Muslime in Europa – (k)eine Migrationsgeschichte
In der allgemeinen Wahrnehmung ist die Anwesenheit von Muslimen in Europa ein Ergebnis der Arbeitsmigration, besonders seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Deshalb sind Fragen des Verhältnisses von Islam und Muslimen zur deutschen Gesellschaft zumeist mit der Integration von Migranten und den Zuständen in ihren Herkunftsländern verbunden. Diese Verknüpfung der Themen „Muslime in Europa“ und „Migration“ ist in gewisser Hinsicht berechtigt, lässt jedoch dreierlei unberücksichtigt: das Vorhandensein einheimischer Muslime und Konvertiten in verschiedenen europäischen Staaten bereits seit mehreren Jahrhunderten, die bis in die Frühzeit des Islam zurückreichende gegenseitige kulturelle Beeinflussung und schließlich die Tatsache, dass besonders in Ost- und Südosteuropa bis auf den heutigen Tag muslimische Volksgruppen leben, die durch Eroberungszüge und Wanderungsbewegungen nach Europa gekommen sind oder unter muslimischer Herrschaft den Islam angenommen haben. Das reicht von Finnland im Norden über Litauen und Polen bis hin nach Bosnien und Albanien im Süden.
Einer Verlautbarung des Zentralinstituts Islam-Archiv-Deutschland (ZIAD) in Soest vom Mai 2007 zufolge1 leben in Europa derzeit 53.713.953 Muslime, davon allein in Russland 25 Millionen und in der Europäischen Union 15.890.428. Nach Regionen aufgeteilt finden sich Osteuropa insgesamt 25.012.980, in Südosteuropa 14 Millionen, in Westeuropa gut 12 Millionen, in Südeuropa etwa 1,7 Millionen und in Nordeuropa knapp 500.000 Muslime. Angaben zu Zahlen von Muslimen sind gemeinhin mit Vorsicht zu betrachten, denn sie beruhen in der Regel auf Schätzungen; auch ist zu bedenken, dass etwa im letzten russischen Zensus nicht nach Religionszugehörigkeit gefragt wurde, sodass dort – ähnlich wie in Deutschland – die Zahl der Muslime aus ethnischen und nationalen Zugehörigkeiten rekonstruiert wird, zum Teil auch mit politischem Kalkül.2 Das führt zu Schwankungen in den verschiedenen Schätzungen der Zahl der Muslime in Russland, die sich von acht bis zu 20 Millionen Muslime belaufen.
Auch wenn man die Schätzungen mit Skepsis betrachtet und die genauen Zahlen außer Acht lässt, wird doch deutlich, dass die meisten Muslime in Europa nicht erst mit der Gastarbeiteranwerbung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gekommen sind, sondern schon seit Jahrhunderten Teil der europäischen Geschichte sind.
Muslimische Wege nach Europa
Das Vordringen des Islam bzw. von Muslimen nach Europa kann auf zweierlei Weise beschrieben werden: einerseits in zeitlicher Abfolge, wobei zuerst die frühislamischen Eroberungsfeldzüge (futūh) im 7. Jahrhundert zu nennen sind, in deren Verlauf arabisch-muslimische Truppen bis Südfrankreich, Konstantinopel und in den Nordkaukasus vorgedrungen sind, ohne sich jedoch langfristig halten zu können. Als zweite Phase sind die Eroberungen der Osmanen auf dem Balkan und der Mongolen in Osteuropa ab dem 13. Jahrhundert zu nennen, die in die generelle Ost-West-Bewegung turkstämmiger Nomaden eingeordnet werden können.
Andererseits lässt sich die Ausbreitung des Islam nach Europa geographisch einteilen. Dazu kann unterschieden werden zwischen einem südlichen Zugang nach Europa, primär nach Spanien, und zwei weiteren Wegen: die Eroberungsfeldzüge der Osmanen auf dem Balkan als mittlerer Weg und verschiedener turksprachiger Völker nach Osteuropa als nördlicher Weg.
Der südliche Weg über Spanien
Wenn man ganz weit ausholt, dann ließe sich der erste muslimische Kontakt mit Europa auf das Jahr 652 datieren, das Jahr des ersten Angriffs auf Sizilien, das aber zusammen mit Teilen Süditaliens erst 827 von den Arabern erobert und bis ins 11. Jahrhundert gehalten wurde. Aber schon früher, nämlich 711, betraten muslimische Eroberer die iberische Halbinsel und stießen bis nach Südfrankreich vor, wo sie 732 in der Schlacht von Tours und Poitiers zurückgeschlagen wurden. Al-Andalūs, wie es auf Arabisch genannt wurde, blieb bis zur so genannten Reconquista (Zurückeroberung) 1492 unter muslimischer Herrschaft, ab dem 10. Jahrhundert wohl sogar mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit. Auch wenn die letzten Muslime schließlich 1614 aus Spanien vertrieben wurden, wirkt doch ihr kulturelles Erbe Nachwirkungen bis heute nach; im Zuge der Regionalisierung Spaniens seit den späten siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts dient das „maurische Erbe“ einer als Glanzzeit glorifizierten Epoche des religiös pluralen al Andalūs als Quelle andalusischen Nationalbewusstseins, das sogar zu einer „Islamophilie“ bis hin zu Konversionen zum Islam geführt hat. Trotz dieser Spätfolgen ist jedoch festzuhalten, dass die muslimische Präsenz in Westeuropa damit ein Ende gefunden hatte. Wiederaufgenommen wurde diese Präsenz von Muslimen erst durch Arbeitsmigration aus mehrheitlich muslimischen Regionen wie der Türkei oder Nordafrika ab etwa 1960.
Der mittlere Weg auf den Balkan
Ebenfalls im Zuge der Eroberungsfeldzüge des 7. Jahrhunderts fand 674 der erste Angriff auf Konstantinopel statt; daran erinnert noch heute das Mausoleum des Prophetengefährten Ayyūb (türk.: Eyüp) am Goldenen Horn im gleichnamigen Stadtviertel Istanbuls. Trotzdem ist das erste Erscheinen des Islam auf der europäischen Seite des Bosporus und dem Balkan wohl mit dem anatolischen „Heiligen“ Sarı Saltuq Baba im Jahre 1254 verbunden, der zusammen mit turkmenischen Stämmen in die Steppen der Dobrudscha unweit der Donaumündung zog. Sie waren zuvor dem nach Byzanz geflohenen Sultan der Rūm-Seldschuken ’Izz ad-Dīn Kaykāwūs II. vom byzantinischen Kaiser als Siedlungsgebiet zugeteilt worden. Die Mehrzahl dieser Tscherkessen ist vermutlich 1307 nach Anatolien zurückgekehrt, während der Rest zusammen mit christlichen, turkstämmigen Kumanen als die Vorfahren der christlich-orthodoxen Gagausen (abgeleitet von obigem Kaykāwūz) gelten. Darüber hinaus waren auf dem Balkan auch islamisierte, turkstämmige Petschenegen und Kumanen ansässig, schon bevor die Osmanen über die Dardanellen setzten.
Das geschah erst in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts mit den Übergriffen des Orhan Ghāzī, des Sohnes des Dynastiegründers Osman, nach Thrakien. Er stand dem byzantinischen Kaiser Johannes VI. Kantakuzenos in dessen Thronwirren um 1340 bei und heiratete seine Tochter Theodora (was keine Besonderheit in den türkisch-byzantinischen Herrscherbeziehungen war). Schon ab 1354 hatten die Osmanen einen so festen Stand auf der europäischen Seite der Dardanellen, dass Orhans Sohn Murad I. 1366 die Hauptstadt erst Rumeliens (türkisch rumeli, abgeleitet von rūm ili, römische Provinz) und dann des damaligen Osmanischen Fürstentums von Bursa nach Adrianopel (Edirne) verlegen konnte. 1371 wurden die Bulgaren an der Maritza geschlagen, 1388 Teile Bulgariens erobert. Im Jahr darauf ist zwar Murad I. in der Schlacht auf dem Amselfeld (Kosovo Polje) bei Priština gefallen, seinem Nachfolger Beyazid I. gelang es aber, das serbisch-bosnische Heer zu besiegen und damit dem damaligen Serbischen Reich ein Ende zu bereiten. Danach eroberte Beyazid I. zwischen 1393 und 1396 ganz Bulgarien, Mazedonien, die Walachei und Thessalien. Durch die Niederlagen Beyazids I. gegen Timur Lenk (Tamerlan) in den folgenden Jahren gingen große Teile der anatolischen Gebiete an die Mongolen verloren, was zu einer Fokussierung der Eroberungspolitik auf Rumelien und zur Migration anatolischer Türken nach Westen führte. Nach Beyazid I. führte erst wieder sein Enkel Murad II. erneut auf dem Balkan Krieg, besonders gegen Ungarn. Weiterhin hat Mehmed II. (der Eroberer) seine Ambitionen durch die Einnahme Konstantinopels 1453 deutlich gemacht und den Herrschaftsbereich des Osmanischen Reiches über Serbien (1459), Peleponnes (1460) und Bosnien (1463) bis zur Donau ausgeweitet.
Trotz dieser Ausdehnung des osmanischen Herrschaftsgebiets beschränkte sich die türkisch-osmanische Bevölkerung bis auf die drei mazedonischen Regierungsbezirke, in denen sich eine türkische Landbevölkerung entwickelte, auf Militär und Verwaltung; die Bevölkerung selbst blieb in der Regel slawisch, albanisch, ungarisch, rumänisch oder griechisch. In Albanien, Bosnien und Herzegowina fungierten sogar einheimische Albaner bzw. Slawen als Vertreter der Osmanen und gelangten in höchste Staatsämter. Auch scheint die Verbreitung des Islam kein besonderes Anliegen der Osmanen gewesen zu sein; die Islamisierung der Bevölkerung erfolgte im Großen und Ganzen nicht durch Zwangskonversionen oder Druck. Es lassen sich drei Phasen unterscheiden: Bis in die Zeit Sultan Beyazids II. (reg. 1481–1512) vernachlässigte der osmanische Staat die Religionsfrage, sodass im wesentlichen nur freiwillige Konversionen vorkamen. Erst danach wurde man sich der Situation als muslimischer Staat bewusst und beachtete stärker die Anwendung des islamischen Rechts. Christliche Mission durch Franziskaner ab dem 17. Jahrhundert, aus politischen Gründen durch die Habsburger und Venedig gefördert, führte als Reaktion zu Zwangsmaßnahmen gegen Christen in Serbien, Albanien und Teilen Bulgariens, was Massenkonversionen in diesen Gegenden zur Folge hatte. Weitere umfangreichere Konversionen haben in späterer Zeit in Albanien und in den Rhodopen (im heutigen Bulgarien) stattgefunden. In der Folge ergab sich auf dem Balkan eine wenig homogene muslimische Bevölkerung, deren Volkszugehörigkeiten aufgrund der Jahrhunderte langen historischen Verwicklungen nachgerade undurchschaubar sind.
Die muslimische Bevölkerung Rumäniens besteht heute vor allem aus Türken und Tataren und ist auf die nördliche Dobrudscha, Bukarest und die Donauinsel Ada Kaleh (nach deren Überflutung am „Eisernen Tor“ auf das Donauufer) konzentriert. Die Tataren und Tscherkessen der Dobrudscha sind erst nach dem Türkisch-Russischen Krieg 1828-29 und dem Krimkrieg 1854 angesiedelt worden, während die türkische Bevölkerung eine Hinterlassenschaft der osmanischen Herrschaft ist, unter der die Donaufürstentümer Walachei und Moldau ab dem 15. Jahrhundert standen, bevor sie sich 1859 zum Königreich Rumänien zusammenschlossen.
Doch schon die mehr als eine Million Muslime Bulgariens lassen sich in vier Bevölkerungsgruppen einteilen und sind damit keinesfalls so „einheitlich“ als Tataren definierbar, wie das für Ost- und (das nördliche) Mitteleuropa zutrifft. Dennoch lassen sich auch dort einige Tausend muslimische Tataren finden, außerdem Türken, Roma und Pomaken. Diese sind eine grenzübergreifende Bevölkerungsgruppe, deren Herkunft nicht geklärt ist und die außer in Bulgarien auch in Mazedonien, im Kosovo, in Nordgriechenland und eingeschränkt in Albanien und der Türkei lebt. Jenseits aller sprachlichen und geographischen Unterschiede scheint sich die Religion als Hauptkomponente pomakischer Identität herausgestellt zu haben, sodass die Begriffe „Pomake“ und „Muslim“ oftmals synonym sind.
Kurz nach der Schlacht auf dem Amselfeld 1389 standen die osmanischen Truppen an der bosnischen Grenze, und schon 1434 hielten sie die Festung Hodidjed, aus der sich das heutige Sarajevo entwickelte. Während sie 1470 nur aus 70 Häusern bestand, hatte sie schon 1516 etwa 20.000 mehrheitlich muslimische Einwohner. Sarajevo war eines der städtischen Zentren, aus denen heraus sich der Islam ausbreitete, nachdem Bosnien 1463 und die Herzegowina 1480 unter osmanische Herrschaft gerieten. Die im 19. Jahrhundert im Osten als Bollwerk gegen die Serben angesiedelten Tscherkessen wurden völlig von den slawischen bosnischen Muslimen assimiliert, die heute als Bosniaken die relative Mehrheit in Bosnien bilden. Daneben leben im Sandschak um Novi Pazar, im Grenzgebiet zwischen Serbien und Montenegro, mehrheitlich Muslime, die ähnlich wie die Bosniaken slawischer Abstammung sind.
Auch die Republik Mazedonien hat bis heute einen muslimischen Bevölkerungsanteil von etwa 25 Prozent, der sich vor allem aus Albanern, Türken und mazedonischen Muslimen zusammensetzt. Mazedonien wurde nach der Eroberung im 14. Jahrhundert mit einigen hunderttausend Osmanen besiedelt. Die mazedonischen Muslime bzw. muslimischen Mazedonier werden auch (oftmals pejorativ) als Torbeschi bezeichnet. Sie sind gewissermaßen Teil der Pomaken und teilen mit ihnen das Schicksal nationalistischer Vereinnahmungen, wobei sie bald als islamisierte Slawen, bald als slawisierte Türken gelten. Die muslimische Bevölkerung des Kosovo setzt sich hauptsächlich aus Albanern, den slawischen Goranen und Bosniaken sowie aus einer türkischen Minderheit neben Teilen der Aschkali, den so genannten Kosovo-Ägyptern, zusammen.
Als einziges europäisches Land hat Albanien eine muslimische Bevölkerungsmehrheit von etwa 70 Prozent; die Islamisierung setzte bald nach der Eroberung durch die Osmanen im Jahr 1479 ein. Immerhin stand Albanien bis zur Unabhängigkeit 1912 unter osmanischer Herrschaft, in deren Verlauf der Bektaşi-Orden, dessen Wurzeln in Anatolien liegen und auf den Lehren des Hacı Bektaş basiert, an Einfluss gewann und etwa 20-25 Prozent der Muslime umfasst.3 Dessen Lehren hatten auch auf die anatolischen Aleviten sehr großen Einfluss. Daher wurde, als nach der Gründung der Türkischen Republik alle Sufi-Orden in der Republik Türkei abgeschafft wurden, Albanien der Hauptsitz der Bektaşiya.
Als sich die Expansion des Osmanischen Reiches mit der zweiten gescheiterten Belagerung von Wien 1683 umkehrte, zog sich die in den Städten ansässige türkisch-osmanische Bevölkerung in die Kerngebiete zurück und übersiedelte auch in andere osmanische Gebiete (etwa Tunesien oder Kuwait), wobei sich auch slawische und albanische Muslime anschlossen, die heute noch in der Türkei zu Zehntausenden auszumachen sind. Mit der Annexion Bosnien-Herzegowinas durch Österreich-Ungarn 1878 folgten die Türken aus Bosnien, ab 1912 auch aus dem Kosovo und dem Sandschak von Novi Pazar sowie Mazedonien. Dennoch hat sich unter der Einführung österreichischer Verwaltungsstrukturen für die muslimische Gemeinde in Bosnien ein europäisch ausgerichteter, durch das friedliche Zusammenleben mit Christen geprägter Islam herausbilden können, der zugleich auch mit dem Osmanischen Reich und der arabischen Welt in Verbindung stand.
Der nördliche Weg
Schon seit dem Jahr 641 haben arabische Truppen versucht, über Derbent am Kaspischen Meer (arab.: bāb al-abwāb) im heutigen Dagestan in die eurasische Steppe vorzudringen, konnten aber über Jahrzehnte hinweg von den damals die Region dominierenden Chasaren (wohl ein Stammesamalgam aus hunnischen, türkischen und anderen nomadischen Elementen) aufgehalten werden. Aber auch wenn die arabisch-muslimische Herrschaft nicht im Nordkaukasus und an der Wolga etabliert werden konnte und somit der Kaukasus ähnlich wie die Pyrenäen die Grenze der Eroberungsfeldzüge bildet, waren auch die Chasaren schon im 8. Jahrhundert zum Teil Muslime (daneben Christen und Juden, wobei jedoch letztere die Herrschergruppe ausmachten). Im 10. Jahrhundert hatten die turkstämmigen Wolgabulgaren, die nach der allmählichen Auflösung des Chasarenreiches zumindest die Wolgaregion beherrschten, den Islam als „Staatsreligion“ übernommen.
Die mongolische Goldene Horde, ursprünglich keine Muslime, stieß 1237 bis 1242 über die Gebiete der Bulgaren, Russen, Polen und Ungarn bis nach Schlesien und Litauen vor; ihre Fürsten sind zum Teil Muslime geworden, während der Großteil der Untertanen christlich-orthodox blieb. Wohl durch die Vermischung von Mongolen mit den Kyptschaken sind die turksprachigen und größtenteils islamisierten Tataren entstanden. Das Chanat der Kyptschaken beziehungsweise der Goldenen Horde umfasste auf seinem Höhepunkt im 13. Jahrhundert die Krim, die Polowetzer Steppe von der Donau bis zum Fluss Ural, Moldova und Teile Sibiriens und Zentralasiens. Nach dem Zerfall der Goldenen Horde bildeten sich als Nachfolgestaaten die Chanate von Kasan, Astrachan und der Krim. Die Chanate von Kasan und Astrachan sind 1552 und 1556 von Russland erobert worden, das Krim-Chanat, das dem Osmanischen Reich tributpflichtig war, erst 1739.
Im heutigen Russland stellen Muslime – oder zumindest ethnische Muslime – mit etwa 9 Prozent der Gesamtbevölkerung die zweitgrößte Religionsgemeinschaft nach der Orthodoxie dar. Die Wolga-Ural-Region und der Nordkaukasus sind ihre Hauptsiedlungsgebiete im europäischen Teil. Die Republiken und Gebiete des Nordkaukasus Adygej, Alanien (Nord-Ossetien), Dagestan, Inguschetien, Kabardino-Balkarien, Karatschajewo-Tscherkessien und Tschetschenien sind mehrheitlich von sunnitischen Muslimen bewohnt, die teils von Persien, teils von den turkstämmigen Nomadenvölkern aus den nördlichen Steppen islamisiert worden sind. Dabei handelt es sich um Turkvölker, die schon vor dem Islam in die Region gekommen waren; allein in Dagestan leben über 20 verschiedene Nationen. Als Besonderheit für die nordkaukasischen Muslime ist erwähnen, dass unter ihnen zahlreiche mystische Bruderschaften starke Verbreitung gefunden haben, die auch maßgeblich am Widerstand gegen die russische Eroberung über Jahrhunderte hinweg beteiligt waren.
Anders als die muslimischen Bergvölker des Kaukasus können die Tataren am Wolga-Knie auf die Tradition eines Staatsgebildes zurückblicken. Kasan, die heutige Hauptstadt Tatarstans, konnte sich zumindest bis 1918 als das politische, kulturelle und religiöse Zentrum aller Tataren und Turkvölker weit über die Wolgaregion hinaus, auch der nichtmuslimischen Tataren, behaupten. Befördert durch die Industrialisierung der Region begann sich ab der Mitte des 18. Jahrhunderts eine tatarische Bourgeoisie und Intelligenzschicht zu entwickeln, aus der sowohl die tatarische als auch die panturkistische Idee des „Panturanismus“ entsprang. Auch die muslimische Reformbewegung des Jadidismus stammt von hier, die für eine gebildete, unternehmerfreundliche muslimische Gesellschaft eintrat, eine Islamprägung, die sich als liberal und säkular beschreiben lässt. Als zweite große muslimische Bevölkerungsgruppe in der Region sind an dieser Stelle noch die ebenfalls turkstämmigen Baschkiren zu nennen, die in der heutigen Republik Baschkortostan aber gegenüber Tataren und Russen in der Minderheit sind.
Als Folge der Eroberungen der Goldenen Horde, aber auch als Folge politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen lässt sich die Verbreitung muslimischer Tataren in weitere osteuropäische Länder beschreiben, sodass sie nicht nur in Russland die größte von etwa 40 muslimischen „Nationalitäten“ darstellen, sondern auch in anderen Staaten Mittel- und Osteuropas vertreten sind: in der Ukraine (Krimtataren), Bulgarien, Litauen, Belarus, Polen, Rumänien und der Türkei sowie als nördlichstem Siedlungsgebiet in Finnland, wo heute noch knapp 1.000 Tataren leben, die sich an die finnische Gesellschaft angepasst haben, doch als Minderheit ihre Sprache und Traditionen erhalten konnten.
In das Polnisch-Litauische Doppelreich sind bereits im 14. Jahrhundert einige Tausend Tataren gekommen, die teils aus dem Chanat der Goldenen Horde, teils aus den Chanaten an der Wolga stammten. Diese als Lipka- oder litauische Tataren bezeichneten etwa 3.000 Muslime haben sich ebenfalls stark assimiliert und ihre tatarische Sprache aufgegeben, ohne jedoch den Islam abzulegen, der eine eigene Ausprägung erfahren hat. Auch im heutigen Polen leben seit 600 Jahren muslimische Gemeinschaften tatarischer Abstammung. Polen hat damit die älteste muslimische Präsenz unter den „christlichen“ Ländern, die nicht unter muslimischer Herrschaft gestanden haben. Ein Großteil dieser muslimischen Bevölkerung hatte in Polen vor der Verfolgung im russischen Zarenreich Zuflucht gesucht, sodass im 17. Jahrhundert etwa 100.000 hauptsächlich tatarische Muslime in Polen lebten. Diese haben zügig die polnische Lebensweise und später auch einen polnisch-weißrussischen Dialekt angenommen und so schon in der Mitte des 16. Jahrhunderts ihre Charakterzüge verloren. Zugleich aber war ihr eigenes Personenstandsrecht weiterhin an Koran und Tradition ausgerichtet, ebenso wie ihr tägliches Leben. Der tatarische Adel genoss jedoch die gleichen Rechte wie der litauische und polnische Adel. Nach der dritten Teilung Polens 1795 haben die muslimischen Tataren gemeinsam mit den Polen für die Unabhängigkeit gekämpft. Nach dem Ersten Weltkrieg, als nur noch wenige tatarische Enklaven im Nordosten des nun unabhängigen Polens verblieben waren, kam es zu einem erneuten Zustrom von Muslimen besonders aus dem Kaukasus, der Krim und der mittleren Wolga. Nach dem Ersten Weltkrieg lebten etwa 6.000-7.000 tatarische Muslime in Polen. Heute bestehen traditionelle tatarische Zentren in Bohoniki, Kruszyniany und Białystok, Gemeinden finden sich aber auch in Warschau, Danzig und Stettin.
Vor dem gleichen historischen Hintergrund sind auch die etwa 100.000 Muslime in Belarus zu betrachten, die ebenfalls als assimiliert gelten, ihre Religion und Arabisch als Liturgiesprache aber beibehalten haben. Die muslimische Präsenz in der Ukraine ist größtenteils Erbe des Krim-Chanats, das im 15. Jahrhundert aus der Erbmasse des Chanats von Kasan entstanden war und dessen Gebiet im späten 18. Jahrhundert vom Russischen Reich annektiert wurde.
Fazit
Die Betrachtung der (Migrations-)Geschichte der Muslime Ost- und Südosteuropas bzw. der Islamisierung dieser Regionen zeigt, dass sich die Gleichsetzung von Muslim und Migrant nur für eine Minderheit der Muslime in Europa aufrechterhalten lässt, nämlich für die etwa 12 Millionen Muslime in Westeuropa. Die anderen Dreiviertel der Muslime in Europa sind als mehr oder minder alteingesessen zu erachten, auch wenn sie zumeist im Zuge von „Völkerwanderungen“ wie die Slawen auf den Balkan und die Tataren nach Osteuropa vordrangen. Durch die Verbreitung des Islam in Europa seit dem 8. Jahrhundert kann der Islam nicht mehr als fremde Religion betrachtet werden, am wenigsten in den regionalen Ausprägungen, von denen das Gebiet um Kasan und Bosnien bis heute eine große Ausstrahlung besitzen. Die an diesen Orten mit religiös, ethnisch und kulturell pluralen Gesellschaften entwickelten Vorstellungen islamischer Theologie und Lebensweise könnten vielmehr einen Kontrapunkt zu Islamkonzepten aus Regionen mit größtenteils muslimischen Bevölkerungen bilden, die allerdings für eine Anwendung in pluralen europäischen Gesellschaften stark modifiziert werden müssen.
Fußnoten:
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http://www.islamarchiv.de/index2.html (letzter Zugriff: 29.10.2007). ↩︎
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Vgl. dazu ausführlich den Beitrag von Gerd Stricker in vorliegendem Heft (er setzt die Zahl der Muslime in Russland etwas niedriger an). ↩︎
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Vgl. dazu auch Christine von Kohl: Die Albaner und ihre Religionen. In: Ost-West. Europäische Perspektiven 2 (2001), H. 3, S. 188-196, bes. S. 192 f. ↩︎