Der Sohn des Bürgermeisters und die Medien
Eine schon fast klassische Frage in der Journalistenausbildung lautet: „Sie erfahren als Lokalreporter aus zuverlässiger Quelle, dass der Sohn des Bürgermeisters drogenabhängig ist. Wie entscheiden Sie sich: berichten oder nicht berichten?“ Für die jungen Seminarteilnehmer in Kiew ist der Fall klar: „Kommt darauf an, wem die Zeitung gehört.“ Die Antwort spiegelt den Berufsalltag vieler Journalisten in Osteuropa wider. Zwar sind die Zeiten unwiderruflich vorbei, in denen Massenmedien der „kollektive Propagandist und Agitator“ der Staatspartei zu sein hatten, doch stattdessen sind sie nun in vielen Fällen das Sprachrohr ihres jeweiligen Eigentümers, der sich eine Zeitung oder einen Sender hält, um seine Geschäfts- oder Politik-Interessen zu fördern. Ein Kenner der Ukraine beschrieb die Lage zutreffend mit dem Satz, seit der „Revolution in Orange“ seien die Medien frei – aber unabhängig seien sie nicht. Diese Diagnose gilt für viele Länder in Osteuropa.
Andererseits sind Fortschritte unübersehbar. In Bosnien-Herzegowina, wo während des Krieges Pressefreiheit nur ein Traum war, haben die Medien – auch mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft – ein respektables Maß an Unabhängigkeit erreicht, auch wenn es in jüngster Zeit zu Rückschlägen kommt. In der Ukraine ist ein Rückfall in die staatliche Presselenkung durch „temnyky“ – Anweisungen aus dem Präsidialamt, ob und wie über bestimmte Ereignisse berichtet werden durfte – auch unter einem Präsidenten Janukowitsch unvorstellbar. Denn die „Revolution in Orange“ hatte nicht einfach nur eine Elite durch eine andere ersetzt, sondern die politische Macht auf viele Kräfte verteilt. Dadurch wurde auch die Medienlandschaft offener und vielfältiger.
Gerade in Transformationszeiten zeigt sich nämlich, dass Medien und Gesellschaft keine voneinander getrennten Systeme darstellen, sondern einander bedingen, so wie zwei sich wechselseitig reflektierende Spiegel. Eine Gemeinschaft, die Gesetze als Werkzeuge zur Bekämpfung des jeweiligen Gegners begreift, wird auch in Medien nichts anderes sehen als Kampforgane. Wo allerdings Gesetze als verbindliche Regeln für alle gelten, werden Medien als Instanzen einer Zivilgesellschaft verstanden, die das Gespräch mit sich selbst und den Interessenausgleich sucht und dazu unabhängige Mittler braucht, die unterschiedliche Stimmen, Anliegen und Sichtweisen aufnehmen und in die Gesellschaft zurückgeben.
Ein Manko fast überall in Osteuropa ist die Journalistenausbildung. Wegen ihrer stark philologischen Ausrichtung kommen Fächer wie publizistische Ethik, Redaktionsmanagement oder Medienökonomie zu kurz. Dabei setzt die Frage der Unabhängigkeit von Medien unmittelbar an der Eigentumsfrage an. Unternehmensrechtliche Konstruktionen wie Stiftungen oder öffentlich-rechtliche Rundfunksysteme, welche die äußere Unabhängigkeit von Verlagen oder Sendern auf ganz bestimmte Weise zu sichern vermögen, sind weitgehend unbekannt, desgleichen institutionelle Vorkehrungen zur Sicherung der redaktionellen Autonomie nach innen. Solche Modelle gerade bei jungen Journalisten bekanntzumachen ist eine wichtige Aufgabe der internationalen Aus- und Weiterbildung, der sich auch Renovabis mit der Unterstützung des „Unabhängigen Russisch-Deutschen Instituts für Journalistik“ an der Universität Rostow am Don verschrieben hat.
Als gäbe es nicht genügend Widrigkeiten, hat die Finanzkrise die Medien in Osteuropa besonders hart getroffen. So sind in Rumänien die Anzeigenerlöse der Printmedien im Jahr 2009 um bis zu 70 Prozent eingebrochen. Um so bemerkenswerter nehmen sich der Optimismus und in vielen Fällen auch die Courage von Verlegern und Journalisten aus, die sich in ihrem Streben nach Professionalität nicht beirren lassen. Stellvertretend sei ein Chefredakteur in Sankt Petersburg erwähnt, der glaubwürdig sagt: „Wer für Gefälligkeitsartikel Geld nimmt, fliegt raus.“
Über all das, über beachtliche Fortschritte ebenso wie über bittere Rückschläge, informiert dieses Themenheft. Und was ist mit dem Sohn des Bürgermeisters? Berichten oder nicht? Wenn das nicht mehr nach einer Freund-Feind-Logik, sondern aufgrund berufsethisch geprägter Abwägung entschieden wird, ist viel gewonnen.