OWEP 1/2012
Schwerpunkt:
Zweifel an Europa?
Editorial
Das Projekt „Europäische Union“ hat schon lange keine guten Karten mehr. Die Zweifel an Europa wachsen. Zu verschieden sind auch die Interessen, die dabei im Spiel sind oder aus dem Spiel gehalten werden. Da ist fast alles vertreten: Machtgelüste, Geldsorgen, Rassismen und Nationalismen, ethnische Blockaden und mafiose Interessen. Die Aufzählung könnte leicht verlängert werden. Jedenfalls ist die Situation höchst unterschiedlich und unübersichtlicher denn je. Kein Wunder, dass nicht nur im Chor der Europa-Spezialistinnen und -Spezialisten die Zweifel an Europa unüberhörbar sind. Sie haben längst, vielleicht früher schon, die Gedanken und Gefühle des einfachen Mannes und der einfachen Frau erreicht – und beherrschen sie mehr denn je. Da brauchen nur bestimmte Stichwörter zu fallen: „Griechenland“ ist solch ein Stich-Wort. Neuerdings Ungarn auch. Es gibt noch zahlreiche andere. Jeder hat sein europäisches Reizthema.
So wie es gegenwärtig aussieht und wohl noch einige Zeit aussehen wird, hat die eigentlich faszinierende europäische Idee keine gute Zeit, eher Eiszeit. Grund genug für eine Zeitschrift mit dem Titel OST-WEST. Europäische Perspektiven (OWEP), eine kleine europäische Bestandsaufnahme zu versuchen. Aber nicht nur eine Bestandsaufnahme, sondern auch ausdrücklich danach zu fragen, wo die europäische Reise denn hingehen soll. Denn die Situation ist danach: Es besteht offen und latent die Gefahr, vor lauter Zweifel-Bäumen den Europa-Wald nicht mehr zu sehen.
Was dabei unumgänglich ist: Man muss zuerst den Einwänden, den Eigeninteressen, die oft so übermächtig sind, den Sonderperspektiven einzelner Länder in Europa, die ihre lange Geschichte haben, freien Raum gewähren. Sagen, was ist, und nicht zuerst blumig und verschwommen sagen, was in Zukunft sein sollte. Viele Bürgerinnen und Bürger in Europa, die im Grunde „dafür“ sind, haben die vielen Reden der Politikerinnen und Politiker „für Europa“ satt, weil sie sie schlicht, wie die Journalistinnen und Journalisten sagen, als „heiße Luft“, als Dampfplaudereien empfinden, die nichts „bringen“ – außer einem Wortschwall, dessen man längst überdrüssig geworden ist.
Noch ein anderer Vorbehalt gegen die europäische Politikerinnen- und Politikerkaste ist eine Realität, die dem Zweifel an Europa kräftige Nahrung verschafft. Manchmal scheint dem einfachen Beobachter Europa für die europäische Führungselite nur ein pekuniärer Selbstbedienungsladen zu sein. Diese Meinung kann man nicht nur an Stammtischen hören. Von der wie ein Krebsgeschwür wuchernden und gewaltige Gelder sinnlos verschlingenden Brüsseler Europa-Bürokratie – „die in Brüssel“! – ganz zu schweigen.
Immer wieder kann man in Diskussionen und Gesprächen über Europa die einfache Feststellung machen, dass selbst die geographische Situation unbekannt oder vergessen ist. Deshalb haben wir vor den Texten eine grobe Übersichtskarte der mittel- und osteuropäischen Staaten abgedruckt, aus denen die Stimmen der jeweiligen Länder kommen. Basisdaten zu den einzelnen Ländern finden sich am Ende des jeweiligen Beitrags.
Wir haben versucht, die richtige Auswahl zu treffen. Solche Länder in den Blick zu nehmen, die die Diskussion bestimmen, anheizen oder bremsen. Länder, die in ihrer Geschichte so sehr von Nachbarn belastet worden sind, dass ihnen Hören und Sehen vergangen ist. Russland, Polen, Tschechien bekommen – gerade auch für Deutsche – ganz besonderes Gewicht. Die drei Beiträge von Jens Siegert (Russland), Wojciech Pięciak (Polen) und Jaroslav Šonka (Tschechien) gehen differenziert auf die verschiedenen Stimmungen in den drei Ländern ein und zeigen auch ganz vorsichtig Wege auf, die aus der Blockade herausführen könnten. Der Beitrag von Tamás Scheibner geht auf die Situation in Ungarn ein, die viele Euroskeptiker aktuell umtreibt.
Auch die „kleineren“ Länder haben ihre großen Probleme. Mit sich selbst und mit Europa, dem sie einerseits im Grunde angehören wollen, aus sehr unterschiedlichen Interessen, dem sie andererseits aber mit gehöriger Skepsis gegenüber stehen. Die Überschrift in Riho Altnurmes Artikel bringt das prägnant zum Ausdruck: „Verbreitete Zustimmung – leise Zweifel: Estland und die Europäische Union“. Ebenso kommen Stimmen aus Ländern zu Wort, von denen die meisten Bürgerinnen und Bürger in den Ländern Europas nur eine graue und verschwommene Vorstellung haben, die allenfalls von medial verbreiteten Vorurteilen bestimmt ist, die wie „Underdogs“ im europäischen Geschäft dastehen – und manchmal auch so behandelt werden von den so genannten „Großen“: Kroatien, Rumänien, Serbien, Slowenien, die Ukraine. Die Beiträge aus diesen Ländern können deutlich machen, wie vertrackt, wie komplex und kompliziert das Jahrhundertprojekt „Europäische Union“ ist, welche Bremsen und Hindernisse der eigentlich faszinierenden europäischen Idee immer wieder den Schwung nehmen.
Was am Ende der aufmerksamen Lektüre der Beiträge dieses Heftes herauskommt? Hoffentlich ein differenziertes „Bild“ von Europa, das einerseits begründete und konkrete Zweifel nicht billig zur Seite schiebt, andererseits aber auch nicht den Blick verstellt auf ein Unternehmen, das in Hinsicht auf die Weltpolitik seine Vorteile haben könnte – und tatsächlich auch hat. Ein wie immer geeintes Europa wäre ein Gewicht in einer sich rasant wandelnden und verschiebenden weltpolitischen Konstellation, die für viele mit großen Ängsten besetzt ist.
Im November 2011 hat die Vollversammlung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken zu Europa eine Erklärung verabschiedet, aus der in dieser Ausgabe von OWEP Kernaussagen zitiert werden. Es kommt jetzt entscheidend darauf an, dass durch die aktuelle und vermutlich noch lange andauernde Schuldenkrise der Blick auf das Ziel nicht verstellt wird. Vielleicht zeigt die Krise auch Hinweise auf Chancen für Europa: dass wir in angemessenen Verhältnissen leben lernen und nicht vom Geldwert das ganze Leben bestimmen und bestimmen lassen.
Die Zweifel sind und bleiben das eine. Das andere ist der Wille und die geduldige Absicht, die Zweifel zu überwinden. Eine der Ausgangsfragen der Redaktion war auch: Gibt es eine wirkliche Alternative zu Europa? Die Frage steht vor allen anderen Fragen, vor Fragen der organisatorischen Details, der historischen Betonurteile und der daraus resultierenden, sich immer wieder erneuernden Vorurteile. Wir gehen davon aus, dass es eine andere Alternative nicht gibt – und sind deswegen auch der Meinung, dass dafür geduldig mit langem Atem der Weg bereitet werden muss.
Europa ist unsere Zukunft. Wir müssen und dürfen Europa nicht nur von seinen Grenzen, sondern auch von seinen Chancen her denken. Der längste Weg beginnt mit kleinen und mittelgroßen Schritten.
Die Redaktion
Kurzinfo
Leider lässt es sich kaum leugnen, dass in weiten Teilen Europas Krisenstimmung herrscht. Zu den Stichworten „Eurokrise“ und „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ lassen sich seriöse Argumente ebenso wie Stammtischparolen in großer Zahl anführen, und selbst Politiker, die bisher sachlich über die Probleme einzelner Staaten diskutiert haben, sind nicht mehr frei von Äußerungen, die dem Populismus nahekommen. Was wird aus Griechenland, wie geht es in Ungarn weiter – damit sind nur zwei besonders heikle „Fälle“ genannt. Häufig werden dabei „Europa“ und „Europäische Union“ (EU) verwechselt oder stillschweigend gleichgesetzt. Es lohnt sich aber gerade auch, einen Blick über die Außengrenze der Union zu werfen: Wie sieht es dort aus, und wie wird in Ländern wie der Ukraine oder Serbien die Zukunft der Europäischen Union eingeschätzt?
Die mit diesem Thema verbundenen Fragen, auf die es in den nächsten Monaten Antworten geben muss, wenn die EU eine gedeihliche Zukunft haben soll, waren Anlass für die Redaktion, Stimmungsbilder aus zehn Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas zusammenzustellen. Publizisten und Journalisten haben ihre persönliche Sicht zur Gegenwart und Zukunft Europas zu Papier gebracht. Die Beiträge sind in Zuspitzung und Gestaltung höchst unterschiedlich, bieten dennoch genug Stoff zum Nachdenken über das „Projekt Europa“. Eine kurze Kartenskizze zu Beginn des Heftes und Eckdaten zu den einzelnen Ländern am Ende jedes Beitrages dienen zur vertieften Orientierung.
Zu Beginn des Heftes steht eines der kleinen Länder der EU, der baltische Staat Estland. Nach Ansicht von Prof. Dr. Riho Altnurme, Professor für Kirchengeschichte an der Universität Tartu, war der Beitritt seiner Heimat zur Gemeinschaft unvermeidlich. Das Land hat davon profitiert, zumal damit eine größere Sicherheit gegenüber dem östlichen Nachbarn verbunden ist. Noch auf dem Weg in die EU befindet sich Kroatien, dessen Beitritt Mitte 2013 erfolgen wird. Prof. Dr. Ivo Goldstein, Professor für Geschichte an der Universität Zagreb, skizziert den mühsamen Weg des Landes vom Zerfall Jugoslawiens über die Bemühungen zur Entwicklung demokratischer Strukturen bis zum Abschluss der Beitrittsverhandlungen. Eine wichtige, nicht immer pro-europäische Haltung hat in diesen Jahren die katholische Kirche eingenommen.
Ein großes Gewicht innerhalb der Union kommt Polen zu, dem bedeutendsten Land unter den mittel- und osteuropäischen EU-Mitgliedern. Bedingt durch die geographische Nähe und die engen wirtschaftlichen Beziehungen mit Deutschland sind dort, wie der Journalist Wojciech Pięciak, Redakteur der katholischen Wochenzeitung „Tygodnik Powszechny“, schildert, die Diskussionen um die Entwicklung der EU-Gemeinschaftswährung besonders aufmerksam verfolgt worden, zumal in Polen die Einführung des Euro zu den politischen Reizthemen zählt. Die künftige Rolle Deutschlands in der EU hat vor wenigen Wochen zu heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen geführt: Seitens der Regierung wurde an Berlin die Forderung nach einer stärkeren Führungsrolle in Europa erhoben, woraufhin die Opposition alte Feindbilder heraufbeschwor. Das Jahr 2012 wird auf jeden Fall notwendige Entscheidungen bringen, wenn die Union überhaupt eine Zukunft haben soll.
Die Abfolge der Beiträge führt den Leser dann nach Rumänien, und der Kontrast zu Polen könnte kaum größer sein. Die Bevölkerung war und ist nach Ansicht der Politikwissenschaftlerin Dr. Tina Olteanu, Wissenschaftliche Mitarbeiterin der FernUniversität Hagen, pro-europäisch eingestellt, auch wenn die Bedingungen für den 2007 erfolgten EU-Beitritt als hart, teilweise als unangemessen beurteilt worden sind. Dennoch genießt die Union mit ihren Einrichtungen bis heute mehr Vertrauen als die nationale Regierung, die für die gegenwärtige schwere Wirtschaftskrise und die damit verbundene Verarmung breiter Teile der Bevölkerung verantwortlich gemacht wird.
Außenansichten pflegen oft überraschende Erkenntnisse mit sich zu bringen. Dies gilt auch für die Überlegungen des für die Heinrich-Böll-Stiftung in Moskau tätigen Politologen und Journalisten Jens Siegert. In Russland schwankt das Bild der Union zwischen Ablehnung und Anerkennung. Die gegenwärtige Krise wird als „hausgemacht“ verstanden, da nach gängiger russischer Vorstellung Zusammenschlüsse von Völkern auf freiwilliger Basis instabil sind und zerfallen müssen. Allerdings ist Russland – der Regierung ebenso wie der Bevölkerung – klar, dass ein Zerfall der Union auch für dessen Nachbarn negative Auswirkungen haben würde. Ähnlich reserviert, wenn auch aus einem anderen Blickwinkel, fällt die Einschätzung der EU in Serbien aus. Dr. Rade Kisić, Dozent an der Orthodoxen Theologischen Fakultät der Universität Belgrad, zeichnet den beschwerlichen Weg seiner Heimat aus der Isolation nach dem Zerfall Jugoslawiens nach. In breiten Kreisen der Bevölkerung besteht der Wunsch nach Mitgliedschaft in der Union, die als Garant für eine gedeihliche Entwicklung Serbiens angesehen wird. Die einseitige Unabhängigkeitserklärung des Kosovo hat den Annäherungsprozess jedoch zurückgeworfen.
Mit Slowenien und Tschechien erreicht das Heft zwei Länder, die bereits seit 2004 zur EU gehören, jedoch eine höchst unterschiedliche Entwicklung genommen haben. Tanja Petrović, Linguistin und Anthropologin an der Slowenischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Ljubljana, bescheinigt ihrer Heimat ein gehöriges Maß an Geschichtsvergessenheit. Das Land kehrte nach 1990 dahin zurück, wo es eigentlich immer schon war, nach Europa, verdrängt aber seither seine achtzigjähre Einbindung in den jugoslawischen Gesamtstaat, was sich u. a. in der Diskriminierung von Nachbarn aus anderen Staaten mit gemeinsamer Geschichte äußert. Gleichzeitig erheben slowenische Politiker den Anspruch, in der EU für die Region „Westbalkan“ (deren Definition verschwommen ist) zu sprechen. Tschechien liegt einerseits zwar im Herzen Europas, seine Regierung und auch große Teile der Bevölkerung sind jedoch gegenüber den Bemühungen zu einer stärkeren Integration skeptisch, ja sogar ablehnend. Der Publizist Dr. Jaroslav Šonka, Direktor des „European Shoah Legacy Institute“ in Prag, analysiert die Stimmungslage seiner Landsleute und zeichnet hinsichtlich der älteren Generation ein Bild von Desinteresse an Europa; die jüngere Generation hingegen ist aufgeschlossen und bereit, neue Schritte zu gehen.
Noch einmal geht der Blick über die EU-Grenzen hinaus, und zwar in die Ukraine. Der in Berlin lebende Schriftsteller Jurko Prochasko greift die kommende Fußballeuropameisterschaft in Polen und in der Ukraine auf, die seiner Ansicht nach nur dazu führen wird, den EM-Gästen seine Heimat in schönen, leider aber falschen Farben zu zeigen. Seine Zeichnung ist düster: Eine korrupte Oligarchie, die nur auf Vermehrung des eigenen Wohlstands hinarbeitet, beherrscht das Land, die Wirtschaft liegt am Boden, die Arbeit der Justiz gleicht einer Farce. Ein EU-Beitritt liegt in weiter Ferne, aber gerade wegen des desolaten Zustandes im Innern hoffen die Ukrainer, dass die Union ihre Krise überwinden und der Ukraine eine bessere Zukunft bieten wird.
Schließlich ist Ungarn Thema eines Beitrags: Ein „Musterknabe“ innerhalb der EU, der zum „Krisenfall“ geworden ist – stimmt das so? Die aktuelle politisch-gesellschaftliche Lage lässt nach Ansicht des in Budapest tätigen Literaturwissenschaftlers und Historikers Tamás Scheibner leider kaum einen anderen Schluss zu. Er skizziert die Parteienlandschaft seiner Heimat und zeigt auf, wie es zur derzeitigen Isolierung Ungarns innerhalb der EU gekommen ist. Hier wie anderswo bleibt zu hoffen, dass die jüngere Generation neue Aufbrüche wagt.
Als Dokument sind im Heft Kernaussagen aus der Erklärung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken vom 18. November 2011 „Europa ist unsere Zukunft! Europa nicht von seinen Grenzen, sondern von seinen Chancen her denken“ abgedruckt. Es folgt eine Übersicht von Veröffentlichungen zum Thema „Europa“ bzw. „Europäische Union“.
Ein Hinweis auf das nächste Heft: Im Mai 2012 wird Heft 2 erscheinen, das dem Schwerpunkt „Brücken in Mittel- und Osteuropa“ gewidmet ist. Vorgestellt werden u. a. die Kettenbrücke in Budapest, die „Alte Brücke“ in Mostar und die Karlsbrücke in Prag.