals Mitglied der UDK und früherer Herausgeber der Parteizeitung „Demokrazija“. Das Parteiprogramm von „Ataka“ ist nationalistisch-populistisch ausgerichtet und enthält zusätzlich linkssoziale Inhalte.

Bei den diesjährigen Parlamentswahlen erhielt „Ataka“ 9,36 Prozent der Stimmen, die nach Verhältniswahlrecht vergeben wurden. Noch Anfang des Jahres hatte Siderov erklärt, seine Partei werde auf keinen Fall eine Minderheitsregierung tolerieren, denn das schließe die Verwirklichung eigener Ideen und Programme aus. Nach der Wahl kam es jedoch zum „Umfall“: Die Partei erklärte sich bereit, die Minderheitsregierung von GERB auch ohne die Entsendung eines eigenen Ministers zu tolerieren. Wie sich dies auf das Wählerverhalten der Anhängerschaft von „Ataka“ auswirken wird, hängt davon ab, ob „Ataka“ auch unpopuläre Entscheidungen wie z. B. mögliche Privatisierungen von Krankenhäusern mitzutragen bereit ist. Sollte dies geschehen, könnte die Glaubwürdigkeit der Partei gegenüber Protestwählern untergraben werden.

GERB

Diese Partei, die die Parlamentswahlen vom 5. Juli 2009 gewonnen hat, wurde 2006 vom damaligen Sofioter Oberbürgermeister Bojko Borisov gegründet; er wurde am 27. Juli 2009 zum neuen bulgarischen Premierminister gewählt. GERB errang 48 Prozent der Abgeordnetenmandate (39,71 Prozent durch Verhältniswahl, außerdem 26 von 31 Direktmandaten). Fünf Mandate fehlen der Minderheitsregierung zur absoluten Mehrheit.

GERB heißt übersetzt „Wappen“, die Initialen stehen aber für „Grajdanite za Evropejskoto Razvitie na Bălgarija“ – „Bürger für eine europäische Entwicklung Bulgariens“. Die Partei ist mit Neupolitikern und Parteiwechslern besetzt. Beim Gründungskongress der Partei drohte Borisov damit, die Partei aufzulösen, falls sie sich so entwickeln würde wie die anderen Parteien; Borisov beansprucht damit die uneingeschränkte Führung. Parteivorsitzender ist allerdings der neue Finanzminister Zvetan Zvetanov, der bereits vor über 20 Jahren ein Kollege Borisovs im Innenministerium war und als dessen rechte Hand gilt. Borisov war in den achtziger Jahren Dozent an der Polizeihochschule des bulgarischen Innenministeriums. 1989 beendete er diese Tätigkeit, um als Leibwächter zu arbeiten und 1991 die Sicherheitsfirma „Ipon“ zu gründen, mit der er u. a. die Villa des ehemaligen Staatsratsvorsitzenden Todor Živkov bewachte. Außerdem betätigte sich Borisov als Feuerwehrmann und als Nationaltrainer des bulgarischen Karateteams. Im Jahr 2001 wurde er Staatssekretär im Innenministerium unter Premierminister Sakskoburggotski, 2005 dann Bürgermeister Sofias.

Bojko Borisov verzichtete im Wahlkampf sowohl auf die Bekanntgabe eines Schattenkabinetts als auch auf klare inhaltliche Ankündigungen, denn „die Bulgaren (schenken) den Worten (von Politikern) keine Aufmerksamkeit mehr. Das Auge muss etwas sehen und die Hände (müssen) etwas fassen können“.5 Offensichtlich überzeugte die bloße Präsenz des „balkanischen Schwarzeneggers“ die Wähler dahingehend, dass dieser Ex-Bodyguard mit der bulligen Statur das nötige Zeug zum Zupacken besitzt.

Eine der ersten Amtshandlungen Borisovs war der Besuch beim Generalstaatsanwalt Boris Velchev, dem er ein Ultimatum von 180 Tagen stellte, um die Betrügereien mit EU-Fördergeldern zu stoppen. Das wäre die Grundvoraussetzung, um geplante Infrastrukturprojekte wie den Bau von Autobahnen realisieren zu können. Falls der „Superbulle“ mit seinem Vorhaben, die Korruption zu bekämpfen, Erfolg haben sollte, werden die leidgeprüften bulgarischen Wähler sicher auch die von Kolumnisten erwartete „kalte Dusche“ ökonomischer Reformen, die unangenehme Konsequenzen für einige Bedienstete von Staatsbetrieben haben könnte, mittragen.

Ausblick

Die bulgarische Wählerschaft ist zu oft enttäuscht worden, um mit der Wahl einer neuen Regierung große Hoffnungen zu verbinden. Derzeit haben die bulgarischen Staatsbürger kein Vertrauen zu den Legislativ-, Exekutiv- und Judikativorganen ihres Staates. Borisov hat es sich zur Aufgabe gemacht, dieses Vertrauen mit einem autoritären Führungsstil zurück zu gewinnen. Wenn dieses Vorhaben gelingt, könnte er der erste bulgarische Regierungschef sein, der durch den Souverän, also das Volk, in seinem Amt bestätigt werden wird.


Fußnoten:


  1. Charles A. Moser: Theory and History of the Bulgarian Transition. Sofia 1994, S. 85. ↩︎

  2. Vgl. http://www.capital.bg/show.php?storyid=713053 (letzter Zugriff: 21.10.2014). ↩︎

  3. Vgl. Georgi Karasimeonov: Partijnata sistema v Bălgarija. Sofia 2006, S. 216 f. ↩︎

  4. http://www.mediapool.bg/show/?storyid=153969 (letzter Zugriff: 21.10.2014). ↩︎

  5. http://www.mediapool.bg/show/?storyid=153953 (letzter Zugriff: 21.10.2014). ↩︎