Reise nach Albanien (1927)

(Reiseimpressionen)
aus OWEP 4/2010  •  von Joseph Roth

Der aus Galizien stammende Joseph Roth (1894-1939) zählt zu den bedeutendsten deutschsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts, dessen umfangreiches Werk vor allem der Erinnerung an die österreichisch-ungarische Monarchie galt (z. B. „Radetzkymarsch“, „Die Kapuzinergruft“). Er starb im Exil in Paris. Auch als Journalist hat sich Roth einen Namen gemacht. 1927 reiste er nach Albanien und veröffentlichte über seine Eindrücke mehrere Reportagen. Die folgenden Beiträge, hier in Auszügen wiedergegeben, wurden am 11. Juni, 15. Juni und 30. Juli 1927 in der „Frankfurter Zeitung“ veröffentlicht.

Einzug in Albanien

Das Meer ist still, die Wolken hängen festgenagelt am Himmel wie Bilder an der Wand, auf dem Wasser schwimmt ein Geisterboot ohne Schwanken an einem unsichtbaren Seil dem Schiff entgegen, um mich abzuholen. Es sind nur zwei an Bord, die nach Albanien gehen: ein Mann, der im Lande der Bärte Gillette-Apparate verkaufen will, und ich.

In einer undurchsichtigen Wolke aus Staub, im Donner platzender Pneumatiks, empor- und zurückgeschleudert von echten Fordspiralen, fahre ich die Landstraße entlang, Tirana entgegen. Sooft ein Pneumatik ausgewechselt werden muß, steige ich aus, sehe zu, wie der Staub sich verzieht, wie die Kulissen der Landschaft sichtbar werden, Berge aus einem gespenstischen Violett, Wiesen aus doppelt übermaltem Grün, ein Himmel aus stabilem Blau, ein Himmel aus Stoff, ein Himmel ohne Fältchen, sauber gespannt, eine gebügelte Wölbung. Arbeiter bessern die Landstraße aus. Immer stehen ein paar Männer gebückt nebeneinander, wie spielende Knaben in einem Kindergarten am Vormittag sammeln sie auf winzigen Spaten oder in bloßen Händen kleine Sandhäufchen, schütten sie in Mulden und Gruben, streuen ein paar Steinchen darauf, benetzen das Ganze mit Wasser aus Gießkännchen und stampfen es fest mit nackten Füßen. Sobald der Fordwagen darübergehopst ist, dürfen sie ihr Spiel von neuem beginnen.

Links am Wegrand zieht sich ein Schienenstrang dahin, schmalspuriges Andenken an die Österreicher im Weltkrieg, heute dem Verderben anheimgelegt und dem Rost hinterlassenden Zahn der Zeit.

Endlich tritt aus einem weißen Häuschen ein schwarzer Polizist, der Deutsch sprechen kann, den Paß an sich nimmt und das Ehrenwort gibt, daß er sich morgen in der Polizei von Tirana vorfinden werde.

Da fängt also Tirana an, die Hauptstadt von Albanien. Rechts eine Moschee, links eine primitive Kaffeeterrasse, auf der Gäste gebraten werden und Feze diskutieren. Die Moschee ist eine Kaserne. Soldaten mit Gewehren bewachen sich selbst. Alle Hotels sind besetzt, Journalisten sind hierhergeeilt, Diplomaten und Abgeordnete, Offiziere aus England und Italien, es tagt das Parlament, Tirana ist eine Sensationsgrube, Verwicklungen liegen auf der Straße, das ganze Land ein Zankapfel. Brave Bürger wandeln in der Mitte der Straße, mit langen Gewehren gegen Sonnenstich ausgerüstet, schwere Trommelrevolver in breiten, oft geschlungenen, roten Gürteln. Die Maulesel, mit dichtgefüllten Körben an den Flanken, flanieren auf dem Bürgersteig und warten wie Hunde vor den Läden auf die einkaufenden Herren. Da reitet herrlich der kommandierende General der albanischen Armee, Herr Djemal Aranitas auf edlem Schimmel, kleine schwarze Schuhputzer fliehen ihm aus dem Weg, ein Knappe folgt ihm, eben hat er die Armee inspiziert, deshalb marschierte er so traurig, kein Staat ohne General, kein General ohne Schimmel. Gold blitzt auf seinen Schultern, und mit lässiger Hand grüßt er Bekannte vom Stammtisch.

Die Hauptstadt Tirana

Die Einwohner von Tirana lieben Blumen und Musik. Man sieht diese Männer mit Rosen im Mund. Sie benützen ihn als Knopfloch.

Tirana ist, sieht man von seiner musikalischen Begabung ab, eine ruhige Stadt. Wenn zufällig nicht geblasen wird, hört man die Hähne krähen, die Hämmer der fellachischen Schmiede aus dem Basar und das regelmäßige Rufen von den Minaretten. Die Sonne brütet auf dem Staub der Straße. Er kocht in ihrer Wärme, zerfällt gleichsam in noch feineren, dünneren Staub, löst sich in der Atmosphäre auf, verschwindet in der blauen Luft, ohne daß man die Straße gesprengt und gesäubert hätte. Man erzählt sich, daß jeden Morgen ein junger Mann mit einer Gießkanne vom Magistrat ausgesandt wird, zur Einhaltung der Hygiene. Niemand hat ihn mit eigenen Augen gesehen. Dagegen werden für den Fortschritt Kasernen gebaut. Der Motor, der die elektrische Beleuchtung nähren soll, ist zu schwach für diese sechzig Glühbirnen. In der Nacht entzünden sie sich. Aber sie sehen aus wie glühende Kohlen. Sie hängen auf den Drähten, eine Art hingerichteter Leuchtkäfer.

Man hat Straßenzüge durchbrochen, Häuser gespalten und skalpiert, um Tirana modern und residenzfähig zu machen. Die halben Häuser stehen da, mit schwarzen, offenen Eingeweiden, auf den Herden verrichten Eingeborene exotisch ihre Notdurft, ohne Pistolen und Gewehre abzulegen. Keinen Augenblick ist man vor Blutrache sicher. Schwarz und weiß verschleierte Frauen erinnern an Leichenzüge und Ku-Klux-Klan, ewige Jalousien haben sie vor den Augen, in Stoff und Gaze sind sie eingemauert. Ich wüßte gern, was sie hinter ihren Wänden machen. Sie machen mich neugierig, sie sind wie fremde beleuchtete und verhüllte Fensterscheiben. Sie sind stumm wie Tiere und abwehrend wie Tote. Weinen ihre Augen? Man kann es nicht sehen. Sie sprechen miteinander. Aber ihre Laute sind gefangen, und ihre Stimmen sickern kärglich durch die Poren der Stoffe wie klares Wasser durch ein dichtes und schmutziges Sieb.

Diese verschleierten Frauen, diese Hunderte herrenloser Hunde, die der Wind an der Leine führt, diese Feze auf den fetten Köpfen und die Turbane über bärtigen Gesichtern, diese farbigen Ansichtskarten-Bluträcher mit dem Trommelrevolver statt des Bauches, mit dem Gewehr statt des Regenschirmes – alle diese Geld verdienenden, Geschäfte machenden, in den Ämtern Bestechungen vermittelnden exotischen Philister sind überzählig und jenseits der Zeit. Es gibt nichts Langweiligeres als so genannte Volkssitten, die schon in den Leichenkammern der Ethnologie, in den Büchern und Seminarien seit dreißig Jahren seziert und immer noch spazierengeführt werden, als wären sie lebendig. Schon gibt es ein Parlament mit einer Präsidentenloge, mit einer Glocke, mit Papier für Interpellationen, mit einer Pressetribüne; schon gibt es eine Bank mit italienischen, langsamen Beamten, mit Kursen, aufgespießt auf Tafeln wie Schmetterlinge, mit einem Direktor, der Transaktionen hinge-geben ist. Schon trägt der Wirt meines Hotels in der ledernen Pistolentasche Kleingeld, auf seinem Büfett sammeln sich die ersten Schwalben der Zivilisation.

Albanien ist just auf dem Wege von der Blutrache zum Völkerbund.

Artikel über Albanien

(Geschrieben an einem heißen Tag)
Albanien ist schön, unglücklich und trotz seiner Aktualität langweilig. Die Berge sind manchmal aus einer unbestimmten klaren Substanz, man könnte sie für grünbemalte gläserne Klumpen halten. Nur an trüben Tagen, der Himmel ist dann nicht mit echten Wolken bedeckt, sondern mit einem dünnen Überzieher aus Wolkenstoff bekleidet, fühlt man, daß die Berge Gestein sind. Sie sind massiver geworden, auch unerbittlicher, das ganze Land ist wie ein abgeschlossener Hof, von natürlichen Gefängnismauern eingefasst, die Freiheit ist ein relativer Begriff, man fühlt deutlich, daß es keine Eisenbahnen gibt, uns in das Jahrhundert zu führen, das unsere Heimat ist, man fühlt, daß Schiffe, zwei Stunden, vier Stunden, zwölf Stunden von hier entfernt, nur einmal in der Woche vor einem albanischen Hafen halten, und die Exotik lastet doppelt grausam als selbstgewählte Pein. Von Berlin aus betrachtet, ist Blutrache interessanter. In ihrer Heimat aber ist sie von Schmutz, Wanzen, finsteren Nächten, zerbrochenen Petroleumlampen, fetten Spinnen, Malaria-Anfällen, trübem Seegrastee wettgemacht, gleichgültig und selbstverständlich geworden.

Unter solchen Umständen bin ich für Schönheiten der Natur weniger empfänglich als etwa die optimistischen geborenen Touristen. Ich registriere höchstens: stille blaue Tage von einer erhabenen Einfachheit, voll von einer guten Sonne, die selbst noch den Schatten brät und in jeder kühlen Felsspalte fühlbar ist, ein paar Vögel (die hier selten sind, weil man so fleißig schießt) in der Luft und selbstverständlich auch in den Zweigen, Wälder von einer unermeßbaren Stille, Tiefe, Unendlichkeit, Vergessenheit. Ein paar Häuser, fensterlos, ringsum geschlossen, taube und blinde Würfel aus Stein, plump rätselhaft und tragisch, trächtig von Schicksalen und geheimnisvoll verflucht. Auf jedem der Häuser, die so angelegt werden, dass sie einem Mörder Rast, einem Verfolgten Zuflucht, einer ganzen Sippe Sicherheit bieten, liegt der so genannte Zauber der Unheimlichkeit, dem ich lieber nicht nahe komme. Ohne die Erlaubnis des Hausherrn darf man hier nicht die elendeste Hütte betreten. Hat man aber die Erlaubnis erbeten, so ist die Gastfreundschaft herzlich und unter eigener Lebensgefahr ausgeübt. Sie ist eine schöne Sitte, die Gastfreundschaft, sie führt auch zu den edelsten Beweisen der Menschlichkeit. Aber sie hat freilich ihre guten Gründe in der egoistischen Überlegung der Menschen, die statt einer Gerichtsbarkeit die Blutrache haben, daß man sich irgendwo ausruhen muß, wenn man verfolgt wird, und daß schließlich jeder einmal verfolgt wird. Wenn man konsequent skeptisch denkt, kommt man zu der Überzeugung, daß eine gute Polizei besser ist als Gastfreundschaft. Mögen mir Albaner und andere Nationen nicht übelnehmen, daß ich einen unproduktiven Konservatismus zu schätzen nicht genug begabt bin. Die Albaner haben leider – neben anderen Eigenschaften, die ich verehre – diese eine, die ich nur verstehe: Sie sind ängstlich bedacht, alte Sitten zu bewahren, nicht nur am albanischsten zu bleiben auf Kosten der Menschlichkeit, sondern auch ihre Stammeseigenart auf Kosten der Nation zu pflegen. Diejenigen Albaner, die außerhalb des Landes wohnen, sperren sich freiwillig ab, heiraten nur untereinander und mißtrauen ihrer Umgebung. In Amerika bleiben sie Albaner, sprechen miteinander albanisch und kehren nach einigen Jahrzehnten zurück, wozu? – um in Albanien einen Gürtel aus Patronen zu tragen. Sie haben wie manche kleine Völker jene Art von nationaler Treue, die der Nation zum Aussterben verhilft und die nationale Kultur arm erhält. Daher kommt, dass die albanische Sprache heute noch kein Wort für „Liebe“ hat, nicht einmal bestimmte Bezeichnungen für die Farben des Spektrums, kein Wort für „Seele“, kein besonderes Wort für „Gott“, daß die albanische Literatur heute schon reicher, zumindest ein gewisses Abbild des heutigen albanischen Lebens sein könnte, aber immer noch so simpel ist wie etwa die ersten Lieder der europäischen Menschheit und selbst hinter der Entwicklung dieses langsamen Landes zurückbleibt. Die Stoffe der Literatur sind bukolische Familienangelegenheiten. Gleichzeitig mit dem nationalen Konservatismus lebt die Stammesfehde auf Kosten der Nation, religiöser Fanatismus auf Kosten der Religion. Denn die Albaner sind nicht etwa sehr gläubig. Aber ihre Zugehörigkeit zu einem Bekenntnis allein verführt sie, die Angehörigkeit der anderen Konfessionen mißgünstig anzusehen.