Ostwind (1932)

(Reiseimpressionen)
aus OWEP 3/2011  •  von August Scholtis

Zusammenfassung

Der oberschlesische Raum mit seiner ethnischen Gemengelage bildet den Hintergrund für das schriftstellerische Werk von August Scholtis (1901-1969), der selbst aus dieser Region stammt und in seinem 1932 erschienenen Erstlingswerk „Ostwind“ in kräftigen Strichen und expressionistischer Sprache die Menschen in den Umbrüchen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zeichnet. Die Rubrik „Reiseimpressionen“ ist in vorliegendem Auszug wörtlich zu verstehen, geht es doch um eine besondere Art von Reise, auf die sich Milka Balzerova um das Jahr 1870 macht. Die Auszüge stammen aus der 1986 bei dtv erschienenen Ausgabe, S. 7 f. – Zur weitergehenden Information sei auch auf den Beitrag von Marcin Wiatr in vorliegendem Heft verwiesen.

Emilia, von den Kundigen Milka Balzerova genannt. Landstreicherin im Namen der allerheiligsten Jungfrau Maria von Czenstochau: Dreckig. Speckig. Klein von Wuchs. Gedrungen von Gestalt. Gedunsen von Gesicht … Tochter des längst in Gott abgetretenen totgeprügelten Leibeigenen, Freiheitskriegers und Ackerknechtes Zunamens Balzer, brach alljährlich entschlossen, einsam und allein gen Czenstochau auf, dem berühmten Wallfahrtsort im Russisch-Polnischen, um dort der schwarzen, wundertätigen lieben Frau zu danken, für abgewendete Epilepsie, etwelche ihr ungarische Honvedhusaren 1866 mutig, tapfer und fürs Vaterland, unweit Ratibor, nahe dem Österreichischen, in den dreckigen Leib gehauen. Pünktlich, der Morgensonne nachgeübt, ging Milka los. An jenem bestimmten unverrückbaren Maientag, allwo die Sonne aus den Waldwipfeln stieg, um zugleich zwischen dem linken Kreuzflügel des marmornen, bombastischen Grabdenkmals: „Derer von Moto Homo ...“ ein wenig vielsagend ... zu rollen. Alsdann und zur Mittagszeit hoch und immer höher schraubend, nach ewigen Gesetzen. Prall und vertikal in die Jauchegrube sengend. Die Jauchegrube, deren etliche Quellen um, in und auf den Schweinestall des Bauern Jeremiasch Kukla sickerten, wo Milka zu kampieren beliebte. Ungestört seit vielen Jahren. Bereichert im Überfluß von den Düften (auch noch) aus der engnachbarlichen, protzigen Domäne der obig benamsten und selbigen „Edlen und preußischen Junker Udo Toto von Moto Homo, residierend in Gerechtigkeit auf Kosbuchna“ im Oberschlesischen, unweit Pleß, einer kleinen schmutzigen Stadt, von den Bauern genannt Pschczynna, was heißt etwa soviel denn „Null Komma nischt“ …

Zwanzig Tage und noch mehr Nächte regnete der Himmel auf die Pilgerin. Bockte die Sonne diesen lebendigen Bolzen, abgeschossen gen Czenstochau. Mit wabbelndem Munde betend. Mit krätzigen Fingern den Rosenkranz abkullernd. Fromme Lieder krächzend zur Tageszeit. In Bauernkaten schmatzend zur Mittagszeit. Im Walde schnarchend zur Nachtzeit.

Zwanzig weitere Tage rutschend über unzählige Treppen, Fliesen und Terrassen zur Gnadenkirche. Mit dem Munde betend. Mit dem Herzen sehnend. Rosenkranz kullernd. Zerschluchzt. Zerknirscht.

Und seit Ewigkeiten, seelisch zertreten. So wie nun solches geschehen in Überfülle, wie alle Jahre zwanzig Tage und noch mehr Nächte, füllte Milka das zierliche Fässel mit geweihtem Wasser (diesem wichtigen Konsum für oberschlesische Bäuerinnen). Zahlte ehrlich und brav so manchen Obolus aus frommer Hand, in erwartungsvoll klingende Kisten und Kasten. Bestellte Messen im Auftrage der Bäuerinnen und zog wieder von dannen: Dreckig. Speckig … Hungrig und in Gott Christum, nebst seinen Heiligen, südwestwärts gen Tarnowitz. Gen Sackowitz. Gen Kattowitz, Pleß und heim nach Kosbuchna.