Die Europäische Union aus russischem Blickwinkel

aus OWEP 1/2012  •  von Jens Siegert

Jens Siegert ist Politologe und Journalist. Er lebt seit 1993 in Moskau, arbeitete in den neunziger Jahren als Korrespondent und leitet seit 1999 das Moskauer Büro der Heinrich-Böll-Stiftung.

Zusammenfassung

Das Verhältnis Russlands zur Europäischen Union ist unklar, es schwankt zwischen Ablehnung und dem Wunsch nach Zugehörigkeit. Gegenwart und Zukunft sprechen für eine Freundschaft, aber die Vergangenheit hält das Land in alten Freund-Feind-Schemata gefangen. Der überwiegende Teil der russischen Gesellschaft sieht in der gegenwärtigen Krise der Union ein Zeichen dafür, dass freiwillige Zusammenschlüsse von Staaten scheitern müssen, da nur eine harte Hand und ein starker Wille für dauerhaften Zusammenhalt sorgen können. Wie beide Größen künftig miteinander umgehen werden, ist damit völlig offen.

I.

In russischen Analysen der Entwicklungsperspektiven der Europäischen Union (EU) findet sich eine ganz Reihe von widersprüchlichen Gefühlen: Schadenfreude, Erleichterung, Skepsis, Gönnerhaftigkeit. Diese emotionale Breitenwirkung zieht sich von den beiden Verfassungsreferenden in Frankreich und in den Niederlanden 2005 über die Finanzkrise 2008/2009 bis zur gegenwärtigen Eurokrise, die sich zu einer veritablen Krise der EU insgesamt ausgeweitet hat. Die vergangenen Jahre haben aus vorherrschender russischer Sicht gezeigt, dass eine wie auch immer vorsichtige und langsame Abkehr vom Primat des Nationalstaats kaum mehr ist als die kindliche Phantasie von Gutmenschen, die die harten macht- und geopolitischen Realitäten dieser Welt leugnen. Dass die Mitgliedsstaaten freiwillig Souveränität an die EU abgeben, ist den meisten Menschen in Russland unheimlich.

Dabei wird das Interesse der kleineren und auch der mittelgroßen Mitgliedsländer an der EU, selbst wenn es aus Moskauer Sicht wie bei Polen oder den baltischen Ländern als gegen Russland gerichtet interpretiert wird, als durchaus legitim verstanden: Kleine Länder müssen, eben ihrer unzureichenden Größe wegen, Schutz suchen, den sie früher bei möglicherweise wechselnden Schutzmächten fanden, heute aber in der EU finden. Doch warum sich große Länder wie Deutschland, Frankreich oder Großbritannien in der EU selbst binden und damit ihre Handlungsfreiheit von Lettland oder Luxemburg abhängig machen, ruft viel Unverständnis hervor. Entsprechend stützt sich die russische Europapolitik bis heute weitgehend auf gute Beziehungen mit diesen Großen und schätzt die Verbindungen mit den kleineren EU-Staaten eher gering. EU-Institutionen wie Kommission und Parlament werden weniger als eigenständige Akteure denn als eine Art Europa-UN wahrgenommen. Auch das historisch wohl wichtigste Argument für die EU, ihr Beitrag zum Frieden in Europa, sticht aus russischer Sicht nicht wirklich. Der Friede in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg wird vor allem als Ergebnis der atomaren Blockkonfrontation mit den Großmächten USA und Sowjetunion an der Spitze interpretiert. Der Ausbruch der jugoslawischen Erbfolgekriege nach dem Ende des Kalten Krieges dient als Beleg dafür.

Dass die EU in einer schweren, ja existenziellen Krise ist, gilt als Gemeinplatz. Schon die Verfassungsreferenden von 2005 haben aus vorherrschender russischer Sicht eine ganze Reihe struktureller Schwächen deutlich gemacht: Das Wirtschaftswachstum in der EU ist zu gering, die Arbeitslosigkeit zu hoch, das Volk zu satt und zu fett. Vor allem aber irritiert, dass in der EU niemand das alleinige Sagen hat. Auf die historischen Gründe dieses Wunderns soll hier genauer eingegangen werden.

Angeblich haben Staaten ja keine Freunde, nur Interessen. Sollte das stimmen, spricht vieles für eine enge Zusammenarbeit zwischen Russland und der EU. Es ist auch nicht schwer, diese gemeinsamen Interessen in zahlreichen Äußerungen von Politikerinnen und Politikern aus der EU und aus Russland zu entdecken: der ständig steigende Handel, Flüchtlingsfragen, Grenzregime, Bildung, Kampf gegen internationales Verbrechen, Drogenschmuggel und Frauenhandel, Forschung oder Anti-Terrormaßnahmen. In all diesen und vielen anderen Bereichen kooperieren die EU und Russland auf einer alltäglichen Basis. Aber es ist mindestens ebenso leicht, Trennendes zu finden. Interessanterweise findet sich darunter nur wenig Neues. Die meisten Konflikte bestehen mindestens seit Ende der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts: Kosovo, die NATO-Osterweiterung, das Gleichgewicht der konventionellen Streitkräfte in Europa oder die Beziehungen zur gemeinsamen Nachbarschaft im Osten.

Die EU-Russlandbeziehungen haben sich also unter Putin (und während Medwedjews Zwischenspiel) kaum geändert? Doch. In den neunziger Jahren war Russland ein eher schwaches Land und die EU träumte davon, eine Art „zivile Supermacht“ zu werden. Heute dagegen sind die meisten Russen und ihre Regierung davon überzeugt, dass Russland (fast) zu alter Stärke zurückgefunden hat, während sie die EU nach der Erweiterung in einer lebensbedrohenden Krise sehen. Russland ist ein wenig reicher und sehr viel selbstbewusster geworden. Die EU wurde viel größer, aber auch viel unsicherer.

Viele der Streitpunkte haben damit zu tun, dass die EU „östlicher“ geworden ist. Die neuen EU-Mitglieder in Mittelosteuropa mit ihrer langen Erfahrung als „russische“ Kolonien oder eines Lebens unter „russischer“ Herrschaft haben einen (historisch gerechten, aber nicht immer praktischen) Zorn gegen die vormaligen Unterdrücker. „Östlicher“ werden heißt für die EU zudem, näher an jene Gegend Europas zu rücken, die Russland, ob gerechtfertigt oder nicht, als sein „vitales Interessensgebiet“ betrachtet. Das allein macht Konflikte – der Krieg in Georgien hat es gezeigt – erheblich wahrscheinlicher.

II.

Russland ist seit der Eroberung Kasans durch Iwan IV. Mitte des 16. Jahrhunderts und seiner darauf folgenden ständigen Ausdehnung bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ein Imperium geworden. Dieses Imperium hat sich, im Gegensatz zu allen anderen europäischen Kolonialreichen, bis fast in das 21. Jahrhundert hinein erhalten. Zwar war die Sowjetunion ein weitgehend russisch dominierter Staat, aber mit einer hohen Integration der nichtrussischen Bevölkerung, die rund 50 Prozent der Einwohner ausmachte, auch in ihren politischen Eliten. Erst seit der Auflösung der Sowjetunion und dem Rückzug auf ein so kleines Territorium wie seit Beginn des 18. Jahrhunderts nicht mehr ist Russland mit mehr als 80 Prozent russischstämmiger Bevölkerung ein ethnisch weitgehend homogenes Land geworden. Allerdings wird dieser Rückzug von einem großen Teil der Bevölkerung als Zerfall empfunden und interpretiert. Die Frage, was denn einen russischen Nationalstaat ausmacht, geistert nicht erst seit dem Ende der Sowjetunion durch die Köpfe vieler Politiker und Intellektueller. Im Gegensatz zu den westeuropäischen Kolonialmächten wie Frankreich und Großbritannien gibt es zudem kein geographisch ausreichend klar definiertes Mutterland, das als natürlicher Endpunkt einer Deimperialisierung akzeptabel wäre.

Die politische Elite Russlands hat viel dafür getan, dass das Land heute im Westen erneut mit Vorsicht und Skepsis angesehen wird. Doch der bei vielen Menschen in Russland vorherrschende Eindruck, man sei in der EU nicht recht willkommen, hat durchaus handfeste Gründe. Die NATO soll einst ja gegründet worden sein, um „die Amerikaner drinnen (in Europa) zu halten, die Russen draußen und die Deutschen unten“. Zynisch gesprochen, dient die EU einigen der neuen Mitglieder dem gleichen Zweck. Das alles entschuldigt keine Demokratiedefizite in Russland, aber es erklärt viele Reaktionen der Menschen dort auf Kritik aus dem Westen und es macht es dem Kreml einfach, die öffentliche Meinung zu manipulieren.

Es gibt noch einen anderen historischen Widerspruch zwischen Russland und der EU, der die gegenseitige Verständigung schwierig macht. Das jeweilige Verständnis von Staatlichkeit und Nation bezieht sich auf unterschiedliche historische Traumata.

  • Die EU ist die Antwort auf 300 Jahre europäischen Bürgerkrieg, der unter deutscher Führung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Katastrophe führte. Die Antwort darauf heißt: Europa kann nur überleben, wenn die europäischen Nationen, die großen voran, freiwillig einen Teil ihrer Souveränität abgeben. Das funktioniert nun schon über 50 Jahre in den Augen der meisten EU-Bürger recht gut.

  • Russland dagegen leidet immer noch unter dem Zusammenbruch der Sowjetunion (sprich: des „Russischen Imperiums“). Und es gibt eine virulente Furcht, dass mit Russland das Gleiche passieren könnte. Putins Rezept dagegen ist die Konzentration von Souveränität in einem Zentrum, praktisch in einer Hand. Die meisten Russen sind heute davon überzeugt, dass Putin der richtige Arzt mit der richtigen Therapie war.

Diese beiden Konzeptionen unterscheiden sich aber nicht nur, sie bedrohen sich gegenseitig. Die EU verspricht ihren Nachbarn aktiv und durch ihre schiere Existenz, dass der Weg zu ihr auf die satte und sichere Seite des Lebens führt. Sie ist ein Werteimperium mit einer enormen, oft unterschätzten Anziehungskraft. Diese Kraft wirkt auch in der unmittelbaren russischen Nachbarschaft.

Die russische politische Elite lehnt heute zwar das im Westen vorherrschende liberale Demokratiemodell ab, bezieht sich aber nicht auf Denkschulen eurasischer Nationalismen, sondern auf einen Souveränitätsbegriff, wie er auch bei Carl Schmitt1 zu finden ist: Sie ist antipluralistisch und antipopulistisch zugleich, frei nach der Schmittschen Demokratiedefinition der Identität zwischen den Herrschenden und den Beherrschten. Die Souveränität im Inneren ergibt sich auch durch die Macht über die Definition von Freund und Feind und das Vermögen der Entscheidung im Notfall. Putin verkörpert heute für viele Russen diese Identität.

Souveränität nach außen, also die Souveränität eines Staates, ist im Verständnis eines überwiegenden Teils der russischen Gesellschaft zudem kein Recht, das Nationen natürlicherweise haben, sondern eine Fähigkeit. Diese Fähigkeit hat etwas mit Größe zu tun (die meist als historische Leistung interpretiert wird) und mit Willen. Unter dieser Voraussetzung gibt es mit den USA, China und Russland nur drei wirklich souveräne Staaten auf der Welt. Drei weitere Entitäten haben aus russischer Sicht das Potenzial, souverän zu werden: Indien, Brasilien und die EU. Indien und Brasilien brauchen noch einige Zeit, um ihr Potenzial zu entfalten. Die EU scheitert aber am fehlenden Willen, sich von den USA zu emanzipieren.

III.

Es gibt vier grundlegende Differenzen zwischen der EU und Russland: die unterschiedliche Interpretation der jüngeren Geschichte, unterschiedliche Interessen bezüglich der Zukunft der Ukraine, Weißrusslands, der Republik Moldau und Georgiens, unterschiedliche energiepolitische Interessen (hier differieren freilich auch die Interessen der EU-Länder untereinander stark) und die EU-Kritik an der Demokratieentwicklung in Russland.

Russland stellt sich die grundsätzliche Frage seines langfristigen Verhältnisses zum vereinten Europa. Was ist das Ziel? Ein russischer EU-Beitritt wird von beiden Seiten nicht als realistische Perspektive aufgefasst. Der Versuch, mit einer „Eurasischen Union“ eine Art „Ost-EU“ aufzubauen, ist Ausfluss der hier beschriebenen Unvereinbarkeiten. Ob das unter der deutlichen Führung Russlands, des alten imperialen Zentrums, dauerhaft gelingt, noch dazu als Union autoritärer bis diktatorischer Regime, ist zweifelhaft. Trotzdem ist dieser Versuch eine Anerkennung, dass es allein nicht geht.

Wie sich das Verhältnis EU-Russland künftig entwickelt, hängt stark davon ab, wie es in Russland politisch weitergeht. Zwei Szenarien scheinen gegenwärtig möglich:

  1. Russland gelingt die wirtschaftliche und politisch-demokratische Modernisierung. Dann ist eine strategische Verbindung mit der EU möglich und notwendig.

  2. Die Modernisierung misslingt mit autoritär-nationalistischen Restaurationstendenzen.

Bisher setzt die russische Staatsführung auf eine durch die Rohstoffwirtschaft gestützte Modernisierung mit autoritär-nationalistischen Tendenzen. Russland wird wohl auf kürzere und mittlere Sicht ein wenig demokratisches Land bleiben, in dem aber die Bevölkerung weitgehend frei leben und arbeiten kann. Politische Opposition wird kaum zugelassen werden. Inwieweit zivilgesellschaftliche Organisationen und Nichtregierungsorganisationen kontrolliert und gegebenenfalls drangsaliert werden, ist noch offen. Die größte Bedrohung für Stabilität und Sicherheit in Russland geht aber weiter vom Nordkaukasus aus. Ob unter diesen Bedingungen die angestrebte strategische Partnerschaft zwischen der EU und Russland möglich sein wird, scheint eher zweifelhaft. Die beiden Grundbedingungen dafür, eine antihegemoniale und eine antiimperiale Politik Russlands, sind in den vergangenen Jahren wieder in weite Ferne gerückt. Auch müsste die riesige Wertelücke zwischen der EU und Russland verkleinert werden.

Über zwanzig Jahre nach dem großen Umbruch von 1989 ist Russland in einem seltsamen Zwischenzustand gefangen. Es kann sich weder entscheiden, Freund noch Feind des Westens und damit der EU zu sein. Es schwankt zwischen Ablehnung und dem Wunsch nach Zugehörigkeit. Die Gegenwart und die Zukunft sprechen für eine Freundschaft, aber die Vergangenheit hält das Land in alten Freund-Feind-Schemata gefangen.

Die Isolation Russlands und die Selbstisolation des Landes sind zwei Seiten derselben Medaille. 1989 wurde der Eiserne Vorhang zerrissen. Das war ein Gemeinschaftswerk. Im Westen bekommt man oft den Eindruck, die Sowjetunion sei niedergerungen worden und Russland so zu seinem Glück gezwungen. Ein erzwungenes Glück aber hält nicht lange. In Russland gab es zaghafte Versuche, das Ende der Sowjetunion und die Überwindung der Ost-West-Teilung der Welt als eigenes Verdienst zu betrachten. Doch der gleichzeitige Verlust der Weltmacht und der wirtschaftliche und soziale Niedergang des Landes vereitelten, dass sich diese Sichtweise durchsetzte. Ob und wann es eine neue Chance gibt, kann niemand sagen. Eine erneute Abtrennung Russlands vom Rest Europas wäre aber sicher nicht förderlich. Dmitrij Trenin, Direktor des Moskauer Carnegie Zentrums, drückt das so aus: „There will be no peace in Europe without the missing piece Russia“. Oder anders: Es gibt keinen Frieden in Europa ohne Russland, aber mit Russland bleibt der Friede schwierig.


Die Russische Föderation umfasst etwas mehr als 17 Millionen km² (davon knapp 4 Millionen im europäischen Teil) und hat ca. 143 Millionen Einwohner (2010). Die Hauptstadt ist Moskau (ca. 11,5 Millionen Einwohner). Bevölkerungszusammensetzung: ca. 80 % Russen, 4 % Tataren, 2,2 % Ukrainer, 1,9 % Armenier, außerdem ca. 100 weitere Nationalitäten. Auffällig ist die starke Abnahme der Bevölkerung (seit 2000 jährlich um bis zu 800.000 Menschen); manche Prognosen gehen für 2050 von nur 120 Millionen Einwohnern aus. Religion: Dazu liegen keine klaren Daten vor, Schätzungen gehen von bis zu 50 % russisch-orthodoxen Christen und 10-15 % Muslimen aus, außerdem gibt es kleinere Gruppen (Protestanten, Katholiken, Buddhisten, Juden u. a.). – Russland ist eine semipräsidiale Republik, ein Bundesstaat mit gegenwärtig 83 „Subjekten der Föderation“, darunter 21 nationalen Republiken, einem nationalen Gebiet und vier nationalen Kreisen. Das russische Parlament besteht aus zwei Kammern (Staatsduma und Föderationsrat). In der Wirtschaft spielt der Rohstoffsektor eine wesentliche Rolle (besonders Öl und Gas); die Erlöse umfassen bis zu zwei Drittel des Staatshaushalts. Maschinenbau und verarbeitende Industrie haben sich nach dem tiefen Fall in den neunziger Jahren in den vergangenen zehn Jahren ein wenig erholen können, jedoch leidet das Land ebenso wie seine Nachbarn seit 2008 an den Folgen der Wirtschaftskrise. Die Arbeitslosenrate liegt offiziell bei 7,6 % (2005), dürfte allerdings, da viele Arbeitslose nicht registriert sind, de facto höher liegen.


Fußnote:


  1. Der deutsche Staats- und Völkerrechtler Carl Schmitt (1888-1985) gehört zu den einflussreichsten und gleichzeitig wegen seiner Rolle im Dritten Reich umstrittensten deutschen Wissenschaftlern im 20. Jahrhundert. Sein umfangreiches Werk befasst sich vor allem mit dem Verhältnis zwischen Macht und Recht (Anm. d. Redaktion). ↩︎