OWEP 4/2009
Schwerpunkt:
Bulgarien
Editorial
Es gibt wohl kaum einen unter den neuen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, dessen Wahrnehmung bei uns so stark von Vorurteilen besetzt ist wie Bulgarien: Ein buntes Bild von balkanischen Schafhirten, Joghurt, Ilja-Rogoff-Pillen und Rosenöl haben über lange Zeit unsere Vorstellung dieses Landes geprägt, Korruption und Kriminalität kommen heutzutage dazu. Diese Klischees haben verdunkelt, was Bulgarien an Kultur, landschaftlicher Schönheit und alter Tradition zu bieten hat.
Mit diesem Heft wollen wir dazu beitragen, die Vorurteile durch fundierte Urteile zu ersetzen. Unsere Autorinnen und Autoren informieren über ganz unterschiedliche Aspekte der bulgarischen Gegenwart, von der aktuellen politischen Situation über die Lage des ländlichen Raumes bis hin zur Literatur. Auch die Kirchen werden behandelt, die orthodoxe Mehrheitskirche, die das Geschick des Landes so stark geprägt hat und die seit Jahren an einer Spaltung leidet, und die kleine katholische Ortskirche mit ihrem speziellen Erbe.
Es gehört zu den schlechten Gewohnheiten in den großen europäischen Nationen, dass die kleineren kaum oder nur sehr einseitig wahrgenommen werden. Auch für Bulgarien gilt, dass man dort im Allgemeinen viel mehr über Deutschland, die deutsche Geschichte und die deutsche Kultur weiß, als das umgekehrt der Fall ist. Diesem deutschen Defizit werden wir mit diesem Heft nicht abhelfen können. Wir wollen aber doch einen kleinen Beitrag dazu leisten und unsere Leserinnen und Leser dazu ermuntern, sich mit diesem „kleinen“ Land im Südosten Europas zu beschäftigen, um seine Besonderheiten, seine reiche Geschichte und seine Schönheit für sich zu entdecken. Nur wenn solche Prozesse der gegenseitigen Wahrnehmung einsetzen, kann Europa wirklich zu einem Kontinent werden.
Die Redaktion
Kurzinfo
Rilakloster, Rhodopengebirge, Rosental – solche Begriffe verbindet der interessierte Mitteleuropäer mit Bulgarien, dem Land im äußersten Südosten der Europäischen Union. Andere erinnern sich an Urlaubstage am Schwarzen Meer, an pittoreske Szenen im Hinterland, an vieles, was den Balkan aus den Erzählungen Karl Mays wach werden lässt. Die Bezeichnung „Balkan“ ist in diesem Fall völlig korrekt, denn dieser Gebirgszug, dessen Name auf die gesamte Landmasse Südosteuropas übergegangen ist, liegt in Bulgarien. Daneben gibt es dann in der Presse immer wiederkehrende Berichte über eine marode, von Korruption durchsetzte Wirtschaft, über Politiker zweifelhafter Herkunft, über eine Jugend, die in Scharen das Land verlässt – wird Bulgarien also auf Dauer ein Sorgenkind der Europäischen Union bleiben?
Wie alle Staaten, die über Jahrzehnte jenseits des „Eisernen Vorhangs“ lagen, leidet Bulgarien bis heute unter den Folgen der Abschottung vom übrigen Europa. Bulgarien ist eines der Länder Europas, dessen Bedeutung für die Entwicklung unseres Kontinents meist völlig unterschätzt wird – es ist ein Land, das im Früh- und Hochmittelalter Großreiche bildete, älteste ostkirchliche Traditionen hütet und eine Brücke zwischen Orient und Okzident bildet. Die oben erwähnten Assoziationen und Klischees haben sicher ihre Berechtigung, zeichnen für sich genommen jedoch ein einseitiges, ja falsches Bild. Die aktuelle Nummer von OST-WEST. Europäische Perspektiven möchte mit einigen kräftigen Strichen versuchen, notwendige Korrekturen an diesem Bild durchzuführen.
Eröffnet wird das Heft mit einem Beitrag des in Sofia lebenden deutschen Journalisten und Historikers Christian Geiselmann, der in einem Überblick die Geschichte und aktuelle Situation des Landes vorstellt. Ihm folgt eine Analyse des Politikwissenschaftlers Tim Graewert über die Ergebnisse der Parlaments- und Europawahlen von 2009, zusammen mit einer Kurzbeschreibung der aktuellen Parteienlandschaft. Korruptionsbekämpfung war zwar bei allen Regierungen seit 1990 ein Programmpunkt, jedoch bisher ohne greifbaren Erfolg. Der Schriftsteller und Journalist Kănčo Kožucharo, Sofia, schildert in seinem Beitrag, wie sehr Politik und Wirtschaft Bulgariens bis heute darunter leiden.
Immer wieder hört man die Klage, die Demokratie sei in Bulgarien noch zu wenig verwurzelt, weshalb gerade viele junge Menschen vorübergehend oder dauernd ihre Heimat verlassen. Violeta Kyoseva, Vorsitzende des Vereins FAR (Verein für demokratische Bildung) in Burgas, beschreibt die schwierigen Wege zur Heranbildung des demokratischen Bewusstseins in Bulgarien speziell unter der jüngeren Generation. Stefanie Albrecht, Berlin, wendet sich in ihrem Beitrag den speziellen Problemen der Landbevölkerung zu; in den strukturschwachen Regionen Bulgariens ist die Landflucht zu einem großem Problem geworden.
Der Bulgarischen Orthodoxen Kirche, zu der sich der größte Teil der Bevölkerung bekennt, kommt eine bedeutende Rolle für die Identität der Bulgaren zu. Gegenwärtig sind ihre Rolle und ihr Einfluss in der Gesellschaft, wie Prof. Dr. Božidar Andonov, Dozent an der Universität München, darlegt, nicht unangefochten, was insgesamt eher zu einer Schwächung ihrer Position führt. Mag. Hristo Berov, Potsdam, erläutert dazu ergänzend den Rechtsstatus der Religionsgemeinschaften in Bulgarien. Zwei weitere Beiträge gelten der katholischen Kirche Bulgariens, einer kleinen, aber recht aktiven Gemeinschaft. Pater Srećko Rimac, Generalsekretär der Bulgarischen Bischofskonferenz, erinnert an Papst Johannes XXIII., der als Gesandter des Heiligen Stuhls viele Jahre in Bulgarien verbracht hat und dort bis heute hohes Ansehen genießt. Schwester Maria Tereza Gramova, Priorin des Karmels „Heiliger Geist“, schildert die Entwicklung ihrer Ordensgemeinschaft, die trotz aller Bedrängnisse während der kommunistischen Zeit in Sofia am Glauben festhielt.
Einen Bogen zur Kultur und Geschichte Bulgariens und damit zum Beitrag von Christian Geiselmann schlägt schließlich Prof. Dr. Norbert Randow, emeritierter Literaturwissenschaftler aus Berlin, mit seinem Beitrag über bulgarische Literatur und ihre Rezeption im deutschen Sprachraum. Dr. Monika Kleck, Projektreferentin bei Renovabis, stellt danach in einer Länderinformation die wichtigsten Eckdaten zusammen und informiert abschließend über die Projektarbeit von Renovabis in Bulgarien.
Als Beilage enthält das Heft das Jahresinhaltsverzeichnis. Ein Gesamtinhaltsverzeichnis aller zehn Jahrgänge ist in Vorbereitung.
Dr. Christof Dahm