Das polnische Katyn-Problem aus russischer Sicht

aus OWEP 1/2011  •  von Marija  Rosinskaja

Marija Rosinskaja ist Redakteurin des kirchlich-wissenschaftlichen Zentrums „Orthodoxe Enzyklopädie“ in Moskau.

Zusammenfassung

Mit Katyn verbindet die russische Bevölkerung erst seit April 2010 eine größere und tragische Geschichte. Unter den Folgen der stalinistischen Herrschaft haben zwar auch die Russen gelitten, jedoch wollen viele nicht zugeben, dass der Stalinismus nicht das Werk nur einer Person gewesen ist. Den Vorwürfen von polnischer Seite, die Verbrechen der Vergangenheit würden nicht angemessen aufgearbeitet, begegnet die russische Seite mit dem Hinweis, auch Polen müsse sich um wunde Punkte in der Geschichte kümmern.

Last der Geschichte

Wenn heute in Russland das Gespräch auf Polen kommt, dann läuft es rasch auf die Erörterung der aktuellen Beziehungen zwischen den beiden Staaten hinaus, obwohl die Geschichte der russisch-polnischen Beziehungen viele Jahrhunderte zählt und daher einen breiten Themenkreis zur Diskussion anbieten könnte – zu kulturellen, ökonomischen, religiösen und anderen Aspekten des Zusammenwirkens. Dabei muss man allerdings einräumen, dass sich der Durchschnittsrusse weder besonders für die Grundlagen der Beziehungen zu Polen noch für den gegenwärtigen Zustand dieses Landes insgesamt interessiert.

Die Mehrheit der Russen stellt sich diesen Staat als eines von vielen Ländern vor, die sich in territorialer Nähe zu Russland befinden, gerät aber sogleich in Verlegenheit, wenn sie die beiderseitigen Beziehungen charakterisieren soll. Schwierigkeiten ergeben sich auch bei der Bitte, etwas über Polen zu erzählen. Am ehesten führt die Aussage dann zu der Feststellung, dass die Polen unsere slawischen Brüder seien, und zu Erinnerungen an persönliche Begegnungen mit Polen in Drittländern bzw. während einer Transitreise durch Polen im Rahmen einer Europareise. Ungeachtet der schlechten Geschichtskenntnisse der Russen ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass auch die Figur des „falschen Dmitrij“ genannt wird – obwohl hier auch eine Verwirrung darüber möglich ist, was er genau war, Russe oder Pole –, aber das historische Gedächtnis der Russen bewahrt bis heute die traurigen Erinnerungen daran, wie die Polen einstmals mit List versuchten, den russischen Zarenthron zu besetzen.1 Ebenfalls wissen viele Russen, ohne besondere Kenntnisse über die Einzelheiten zu besitzen, dass Polen mancherlei Forderungen gegenüber Russland hat, die ihnen aber in ihrer Mehrzahl unverständlich sind und infolge ihrer politischen Bedingtheit als unbegründet angesehen werden.

Katyn 2010 und die Frage der Schuld

Pressemitteilungen zufolge sind die Beziehungen zwischen den beiden Staaten wegen der Langsamkeit erschwert, mit der Russland die Frage der Anerkennung bzw. der Nichtanerkennung eigener Schuld an der Erschießung polnischer Offiziere im Wald von Katyn im Jahre 1940 untersucht. Für den Durchschnittsrussen jedoch, der sich mit der Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der polnisch-russischen Beziehungen wenig auskennt, ist die Ursache für die Appelle der polnischen Seite sowie die Glut der Emotionen in der Katyn-Frage häufig unverständlich. Und das beruht nicht nur auf dem in der russischen Gesellschaft mangelnden Interesse an der polnischen Nation, sondern auch auf dem unterschiedlichen Einfluss des historischen Gedächtnisses, wie es sich in der polnischen Gesellschaft durch eine andere Deutung einer Reihe anderer historischer Ereignisse und durch andere politische Motivationen herausgebildet hat.

Gewiss, die Apriltragödie bei Katyn, als bei einer Flugzeugkatastrophe der polnische Präsident Lech Kaczyński mit seiner Ehefrau sowie wichtige Repräsentanten der polnischen politischen Elite umkamen, stieß in Russland auf breiteste Resonanz und auf das tiefe Mitgefühl aller Russen. Es ist schwer, Worte zu finden, um die Erschütterung zu beschreiben, die die Russen damals empfanden. Gerade in jenen Tagen wurde auf dem zentralen russischen Fernsehkanal zur besten Sendezeit Andrzej Wajdas Dokumentarfilm „Katyn“ gezeigt, und vielen Russen wurde erst damals bekannt, dass sich am 10. April 2010 tatsächlich eine zweite Tragödie von Katyn ereignet hatte. Damals nämlich erfuhren die Russen, dass die polnische Gesellschaft unzufrieden war mit der Behäbigkeit, mit der Russland die Frage der Anerkennung seiner Schuld an der ersten Tragödie von Katyn untersucht. Nachdem sie aber davon Kenntnis erhalten hatten, kamen nur wenige zu der Schlussfolgerung, dass eine Beschleunigung eines solchen Schuldeingeständnisses an der Erschießung der polnischen Offiziere im Wald von Katyn notwendig sei, und sehr wenige stimmten mit der Begründung der polnischen Erwartungen an Russland überein. Die Situation, als im stärksten Nebel, der bei der April-Katastrophe eine tödliche Rolle spielte, das polnische Flugzeug Nr. 1 unter schwierigsten meteorologischen Bedingungen starrsinnig zur Landung ansetzte, ist allegorisch zu der ähnlichen Hartnäckigkeit der polnischen Aufrufe, deren Stichhaltigkeit und Ziele ziemlich stark verschleiert sind. Ungeachtet der Überzeugung, dass meteorologische Bedingungen und ein verhängnisvolles Zusammentreffen von Umständen die Katastrophe des polnischen Präsidentenflugzeuges verursacht haben, verwandelten sich die herzliche Reaktion und das aufrichtige Mitgefühl in der russischen Gesellschaft in Befürchtungen, Russland würde auch eine Schuld an der Flugzeugkatastrophe zugeschrieben werden.

Und dieser Wandel geschah nicht zufällig, denn das allgemeine Verhältnis der Russen zu den Polen ist reichlich kompliziert, und man kann es eher als zwiespältig charakterisieren. Einerseits ist das Fundament internationaler Beziehungen ohnehin ein Wohlwollen, das auf dem Bewusstsein der slawischen Einheit beruht. Zugleich aber ist es offensichtlich, dass beide Völker, ausgehend von der Geschichte, eher zu verschiedenen gegenseitigen feindseligen Bekundungen bereit sind als zu freundschaftlichen. Diese Zwiespältigkeit lässt sich ausschließlich mit dem historischen Gedächtnis über die verschiedenen sowohl freundschaftlichen als auch feindseligen Perioden der russisch-polnischen Wechselbeziehungen motivieren, mit der unterschiedlichen Wahrnehmung der verschiedenen Geschichtsperioden seitens der Polen und der Russen. Eine wohlwollende Geisteshaltung wird durch das historische Gedächtnis daran bewahrt, dass die Polen lange Zeit unmittelbare Nachbarn der Russen waren und einst sogar zum Russischen Reich gehörten, aber auch durch die Zugehörigkeit der Polen zur slawischen Familie und der linguistischen Verwandtschaft der Sprachen. Man darf nicht den polnischen Einfluss auf die Herausbildung einer russischen aristokratischen Kultur im 19. Jahrhundert vergessen, obwohl über diesen Einfluss selten gesprochen wird. Heute ist Polen kein unmittelbarer Nachbar Russlands mehr, aber die Russen akzeptieren die Polen auch weiterhin als Brudervolk. Der russische Mangel an Zutrauen zu den Polen wird sowohl durch das historische Gedächtnis als auch durch die zahlreichen, den Russen unverständlichen Beschuldigungen hervorgerufen, die Polen an die russische Adresse richten, darunter auch die Erschießungen von Katyn.

Katyn 1940 und die Frage der Schuld

Was die Schuldanerkennung besonders für die Erschießungen von Katyn betrifft, so wird von einer erdrückenden Mehrheit der Russen die Tragödie bei Katyn mit der Periode des totalitären Regimes assoziiert, mit den grausamen Stalinschen Repressionen und mit dem blutigen Krieg, die mit wenigen Ausnahmen jede Familie in dem aus vielen Nationen bestehenden Russland betreffen. Und darum fühlen sich die meisten Russen weiterhin als Opfer des Stalinregimes und nicht als seine Mitwirkenden. Für die heutigen Russen ist es schwierig, die Schuld der Funktionäre, infolge von deren Befehlen ihre Verwandten massenhaft umkamen und unerträgliche Leiden erduldeten, als die ihre anzuerkennen. Die Russen haben kein Bewusstsein dafür, dass die Stalinzeit nicht nur von Stalin selbst abhing, sondern auch von vielen anderen Sowjetbürgern. Die ganze Schuld an den Ereignissen jener Periode wird voll und ganz dem „Führer des Volkes“ auferlegt. Russland aber ist, obwohl es sich selbst als Rechtsnachfolger der Sowjetunion bezeichnet, so viele Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges (der übrigens weiterhin als „Großer Vaterländischer Krieg“ bezeichnet wird) nicht imstande, sich der Verbrechen schuldig zu bekennen, die von der Sowjetunion im Verlauf der Kriegshandlungen begangen worden sind, ganz im Gegensatz zum besiegten Deutschland. Aber dieses war ohnehin bezwungen und vollzog ein solches Schuldeingeständnis nicht ohne den Druck der Siegerstaaten.

Vor der Aufführung des Films „Katyn“ von Andrzej Wajda im russischen Fernsehen rief mich ein befreundeter Spanier an, der in Moskau arbeitet, und riet mir nachdrücklich, diesen Film anzusehen. „Du wirst viel Neues über dein Land erfahren“, sagte er. Nachdem ich jedoch den Film gesehen hatte, habe ich, wie viele andere, für mich nichts Neues erfahren. Der Film ist sehr emotional, und diese Emotionalität vermindert die Aufgaben des Films, etwas zu erforschen und Belege vorzulegen. Kein Russe behauptet, dass Katyn keine Tragödie sei. Der Schmerz von Katyn ist den Russen sehr nah und verständlich, weil fast jede russische Familie ihn erfahren hat. Unter dem Einfluss dieses Schmerzes ist es, obwohl in den Archivquellen eindeutige Hinweise und eindeutige Beweise fehlen, für die russische Gesellschaft recht leicht, dem Stalinregime auch das Verbrechen von Katyn zuzuordnen, aber kraft dieses Schmerzes ist es für sie schwierig, die Schuld für die Leiden ihrer Nächsten auf sich zu nehmen.

Aber die Hartnäckigkeit der polnischen Seite und neue Anklagen zwingen dazu, darüber nachzudenken, warum sie das Bekenntnis der russischen Seite so nötig hat und worin dieses seinen Ausdruck finden soll. Früher, im Jahre 1990, erkannte der Präsident der damaligen Sowjetunion, Michail Gorbatschow, die Schuld der sowjetischen Führung an der Tragödie von Katyn an, im Jahre 1993 entschuldigte sich der Präsident Russlands, Boris Jelzin, während eines Besuches in Warschau beim polnischen Volk für die Ermordung von 22.000 Polen, und schließlich nahm die russische Staatsduma am 26. November 2010 eine spezielle Erklärung an, in der sie sich dazu bekannte, die Erschießung sei eine Tat des Stalinregimes gewesen. Nach dieser Periode wurden der polnischen Seite praktisch sämtliche früher als geheim angesehene Dokumente, die mit der Tragödie verbunden waren, übergeben. Polen beharrt jedoch unverändert auf weiteren „Anerkenntnissen“ von Seiten Russlands. Gewiss, diese Anerkenntniserklärungen wurden auf offizieller Ebene getätigt und waren überaus formal. Die polnische Seite möchte möglicherweise tiefere, von Reue durchdrungene russische Worte zu der gegebenen Situation hören, aber eine erdrückende Zahl von Russen zweifelt bereits jetzt daran, dass irgendwelche neuen „Anerkenntnisse“ die polnische Seite beruhigen könnten.

Russische Anfragen an Polen

Bei den Versuchen, historisch gerecht zu verfahren, denkt man in Polen seltsamerweise nicht an das Sterben von 80.000 Rotarmisten in polnischen Internierungslagern unter dem Regime von Piłsudski während des polnisch-sowjetischen Krieges 1919-1921. Die russische Seite erinnert oft an diese Tatsache, die grundlegend archivalisch gesichert ist, weil man sich gut daran erinnert (dieses Faktum wurde während der Sowjetzeit nicht verschwiegen). Aber die polnische Seite weigert sich immer irgendwie, diese Tatsache zu diskutieren, indem sie behauptet, beide Ereignisse hätten nichts miteinander zu tun. Man erinnert sich in Polen auch nicht an die Befreiung Warschaus durch die Sowjetarmee im Januar 1945. Das ist den Russen noch weniger verständlich, weil Polen periodisch Russland auch die Schuld an einer Reihe anderer historischer Ereignisse gibt, bis hin zu der Anschuldigung, den Zweiten Weltkrieg entfesselt zu haben, und beinahe auch noch an den Teilungen Polens im 18. Jahrhundert.

So ergibt es sich, dass man auf ein Tor spielt, wenn unterschiedliche Ansprüche und Appelle an Moskau adressiert werden, es aber umgekehrt keinerlei Zugeständnisse gibt, weil sie offen als unbegründet und nicht notwendig angesehen werden. Die ganze polnische Rhetorik erweckt den Eindruck, der Kalte Krieg sei tatsächlich noch nicht zu Ende und Polen stehe gemeinsam mit Europa einem feindlichen Russland gegenüber, dem Nachfolger der Sowjetunion. Beim Durchschnittsrussen entsteht der Eindruck, dass die Autoren, die Russland zum Umdenken seiner historischen Vergangenheit auffordern, beharrlich nicht die kolossalen Veränderungen sehen wollen, die im Land schon vor sich gegangen sind, und nicht bereit sind, ihre Wahrnehmung Russlands zu ändern. Ungeachtet der wohlwollenden Geisteshaltung im gegenseitigen Verhältnis, wie sie unter einfachen polnischen und russischen Bürgern herrscht, fahren einige polnische politische Funktionäre damit fort, die Katyn-Karte zu spielen, in der Hoffnung, ihre politischen Ambitionen zu befriedigen, anstatt tatsächlich ihren Staat zu festigen und die zwischenstaatlichen Beziehungen zu entwickeln.

Aus dem Russischen übersetzt von Dr. Friedemann Kluge.


Fußnote:


  1. Anspielung auf die Zeit innerer Wirren zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Russland, in der Polen versuchte, den vakanten Zarenthron mit verschiedenen Prätendenten zu besetzen. Der „falsche Dmitrij“ (deutsch „Demetrius“) – es gab mehrere Thronanwärter dieses Namens“ – soll der jüngste Sohn Zar Iwans IV. gewesen sein; tatsächlich wurde er 1591 ermordet (Anm. d. Redaktion). ↩︎