Albanische Literatur: Erforschung und aktuelle Situation
I.
Als 1983 in Tirana die amtlich genehmigte „Geschichte der albanischen Literatur“ erschien, konnte dies sowohl als bedeutender Erfolg wie auch als eine nationale Tragödie gewertet werden. Der 629-seitige Band, genannt Historia e letërsisë shqiptare: që nga fillimet deri te lufta antifashiste nacionalçlirimtare (Geschichte der albanischen Literatur: von den Anfängen bis zum antifaschistischen nationalen Befreiungskampf), wurde – mit dem Segen der albanischen Arbeiterpartei – von der Albanischen Akademie für Wissenschaften unter der Führung des Dhimitër Shuteriqi (1915-2003) veröffentlicht. Wie der Titel vermuten lässt, behandelt er die Geschichte und Entwicklung der Belletristik in Albanien von den frühesten Texten bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs. Die führenden Mitarbeiter waren allesamt anerkannte Forscher des Instituts für Sprache und Literatur der Akademie für Wissenschaften in Tirana: Ali Xhiku für die frühe islamische Literatur, Klara Kodra (geb. 1944) für italo-albanische Literatur, Razi Brahimi (geb. 1931) für die Rilindja-Literatur (d. h. Literatur der nationalen Wiedergeburt) des späten 19. Jahrhunderts, Dhimitër Fullani für die Literatur des frühen 20. Jahrhunderts und Vehbi Bala (1923-1990) für den politisch sensiblen Zeitraum bis 1939. Weitere wichtige Beiträge stammten von Jorgo Bulo (geb. 1939) und Mahir Domi (1915-2000). Dieser Band sollte die zweibändige Ausgabe, die 1959 von der Akademie veröffentlicht wurde, ersetzen.
Die Literaturgeschichte von 1983 behandelte die kulturellen Teilgebiete, Strömungen und Bewegungen der albanischen Literatur bis zum Jahre 1939 und tat dies in umfassender Weise und mit größerer Sorgfalt als die schwache Ausgabe des Jahres 1959. Ihre vorrangige Bedeutung liegt darin, dass sie als Anleitung und Nachschlagewerk für eine ganze Generation von Albanern sowohl in Albanien als auch im Kosovo diente und für den Unterricht in allen Schulen und Universitäten Verwendung fand. Somit brachte sie den Albanern bei, was sie wissen mussten und, was noch wichtiger ist, was sie über die Literatur ihres Landes denken sollten. Dabei wertet sie die albanische Literatur und Kultur von einem streng konservativen Standpunkt aus und hält an verschiedenen – leider heute noch gängigen – Vorurteilen fest. Aus der Perspektive der zeitgenössischen Forschung stellt sie eine schwache, eher schädliche Leistung dar. Es wäre jedoch ungerecht, alle Autoren und Mitarbeiter des Werkes zu verdammen. Die meisten von ihnen haben unter extrem schwierigen Bedingungen ihr Bestes gegeben.
Man darf in diesem Zusammenhang nicht außer Acht lassen, dass die Albaner nach mehreren politisch motivierten Säuberungswellen seit Mitte der siebziger Jahre von der Außenwelt abgeschlossen lebten. Hinzu kommt, dass die meisten Autoren der neuen Generation nicht alt genug waren, um etwas anderes als das kommunistische Regime zu kennen, dem sie bedingungslos dienten. Die große Ausnahme war Dhimitër Shuteriqi, Chefredakteur der Ausgabe von 1983, der in den dreißiger Jahren im Ausland studiert hatte, sich dann aber den kommunistischen Partisanen anschloss. Was auch immer man über die politischen und persönlichen Kompromisse denken mag, die er im Laufe seines Lebens machte, eines steht fest: Shuteriqi war ein leidenschaftlich engagierter Erforscher albanischer Literatur und Kultur und darf auf seinem Gebiet durchaus als Bahnbrecher bezeichnet werden.
Weitere literarische Studien, die während der Diktatur in Tirana veröffentlicht wurden, beispielsweise die im Jahre 1978 von Koço Bihiku herausgegebene Historia e letërsisë shqiptare të realizmit socialist (Geschichte der albanischen Literatur im sozialistischen Realismus) oder die vom selben Autor herausgegebene „Geschichte der albanischen Literatur“ (für ein ausländisches Lesepublikum 1980 auf Englisch und Französisch, 1981 auf Italienisch und 1983 in russischer Übersetzung erschienen) sind ohne Bedeutung.
II.
Wie kam es dazu, dass die „Geschichte der albanischen Literatur“ des Jahres 1983 zur „nationalen Tragödie“ wurde, wie ich es oben behauptet habe? Im Wesentlichen, weil sie von Anfang bis zum Ende von zwei extremistischen Ideologien durchdrungen ist, die sie als objektives Instrument der Wissenschaft gewissermaßen nutzlos machen.
Zum einen unterwirft sie die von ihr behandelten Werke einer primitiven stalinistischen Interpretation des Sozialismus und interpretiert 500 Jahre Schrifttum aus dem Blickwinkel des Klassenkampfes. Sie scheint fast alle Autoren, sogar jene aus früheren Jahrhunderten, in künstliche Kategorien von „progressiv“ und „reaktionär“ einordnen zu wollen. Die so genannten Reaktionäre werden meistens knapp und negativ bzw. überhaupt nicht behandelt. Bestes Beispiel hierfür ist die dürftige und zum Teil ungerechte Darstellung des Gjergj Fishta, der nach dem Erscheinen der vollständigen Ausgabe seines 15.000-zeiligen Nationalepos „Die Laute des Hochlandes“ (Lahuta e Malcís) als „albanischer Homer“ gepriesen und vor dem Zweiten Weltkrieg als der albanische Nationaldichter schlechthin angesehen wurde. 1983 wird er wie folgt vorgestellt:
Der Hauptvertreter dieses Klerus, Gjergj Fishta (1871-1940), Dichter, Publizist, Lehrer und Politiker, betrieb den Verlag des Franziskanerordens und leitete die kulturellen und pädagogischen Aktivitäten dieses Ordens über eine lange Zeit hinweg. Die Interessen der Kirche und der Religion waren für ihn wichtiger als jene der Nation und der Bevölkerung, was er auch offen kundtat und mit all seiner Demagogie und all seinem Zynismus verteidigte; dieses Verhalten lag auch seiner literarischen Arbeit zugrunde. Sein Hauptwerk, das epische Gedicht „Lahuta e Malcís“ (Die Laute des Hochlandes) greift den Chauvinismus unserer Nachbarn im Norden an, propagiert antislawische Gefühle und betrachtet den Kampf gegen die osmanischen Besetzer als zweitrangig. Er erhob eine Hymne zu Ehren des Patriarchalismus und des Feudalismus, des religiösen Obskurantismus und Klerikalismus und spielte mit patriotischen Empfindungen, wo immer es darum ging, Ereignisse der nationalen Geschichte unserer Wiedergeburt darzustellen. Seine anderen Arbeiten, wie beispielsweise das satirische Gedicht „Gomari i Babatasit“ (Babatasis Esel), in dem die laizistische Schulausbildung und demokratische Ideen erbittert angegriffen wurden, waren charakteristisch für den grausamen Kampf, den die katholische Kirche führte, um ihren Einfluss auf das intellektuelle Leben des Landes aufrechtzuerhalten und zu stärken. Mit seiner Kunst erstrebte er, einer dicht bei der Folklore liegenden Form seinen Dienst zu erweisen. Dies ging oft einher mit Weitschweifigkeit, weit hergeholten Effekten, Rhetorik, Brutalität der Ausdrucksweise bis hin zur Vulgarität, falschen Argumenten, die er absichtlich einbezog, um zu beeindrucken, und einer außerordentlich konservativen Haltung auf dem Gebiet der Sprache. Fishta war am Ende seines Lebens Mitglied der Akademie des faschistischen Italiens.“
Zum anderen ist die Literaturgeschichte von 1983 von der Ideologie des albanischen Nationalismus durchdrungen. Das kreative Schrifttum in Albanien wurde vom Anfang bis zum Ende als Ausdruck des albanischen Patriotismus gesehen. Obwohl dies in manchen Fällen zutreffen mag und es zugegebenermaßen starke Beziehungen zwischen dem Aufstieg der albanischen Literatur und jenem der nationalistischen Bewegung gibt, hofft man bei der Lektüre, dass man zur Abwechslung einmal auf einen albanischen Schriftsteller stößt, der kein „Patriot“ ist und nicht gegen ausländische Unterdrücker und inländische Verräter kämpft. Vorgabe war, dass gute Literatur patriotische Literatur sein müsste, alles andere war entbehrlich.
Die „Geschichte“ von 1983 wagte sich nicht über das Jahr 1939 hinaus, wenngleich sie mühelos die Entwicklung der albanischen Literatur bis in die ersten Jahrzehnte der sozialistischen Literatur, also bis 1970, hätte skizzieren können. Ebensowenig berichtete sie viel über die Literatur der anderen Hälfte der albanischen Nation – die des Kosovo und anderer von Albanern besiedelten Teile des ehemaligen Jugoslawien. Trotz dieser Schwächen erschien die „Geschichte“ des Jahres 1983 in großen Auflagen und wurde auch zahlreich nachgedruckt – zuletzt in Prishtina im Jahre 1990. In albanischen Schulen und Universitäten findet sie als grundlegendes Handbuch zur albanischen Literatur und Schriftkultur bis zum heutigen Tag Verwendung.
III.
Es mag einigen polemisch wirken, wenn ich die Ausgabe des Jahres 1983 als „nationale Tragödie“ bezeichne. Dies tue ich nicht, um für meine spätere Arbeit „Albanian Literature: a short History“ (London 2005) zu werben, die albanisch unter dem Titel Letërsia shqipe: një histori e shkurtër (Tirana 2006) erschienen ist, sondern um den Einfluss solcher Standardwerke aus der stalinistischen Zeit anzuprangern, die sich immer noch auf das zeitgenössische Denken in der albanischen Welt auswirken. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass zeitgenössische albanische Forscher und Gelehrte sich nach den guten alten Zeiten des Kommunismus sehnen. Dies ist eindeutig nicht der Fall. Der Kommunismus als Ideologie verabschiedete sich aus dem Denken beinahe aller Albaner lange vor dem Fall der Diktatur 1990/91. Es gibt keine Nostalgie in der Bevölkerung, jedoch sehr wohl Überreste einer veralteten ethnozentrischen Ideologie, die mit übertriebenen Behauptungen weiterhin die Forschung im Bereich der albanischen Literatur und Kultur verzerrt und verfälscht. Die gleichen Überreste findet man im Bereich der Geschichtswissenschaften, wo man sich heute noch gern auf veraltete Denkweisen – im Sinne eines Kampfes zwischen Gut, d. h. die Sache der Nation – und Böse, d. h. alles andere – stützt.
Kurz gesagt, was wir brauchen, sind neue, verlässliche Texte zur Literatur, Geschichte und Kultur des Landes, die von einheimischen Forschern und Fachleuten verfasst und veröffentlicht werden, Texte, die sorgfältig entpolitisiert und soweit wie möglich von allen Ideologien bereinigt werden. Solange die Situation bleibt, wie sie ist, werden Schulen und Universitäten weiterhin irrtümliche Behauptungen und naive Ansichten verbreiten und verewigen.
Seit dem Fall der Diktatur hat es die albanische Wissenschaft und Forschung nicht einfach gehabt. Der Zusammenbruch der Staatsstrukturen in Albanien und im Kosovo führte zu einem eklatanten Mangel an Mitteln für die Forscher. Daher suchen sie meistens nach alternativen Einkommensquellen, um ihre Familien zu ernähren. Noch bedenklicher ist die Tatsache, dass keine neue Generation von Experten nachgewachsen ist, um die jetzigen, alt gewordenen Gelehrten in der Albanienforschung zu ersetzen. Ehrlich gesagt, wird in der albanischen Welt seit Jahren kaum Forschung betrieben. Die meisten neuen Publikationen sind Neudrucke älterer Arbeiten oder Übersetzungen fremdsprachiger Klassiker im Bereich der Albanienforschung. Die Zukunft auf diesem Gebiet sieht leider nicht sehr vielversprechend aus.
IV.
Wenden wir nun den Blick von der Forschung ab und kehren wir zur Literatur und zum Verlagswesen zurück. Auf diesem Gebiet sieht es erfreulicher aus, denn heute gibt es mehr Verlage und mehr Bücher als je zuvor in Albanien. Die Buchhandlungen quellen über vor Büchern, und angesichts des winzigen albanischsprachigen Marktes wundert man sich, wer dies alles liest! Im Bereich der Belletristik haben neue Bücher die Einzelhandelsgeschäfte überflutet, und es werden von Jahr zu Jahr mehr.
Nach Jahrzehnten der Isolation interessieren sich die Albaner verständlicherweise mehr für ausländische Literatur als für Werke ihrer eigenen Schriftsteller. Daher stellen ausländische, ins Albanische übersetzte Werke einen zunehmenden Anteil neuer literarischer Veröffentlichungen dar. In Albanisch geschriebene Literatur hat somit auf dem Markt einen verringerten Stellenwert erhalten, obwohl dies nicht bedeutet, dass die Produktion gesunken ist.
Albanische Schriftsteller haben von ihren neuen Kontakten mit der Welt und mit der Weltliteratur gelernt und profitiert. Doch die Statistiken zeigen, dass sie gleichzeitig auch große Probleme damit haben, im internationalen Wettbewerb mitzuhalten. Nach Jahren herber Erfahrungen haben viele albanische Leser der albanischen Literatur den Rücken zugekehrt und richten trotz der häufig schäbigen Übersetzungen ihre Aufmerksamkeit nun ausschließlich auf ins Albanische übersetzte Weltliteratur. Mitte der neunziger Jahre wurden mit Ausnahme der Werke von Ismail Kadare nur von wenigen in Tirana veröffentlichten Autoren mehr als 100 Exemplare verkauft. Gleichwohl haben albanische Prosa und Poesie trotz der heftigen Konkurrenz durch Übersetzungen überlebt und florieren im bescheidenen Rahmen des albanischen Marktes. Auf jeden Fall gibt es in Albanien eine ausreichende Anzahl lesbarer Prosaschriftsteller, von denen viele zu jung sind, um von den Schrecken der politischen Vergangenheit Albaniens beeinflusst worden zu sein. Sie wuchsen in einer neuen, offeneren Umgebung auf und tragen dazu bei, frischen Wind in die einst schale und erdrückende Atmosphäre der albanischen Literaturkultur zu bringen.
Leider verfügt Albanien über keine Tradition der Literaturkritik. Neue Veröffentlichungen werden selbstverständlich in Zeitungen und Zeitschriften erwähnt und präsentiert. Es gibt immer noch keinen professionellen und angesehenen Literaturkritiker in Tirana und es ist zu bezweifeln, dass ein solcher in den kommenden Jahren auftauchen wird. Ebensowenig gibt es in Tirana fundierte und verlässliche Studien über die zeitgenössische albanische Literatur. Demzufolge ist der albanische Leser generell misstrauisch und desorientiert, und es herrscht zunehmend der Verdacht, albanische Schriftsteller produzierten lediglich mangelhafte Werke ohne bleibenden Wert. Man würde es niemandem übel nehmen, der den Zustand von fast allem in Albanien gesehen hat – die Infrastruktur des Landes, wie beispielsweise die Straßen, das Bildungssystem, die Krankenhäuser, die Elektrizitäts- und Wasserversorgung usw. –, wenn er vermuten würde, dass die albanische Literatur sich in einem ähnlichen Zustand der Unterentwicklung befände. Glücklicherweise gibt es Ausnahmen, gewissermaßen noch ungeschliffene Diamanten unter Tage.
Ein weiteres Phänomen, das sich negativ auf die albanische Literatur und Kultur der vergangenen Jahre auswirkte und, so könnte man sagen, auch die albanische Gesellschaft in ihrer Ganzheit in diesem negativen Sinn beeinflusste, ist die Massenauswanderung. Nach dem Zusammenbruch des albanischen Staates im März 1997 infolge der verheerenden Wirtschaftskrise und mit der Plünderung von Militäranlagen und Waffenlagern im ganzen Land glaubten viele Menschen, keine Zukunft mehr in ihrem Heimatland zu haben. Not und Entbehrung gehörten von jeher zum Leben in Albanien, doch die Geduld, die bis zu diesem Zeitpunkt vorherrschte, fand nun ein Ende. Am Ende des 20. Jahrhunderts hatte die überwiegende Mehrheit von Schriftstellern und Intellektuellen, jungen wie alten, Albanien tatsächlich verlassen, um ein besseres Leben im Ausland zu suchen. Nur wenige werden jemals zurückkehren.
V.
Die frühen neunziger Jahre bildeten auch einen Wendepunkt für die Albaner im Kosovo und in Makedonien. Das kommunistische Regime in Jugoslawien war, ebenso wie Jugoslawien selbst, zusammengebrochen. Die Kosovo-Albaner, die unter der rücksichtlosen Vorherrschaft der Serben standen, wurden mit einer entsetzlichen Form der Diskriminierung konfrontiert: eine fast systematische ethnische Verfolgung und letztendlich ethnische Säuberung. Politisch befand sich das Land in einer Abwärtsspirale, aus der sich zwangsläufig sowohl der Krieg von 1999 als auch die endgültige Befreiung nach so vielen Jahren der Qual ergab.
Schriftsteller im Kosovo hatten im Vergleich zu ihren Kollegen in Albanien selbst kein Bedürfnis bzw. keine Absicht, ihr Land zu verlassen. Sie fühlten sich verpflichtet, eine neue Nation aufzubauen. Bis zur zweiten Hälfte der neunziger Jahre wurde die politische und wirtschaftliche Situation im Kosovo jedoch so unhaltbar, dass viele Autoren keine andere Wahl hatten, als aus dem Land – und somit vor einer Haftstrafe oder gar Ermordung – zu fliehen. Dennoch pflegten die Kosovo-Albaner selbst in den dunkelsten Stunden der serbischen Herrschaft in Prishtina nach wie vor ihre Kultur. Für diese Menschen waren Bücher Zeichen des Widerstandes gegenüber der serbischen Kulturhegemonie. Die Serben selbst, die gelernt hatten, die Albaner als „Unterrasse“ zu betrachten, empfanden allein den Gedanken an kreative Literatur auf Albanisch als lächerlich. Von daher hatte Belgrad, sobald es seine politische Kontrolle über die Kosovo-Albaner verloren hatte, keine Möglichkeit und sicherlich auch kein besonderes Interesse mehr, albanische Bücher zu verbieten oder zu zensieren. Einhergehend mit Belgrads illegaler Übernahme und Auflösung des staatseigenen Rilindja-Verlags verschwanden jedoch die Qualitätskontrollen in der Herausgabe, so wie es auch in Albanien geschah. Verteilt auf Motorhauben wurden Bücher im gesamten Kosovo nun an Straßenecken verhökert. All ihre Spuren konnten augenblicklich beseitigt werden, falls die serbische Polizei sich doch einzuschreiten entschloss. Die Kosovo-Albaner waren auf jedes dieser Bücher stolz, obwohl nur wenige davon tatsächlich gelesen wurden.
Seit der Befreiung im Juni 1999 entwickelte sich der Büchermarkt zwar langsam, jedoch unbehindert. Was die Belletristik anbelangt, stellt der Kosovo umsatzmäßig nur 10 bis 15 Prozent des gesamtalbanischen Marktes dar. Somit hinkt er proportional gesehen weit hinter Albanien her.
VI.
Wenn man nach der Haupterrungenschaft der Schriftkultur Albaniens in den letzten Jahrzehnten fragen würde, könnte die Antwort sicherlich wie folgt lauten: „Poesie, hier, dort und überall!“ Im Gegensatz zur westlichen Literatur stellen Lyrikbände immer noch den größten Anteil der literarischen Produktion dar. Dies gilt für alle großen Zentren des albanischsprachigen Verlagswesens: Tirana, Prishtina, Skopje, Shkodrë und Tetovo. Sogar unter den schweren Bedingungen einer freien Marktwirtschaft in einer unterentwickelten Region gelang es der albanischen Dichtung, zu überleben und ihren Schwung zu bewahren.
Wenn sich ärmliche und schlecht gebildete albanische Emigranten und Asylanten in Westeuropa oder in Nordamerika in ihren oft schäbigen und immer raucherfüllten Vereinen treffen, kommen sie häufig zu einer Dichterlesung zusammen. Hier drückt sich am besten die Seele der albanischen Nation aus.
Sowohl in Albanien als auch im Kosovo steht es der modernen albanischen Literatur heute erstmals frei, sich zu entwickeln und ihren eigenen Weg zu gehen. Jahrzehntelang während der kommunistischen Diktatur, ja bis hin zu den letzten Monaten der Serbenherrschaft im Kosovo, hielten die jeweiligen Herrscher die Grenze zwischen beiden Hälften der Nation geschlossen. Nur wenige überquerten sie ohne schmerzhafte Folgen. Im Vergleich dazu war die Berliner Mauer zwischen den beiden Teilen Deutschlands ein Sieb. Die auferlegte Trennung ist auch Ursache für die Entstehung zweier völlig verschiedener albanischer Kulturen und zweier verschiedener albanischer Literaturen. Seit 1999 lernen sich die beiden Länder nun kennen und gewöhnen sich allmählich aneinander. Diese behutsame Annäherung war für beide Teile ein oft schmerzhafter Prozess und für die jeweils Betroffenen nicht immer leicht; es entstanden viele Missverständnisse. Dennoch erwies sich der Austausch an Erfahrungen als fruchtbar und bewusstseinserweiternd für Schriftsteller auf beiden Seiten der Grenze. Zum ersten Mal sind sie zu Mitgliedern einer gemeinsamen Literaturkultur geworden, einer Kultur, die nun doppelt so groß und um ein Vielfaches mannigfaltiger ist als die der beiden kleineren, die sie bisher kannten. Die albanische Literatur ist bereichert worden. Ihr zartes Pflänzchen, dessen Stiele und Wurzeln im Laufe der Geschichte so häufig aus dem dürftigen Boden der Balkanhalbinsel herausgerissen wurden, erblüht aufs Neue.