OWEP 4/2010
Schwerpunkt:
Albanien
Editorial
Albanien – welche Bilder und Begriffe verbindet der Mitteleuropäer mit diesem Land? Viele Deutsche werden an „Durch das Land der Skipetaren“ von Karl May denken, worin wildromantische Landschaften mit stolzen, oft verwegen gezeichneten Bewohnern auftreten. Zu einem ähnlichen Urteil kommt Joseph Roth, der das Land 1927 bereiste: Gastfreundschaft und Offenheit sind ebenso anzutreffen wie Gesetzlosigkeit und sogar Blutrache – der Leser wähnt sich fernab von der Zivilisation Europas irgendwo in einer fast schon orientalischen Atmosphäre zwischen viel Licht und noch mehr Schatten. Dann fällt vielleicht noch das Wort „Steinzeitkommunismus“ für die Zeit zwischen 1945 und 1990, in der sich Albanien vom übrigen Europa nach und nach völlig abgeschottet hat. Und was kam danach: Massenflucht, politisches und gesellschaftliches Chaos und trotz aller Erfolge der letzten Jahre immer noch ein Land im äußersten Hinterhof Europas?
Viele Albaner werden einräumen, dass die oben angeführten Klischees trotz aller Pauschalität viel Wahres enthalten. Dennoch tut man dem Land und seinen Menschen unrecht, bliebe man dabei stehen. Albanien ist ein faszinierendes Land im Aufbruch mit einer der jüngsten Bevölkerungen Europas. Gerade die Jugend versucht, in schnellen, gelegentlich sicher auch übereilten Schritten nachzuholen, was über Jahrzehnte in diesem ehemals verschlossensten Land Europas nicht möglich war. Das vorliegende Heft lädt ein, sich mit Geschichte und Kultur Albaniens auseinanderzusetzen und damit dem „Land der Skipetaren“ ein wenig gerechter zu werden.
Die Redaktion der Zeitschrift OST-WEST. Europäische Perspektiven möchte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass die Zeitschrift ab Beginn des kommenden Jahres im Verlag Friedrich Pustet, Regensburg, erscheinen wird. Verbunden damit ist der Dank an den Matthias-Grünewald Verlag der Schwabenverlag AG, Ostfildern, den bisherigen Partner der Zeitschrift, für die langjährige gute Zusammenarbeit.
Die Redaktion
Kurzinfo
Kein Staat im ehemaligen Ostblock war über Jahrzehnte so isoliert wie Albanien, das „Land der Skipetaren“ im Südosten des Kontinents. Seit den sechziger Jahren schloss sich der Kleinstaat nach und nach von allen Nachbarn ab, brach erst mit der Sowjetunion, dann auch mit der Volksrepublik China und hielt bis zum Ende der achtziger Jahre an den Lehren des Marxismus in stalinistischer Prägung fest. Nur selten drangen Informationen aus dem Land – und plötzlich, in den Jahren der Wende vor fast einem Vierteljahrhundert, öffnete sich das Land schlagartig, aber nur, um nun Bilder einer chaotischen Massenflucht in die Welt zu schicken. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft – alles geriet in jenen turbulenten Jahren in Bewegung und ist immer noch nicht zur Ruhe gekommen.
Die meisten Deutschen haben ebenso wie ihre europäischen Nachbarn nur vage Vorstellungen von Albanien. Das vorliegende Heft möchte daher in mehreren Schritten Informationen aus Geschichte und Gegenwart vermitteln, die dazu beitragen sollen, das Dickicht aus Halbwahrheiten, Klischees und Mythen ein wenig zu lichten. Der Historiker Dr. Michael Schmidt-Neke, Kiel, geht dazu in acht Leitfragen auf die Eckpunkte der albanischen Geschichte ein. Fabian Schmidt, Redakteur der Deutschen Welle in Bonn, erläutert anschließend die außenpolitischen Ziele des demokratischen Albaniens. Den Zustand der Gesellschaft – hier tun sich noch immer starke Brüche auf – beschreibt die Schriftstellerin Dr. Lindita Arapi in ihrem Essay über „ein normales und ein anormales Albanien“. Eine wichtige Rolle für die Identität der Albaner spielte immer auch die Literatur; über die Entwicklungen vor und nach der politisch-gesellschaftlichen Wende informiert ein Beitrag von Dr. Robert Elsie.
Vier weitere Beiträge des Heftes befassen sich mit Kultur und Religion der Albaner, die kaum voneinander zu trennen sind. Ein wichtiges, oft genanntes Schlagwort lautet „Die Religion der Albaner ist das Albanertum.“ Die Ethnologin Stephanie Schwandner-Sievers, London, analysiert das Verhältnis von Religion und Nation in Albanien und zeigt, dass es keine scharfen Grenzen zwischen Muslimen und Christen bzw. Katholiken und Orthodoxen gibt, vielmehr seit Jahrhunderten übergreifende Lebensformen existieren und den Alltag bestimmen. Manche Bräuche wurzeln in archaischen Vorzeiten und wirken trotz aller Versuche zur Überwindung bis heute fort, so etwa die vor allem im überwiegend christlich geprägten Nordalbanien noch immer praktizierte Blutrache. Die Theologin Hildegard Sühling vermittelt dazu Kerninformation, Schwester Maria Christina Färber, Mitglied der „Spirituellen Weggemeinschaft“, schildert in aufrüttelnder Sprache ihre Erfahrungen mit der Blutrache in den Bergdörfern Nordalbaniens. Kultur, Tradition, Alltag der kleinen Leute stehen schließlich auch im Mittelpunkt des Beitrags von Johann Beger, der als Freiwilliger der Friedensorganisation „Initiative Christen für Europa“ von September 2009 bis August 2010 ein Jahr in Albanien gelebt hat.
Politische und wirtschaftliche Eckdaten über Albanien sowie Hinweise zu den kirchlichen Strukturen bietet die Länderinformation, die Herbert Schedler, Projektreferent bei Renovabis, zusammengestellt hat. Sein Beitrag enthält auch knappe Hinweise zur Projektarbeit von Renovabis in Albanien. Praktische Maßnahmen in Bereichen wie „Schutz der Menschenrechte, „Vorsorge für Migranten“ und „Umweltschutz“ sind Arbeitsgebiete vieler kirchlicher und nichtkirchlicher Organisationen. Zu ihnen zählt auch Justitia et Pax Albanien. Generalsekretär Luigj Mila beschreibt in einem Interview die Entstehung dieser Organisation und einzelne Tätigkeitsfelder. Mit der Rubrik „Reiseimpressionen“ wird dem Leser die Möglichkeit eines Vergleichs geboten. Nacheinander beschreiben zwei Texte auf sehr persönliche Weise Land und Leute. Autor des ersten Textes ist der aus Galizien stammende Joseph Roth (1894-1939), einer der bedeutendsten deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts, der 1927 Albanien bereiste und darüber mehrere Beiträge schrieb, aus denen das vorliegende Heft eine Auswahl bietet. Dr. Lindita Arapi legt eine Sicht ihrer Heimat in der „Sommeraufnahme 2009“ dar. Abgeschlossen wird das Heft mit weiterführenden Literaturhinweisen.
Beigelegt ist Heft 4/2010 auch das Gesamtjahresverzeichnis der Zeitschrift OST-WEST. Europäische Perspektiven für den 11. Jahrgang 2010. Hingewiesen sei an dieser Stelle bereits auf den Schwerpunkt von OWEP 1/2011. Das Heft ist dem Thema „Polen und Russland – eine schwierige Beziehung“ gewidmet.
Dr. Christof Dahm