Die Brücke über die Drina in Višegrad – Geschichte und Erzählung
Zusammenfassung
Historisches Geschehen und literarische Deutung verbinden sich im Werk „Die Brücke über die Drina“ von Ivo Andrić zu einer eigentümlichen Symbiose, die auch heute noch den Leser zu fesseln vermag. Entstehung und Geschichte der Brücke werden nachgezeichnet, damit verbunden ist ein nachdenklicher Blick auf die Geschicke einer zerrissenen Region im Südosten Europas.
Symbolik
In vielen Deutungen des Werks von Ivo Andrić (1892-1975) und besonders seines Romans „Die Brücke über die Drina“ sind die Kritiker geneigt, seine Erzählungen über Brücken ausschließlich als literarisch gestaltetes Symbol für Verbindung, Versöhnung und Durchdringung zwischen verschiedenen Völkern, Kulturen, Religionen und Traditionen zu verstehen, konkret von Völkern, die durch die historischen Umstände an der jahrhundertealten Grenze zwischen Ost und West leben. So berechtigt diese Meinung auch sein mag, so sehr sie Andrić selbst auch vertreten hat, so ist es auch notwendig, die historischen Umstände zu betrachten, in denen der Literaturnobelpreisträger aus dem ehemaligen jugoslawischen Staat geboren wurde, aufgewachsen ist und sich als Mensch und als Autor formiert hat, um hinter dieser vereinfachten und einseitigen Interpretation die Brücke im Werk Andrićs auch als tieferes und komplexeres Symbol zu sehen. Im Herzen des Balkans gelegen, sollte Bosnien in den Gedanken der Menschen, die von dort stammen und in die „große weite Welt“ aufgebrochen sind, zumeist das „ferne gebirgige und finstere Land, in dem das Leben ohne weitere Freundlichkeit und Zahmheit einfach arm, stur, hart“1 ist, bleiben.
Dieses tiefere, verborgene und komplexere Symbol der Brücke, das Andrić später in seiner „Chronik aus Višegrad“ (so der Untertitel des Romans) liefert, hat er bereits in der Weihnachtsnummer 1933 der Belgrader Zeitung „Politika“ angedeutet, wo er in einem Text mit dem Titel „Brücken“ zum ersten Mal den Gedanken vom Wert und der Bedeutung dieser Bauwerke ausdrückte, die ihn von früher Jugend an faszinierten und die für ihn vor allem Symbol der Sehnsucht nach etwas anderem, Besserem und Sinnvollerem waren:
„Von allem, was der Mensch in seiner Lebenskraft schafft und baut, ist in meinen Augen nichts besser und wertvoller als Brücken. Sie sind wichtiger als Häuser und heiliger, weil allgemeiner, als Kirchen. Sie gehören jedem und sind jedem gegenüber gleich, nützlich, immer mit Sinn erbaut, an Orten, wo die meisten menschlichen Bedürfnisse zusammenkommen, haltbarer als andere Bauten und sie dienen zu nichts, was geheim oder böse wäre … So findet mein Sinn überall auf der Welt, wohin er sich auch wendet und dreht, treue und verschwiegene Brücken wie die ewige und ewig unerfüllte Sehnsucht des Menschen, alles, was vor unserem Geist, unseren Augen und Füßen auftaucht, zu verbinden, zu versöhnen und zu vereinen … Schließlich: Alles, woran sich unser Leben zeigt – Gedanken, Anstrengungen, Blicke, Lächeln, Worte, Seufzer –, all das strebt zu einem anderen Ufer, auf das es als Ziel hin ausgerichtet ist und an dem es erst seinen wahren Sinn erlangt … Denn alles ist Übergang, eine Brücke, deren Enden sich in der Unendlichkeit verlieren und demgegenüber alle irdischen Brücken nur Kinderspielzeug sind, blasse Symbole. Und unsere ganze Hoffnung ist auf der anderen Seite.“
Die Pfade von Višegrad
Die österreichisch-ungarische Verwaltung von Višegrad dauerte so lange wie der erste moderne serbische Staat am Übergang zweier Jahrhunderte – von 1878 bis 1918. Etwa in der Mitte dieser Zeit wurde Ivan Matkovčik, Wachtmeister im Dienst der Monarchie, zum Kommandanten der Grenzgendarmerie in der bosnischen Kleinstadt Višegrad ernannt. 1894 nahmen er und seine Frau Ana, die Schwester von Andrićs Vater, einen neuen Bewohner in ihr geräumiges Haus über dem Drina-Ufer auf. Die Matkovčiks, die keine eigenen Kinder hatten, nahmen Ivo Andrić, ihren zweijährigen Verwandten, gerne zu sich, um ihn aufzuziehen und auszubilden. Sie wohnten „am linken Ufer der Drina, in einem einstöckigen Steinhaus mit schönem Zaun um einen gepflegten und üppigen Garten voller Blumen, in dem man durch einen Tunnel von Rosen auf einem weißen Steinpfad zur Veranda ging, die von Weinreben bedeckt war“. Von dieser Veranda bot sich ein Blick auf die Drina, ihre alte Steinbrücke und den Ortskern von Višegrad, der sich um die Brücke auf beiden Seiten des Flusses erstreckte. Der kleine Gast, dessen Vater schwer an Tuberkulose erkrankt war, war zu seiner Tante nach Višegrad geschickt worden, denn seine Mutter Katarina war zwischen der Sorge um ihren schwer erkrankten Mann und ihrem Dienst in fremden Häusern hin- und hergerissen.
Der Junge wuchs bei seinen Višegrader Verwandten in guten materiellen Umständen auf, einigermaßen behütet vor dem üblen Schicksal, das seine Familie ergriffen hatte. Die Kleinstadt Višegrad, eine Grenzstation mit etwa 1.500 Einwohnern, vor allem Muslime und erheblich weniger Serben und Juden, hatte damals etwa 50 Ausländer im Dienst der Doppelmonarchie, die die Institutionen dieses österreichisch-ungarischen Kreises in Bosnien leiteten: das Kreisamt, das Gericht, den Zoll, die Finanzverwaltung und die Garnison. Ivan Matkovčik, der polnischer Herkunft war, war schon in den ersten Jahren der österreichischen Verwaltung in das Grenzstädtchen gelangt. „Er war ein außergewöhnlich milder Mann, gebildet, er konnte Deutsch und auch unsere Sprache sprach er gut, hatte eine schöne Handschrift, war von guten Manieren und war den Menschen aus der Gegend gegenüber immer hilfsbereit, die wegen der Nähe der Grenze und den unsicheren Zeiten leicht in Ungelegenheiten kommen konnten.“ Da er wegen seiner Stellung oft zu Pferd die Grenze bereisen musste, hat er zuweilen auch den jungen Ivo mitgenommen. Dabei hörte der Junge in den Dörfern um Višegrad die Bauern und ihre Gespräche und Bitten, und zum ersten Mal lernte er die Umgebung um die Stadt und ihre Pfade und Wege kennen. „Am Anfang aller Pfade und Wege, im Fundament alleine schon des Gedankens an sie, steht scharf und unauslöschlich eingekerbt der Pfad, auf dem ich das erste Mal frei und alleine gegangen bin. Das war in Višegrad, auf harten, unregelmäßigen, ausgetretenen Wegen, wo alles trocken und kummervoll ist, ohne Schönheit, ohne Freude, ohne Hoffnung auf Freude, ohne Recht auf Hoffnung ...“, schreibt Andrić am Anfang seines Prosatextes „Pfade“. Diese Pfade von Višegrad haben in dem Jungen langsam einen breiteren Horizont geöffnet und die Erkenntnis des unruhigen, merkwürdigen Himmels seiner Heimat in ihn gepflanzt, in dem sich Kulturen, Nationen und Religionen gemischt haben, in dem Türken, Serben, Kroaten, Juden, Italiener, Österreicher, Muslime, Orthodoxe, Katholiken und Menschen mosaischen Glaubens sich gestritten und versöhnt haben ... Von diesen Reisen hat Andrić die ersten Geschichten und Legenden aus dem Gebiet mitgenommen, das selten dem Frieden und dem Wohlstand überlassen wurde, in der Umarmung der stürmischen europäischen Geschichte am Rande zweier Imperien und am Übergang zweier einander gegenübergestellter Welten.
„Ich war vielleicht sieben Jahre alt. Gleich nach dem Abendessen ergriff mich der Schlaf, wegen des Essens, des Spiels tagsüber und der Müdigkeit. Aber sobald von Bett und Schlafen die Rede war, erhob ich den Kopf und öffnete die Augen weit, und ich wandte mich heftig gegen jeden Gedanken, mich hinzulegen ... Ich stand auf und ging zur Veranda, die in der Dunkelheit verschwand und von der aus nur zwei entfernte Lichter zu sehen waren, zwei Laternen auf der Brücke, wie zwei machtlose Funken in einem unüberwindlichen Meer von Dunkelheit, unter dem die Stadt zwischen den Bergen lag.“
Die Brücke über die Drina (Fotograf: Julian Nitzsche)2
Einer der Lieblingspfade von Ivo Andrić, des Bosniers der Heimat nach, des Katholiken und Kroaten nach Glaube und Abstammung, von südslawischer politischer Orientierung, des serbischen Erzählers3 nach seiner literarischen Bestimmung, war die großartige Steinbrücke, die die beiden Ufer von Višegrad miteinander verband, im Volk als „Brücke4 über die Drina“ bekannt, die fast drei Jahrhunderte früher erbaut worden war. Ivo Andrić sollte die zweite Großgestalt aus diesem Raum sein, der im Roman „Die Brücke über die Drina“ Višegrad und seine Brücke berühmt machen sollte, in dem er die Geschichte von ihrer Entstehung, ihrer Bedeutung und dem Widerstand gegen die Zeit in den historischen Stürmen und Wenden, die diesen Bau immer begleiteten, an die Welt brachte.
Knabenlese
Der berühmte Wesir Mehmed Pascha, an den man sich in Bosnien schon lange wegen seiner guten Werke und Stiftungen erinnerte, ließ in Višegrad mehrere Gebäude errichten, die sein Zeitalter überdauerten und bis heute existieren. Der Wohltäter war selber ein Bauernkind aus Bosnien, der im Rahmen der „devşirme“, der „Knabenlese“ (die serbische Bezeichnung lautet: Abgabe in Blut) in die Türkei gebracht wurde, als er etwa 15 Jahre alt war. Bald nach 1520 war der osmanische Infanteriekommandeur Jaijabascha Jelildsche nach Bosnien gekommen, um für die Zwecke des türkischen Reichs und seiner Expansionsambitionen die ausgesuchtesten Jungen und jungen Männer von dort zum Dienst in der ausgedünnten türkischen Armee mitzubringen.
Die Knabenlese (türkisch: „devşirme“, eigentlich „Sammlung“), die alle drei bis vier Jahre erfolgte, war eine Praxis, die Sultan Murad I. in der Mitte des 14. Jahrhunderts im Osmanischen Reich eingeführt hatte: die „Sammlung“ von Jungen aus christlichen Familien in osmanisch verwalteten Regionen. Sie wurden nach Istanbul gebracht, im islamischen Geist erzogen und ausgebildet, um in vier Gruppen von Institutionen des Reichs arbeiten zu können: der Staatsverwaltung, dem Bildungsbereich, der Religion und der Armee. Der Gründer der Janitscharen, des „neuen Korps“ von in der Provinz gesammelten und in Istanbul ausgebildeten Soldaten, Kara Halil Hajredin Pascha Tschadarli, erster osmanischer Großwesir und Initiator der Knabenlese, hat in einem diplomatischen Dokument aus dem 15. Jahrhundert die klare Haltung der osmanischen Behörden gegenüber der Berechtigung der Knabenlese dargestellt: „Das Volk in den eroberten Gebieten wird als Sklave der Eroberer betrachtet, denen es als ihr Besitz gehört, ebenso wie die Güter des Volkes, seine Frauen und Kinder.“
Der Stifter
Mehmed Pascha Sokolović ist auf der Erfolgsleiter des Osmanischen Reichs vom Janitscharen bis zum Großwesir emporgestiegen und hat sich als tapferer Krieger, weiser Staatsmann unter drei Sultanen und bekannter Wohltäter einen Namen gemacht, der seine Heimat und seine Herkunft nie vergessen hat. Er nahm an der Schlacht bei Mohács 1526 und an der Belagerung Wiens 1529 teil. 1565 wurde er Großwesir. Als einer der größten Stifter seiner Zeit ließ er Gebäude, Schulen, Brücken, Brunnen, Herbergen und Volksküchen überall in der türkischen Provinz Balkan errichten, auf beiden Seiten der Drina. In Višegrad baute er ein Hamam (öffentliches Bad), eine Tekija (Derwischkloster) und die Karawanserei, von der türkische Historiker sagen, dass sie bis zu 10.000 Pferde, Kamele und Maulesel unterbringen konnte. In Belgrad ließ er einen Brunnen auf der Festung Kalemegdan anlegen. 1557 ließ er das Patriarchat von Peć erneuern; damals wurde sein Bruder Makarije Sokolović zum ersten Patriarchen der erneuerten serbischen Kirche gewählt. Auch in Istanbul hat Mehmed Pascha zwei Moscheen und eine Medrese bauen lassen. Er kam als Opfer einer politischen Verschwörung ums Leben, durch die Hand eines Derwischs, der – Ironie des Schicksals – ein bosnischer Landsmann des Wesirs war.
Die Brücke über die Drina
Gegen Ende seines Lebens entschloss sich Mehmed Pascha, eine Brücke in seiner Geburtsgegend zu erbauen, die Brücke über die Drina in Višegrad. Den Bau vertraute er dem berühmten osmanischen Architekten Koca Mimar Sinan an. 1571 begann der Bau und dauerte bis 1578. Die Brücke ist aus weiß-rosa bearbeitetem Kalkstein entstanden, mit 12 Pfeilern und 11 Bögen. Sie hat eine leichte Steigung zur Mitte hin, ist 180 Meter lang und 6 Meter breit – ein Meisterwerk der damaligen Baukunst.
In der Mitte der Brücke ist auf der einen Seite eine Terrasse aus Stein gebaut, das so genannte „Sofa“, wo sich Generationen von Višegradern getroffen haben. Hier gab es einmal einen schönen Brunnen, an dem sich die Muslime vor dem Gebet gewaschen haben. Dort wurden in der türkischen Zeit Aufständische gehängt und gepfählt. Dort versammelte sich unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg die bosnische revolutionäre Jugend und träumte von einem freien Bosnien, vereint mit anderen südslawischen Ländern auf dem Balkan, ohne Stammestrennungen und Hass. Dem „Sofa“ gegenüber ist eine große Platte aufgestellt, das so genannte „Tor“, auf der auf weißem Marmor zwei Chronogramme stehen, zwei „Tarih“ des Dichters Nihad; eines stammt aus der Zeit des Baubeginns 1571, das andere aus der Zeit des Bauabschlusses 1577. Letztere Verse, zum Lob des Mehmed Pascha Sokolović, lauten:
Zur Zeit des Weltenherrschers Murad-Han, Sohns des Selim,
Ließ der Wohltäter Herr Mehmed Pascha,
Ergebener Großwesir dreier Herrscher,
Diese große Stiftung errichten; sie sei Gott wohlgefällig!
In reiner Absicht, am Fluss Drina
Baute er mit Eifer die große Brücke.
Der Bau wurde so herrlich, dass jeder, der ihn sieht,
Ihn für eine kleine Perle im Wasser hält, und das Himmelgewölbe für ihre Muschel.
Gott, lass den Bau seines Glücks und seines Lebens beständig sein!
Gib ihm, Herr, alles, was er in dieser und in jener Welt wünscht!
Nihad hat ihm das Chronogramm geschrieben; segne ihn, wer ihn sieht:
Mehmed Pascha hat diese Brücke über das Wasser erbaut.
Obgleich die Brücke besser und beständiger war als alle anderen im Reich, hat sie doch im Lauf der Jahrhunderte viel Unglück erlebt. So wurde sie im österreichisch-türkischen Krieg 1873 bombardiert; 1896 vernichtete eine große Überschwemmung große Teile von Višegrad, wobei das Steingeländer beschädigt wurde, die Brücke selber jedoch fast unzerstört blieb. 1914 bauten die Österreicher Minen in die Brücke ein, und bei der serbischen Bombardierung der Kleinstadt im selben Jahr wurden zwei Pfeiler und die dazwischenliegenden Bögen vernichtet. Im Zweiten Weltkrieg wurden 1943 vier Pfeiler mit den Bögen von Minen zerstört. Der detailgetreue Wiederaufbau der Brücke fand zwischen 1949 und 1952 statt.
Die Brücke ist eines der wichtigsten nationalen Denkmäler von Bosnien und Herzegowina. Im Juli 2007 wurde sie von der UNESCO als Weltkulturerbe anerkannt. Sie gehört zur Entität Republika Srpska, doch ist sie heute kein Symbol, das verbindet, versöhnt und Horizonte öffnet, sondern ein Symbol für Leiden, Blutvergießen, Gewalt und Hass: In einer Art rückwärtsgewandter Geschichte war im Sommer 1992, als, entgegen den Idealen der Generation von Andrić, der blutige Zerfallskrieg des Landes begonnen hat, für das ihre Väter und Großväter gekämpft hatten, die Brücke von Višegrad der Schauplatz, wo serbische paramilitärische Formationen, als „Weiße Adler“ bekannt, bei der ethnischen Säuberung der Stadt einige tausend muslimischer Bewohner der Stadt umbrachten, darunter auch Hunderte von Kindern. Im Laufe des Krieges wurden daraufhin Denkmäler von Andrić zerstört, seine Bücher verbrannt, und der Autor zum Urheber des Hasses gegen die Bosniaken erklärt.
Zurufe
Im Roman „Die Brücke über die Drina“ hörte der Ladenbesitzer Alihodscha Mutevelić, ein weiser alter Stadtbewohner, der sein ganzes Leben ein ergebener türkischer Untertan war, im Frühherbst 1908 den Erlass des Kaisers und Königs Franz Josef über die österreichisch-ungarische Annexion Bosniens, ungläubig, „mit etwas geöffnetem Mund und gesenktem Kopf“, und er hörte dabei zum wiederholten Male einen kaiserlichen Erlass, andere, und doch die gleichen „kaiserlichen Worte“: „der in die Furchen des aufgepflügten Bodens geworfene Same“, „die Sorgen des Thrones“, „die Einführung von Verfassungsmäßigkeit im Lande“, „der Leitstern Unserer Regierung“... Er hörte die Worte, die er einzeln für sich nicht verstand, aber deren Sinn ihm auf einmal klar vor Augen stand: „Hier rufen sich Kaiser über Länder und Städte und über die Köpfe ihrer Völker hinweg etwas zu. Und ein jedes Wort im Erlass eines jeden Kaisers wiegt schwer. Länder werden zerrissen, Menschen verlieren ihren Kopf. Daher sagt man ‚Same ... Stern ... Sorgen des Throns‘, damit man die Dinge nicht bei ihrem richtigen Namen rufen und sagen muss, wie es ist: dass Länder und Gebiete, und mit ihnen lebendige Leute und ihre Siedlungen, wie Kleingeld von Hand zu Hand gehen, dass ein rechtgläubiger und gutwilliger Mensch auf Erden keinen Frieden finden kann, nicht einmal so viel, wie er es für sein kurzes Leben braucht.“
In den historischen Wirren und in der Erzählung von Ivo Andrić hat sich die Brücke über die Drina in Višegrad am Ende des 20. Jahrhunderts nicht weit von der Symbolik entfernt, die ihr durch die Jahrhunderte zugewachsen war, und auch nicht von den Zwecken, die ihr zeitweise und für kurze Zeit zugedacht waren. Die erste Stiftung des Mehmed Pascha und die Dankbarkeit gegenüber seinem Volk, aus der sie entstand, Richtplatz und Treffpunkt, Verbindungsstelle und Anblick versteinerter Schönheit, zu Kriegszeiten Werkzeug im Dienst der Vernichtung des Feindes, der es wagen würde, sie zu überschreiten, und in Friedenszeiten ein Anblick, der den Horizont in eine bessere Welt und auf andere Ufer öffnet: Sie bleibt fest und unbesiegbar, während sie ihre Besitzer wechselt, Epochen überholt und die Wandlungen und Moden der Zeit übersteigt, während das „sich Zurufen“ dauert und während „unsere ganze Hoffnung auf der anderen Seite ist“.
Aus dem Serbischen übersetzt von Thomas Bremer.
Die Brücke wurde 1571-1578 aus weiß-rosa bearbeitetem Kalkstein erbaut, hat 12 Pfeiler und 11 Bögen, ist insgesamt 180 Meter lang und 6 Meter breit. Nach Schäden durch Hochwasser und Kriegseinwirkung, zuletzt während des Zweiten Weltkriegs, wurde sie 1949-1952 in der ursprünglichen Gestalt erneuert.
Fußnoten:
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So Andrić in seiner Erzählung „Durst“. Alle weiteren Zitate stammen von Andrić, wenn es nicht anders angegeben ist. ↩︎
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Für die Erlaubnis zur Einfügung des Bildes sei Julian Nitzsche, der es gemäß GNU-Lizenz für freie Dokumentation zur Verfügung gestellt hat, ausdrücklich gedankt (Quelle:http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Visegrad_Drina_Bridge_1.jpg?uselang=de; letzter Zugriff: 04.04.2016). ↩︎
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Andrić lehnte während des Zweiten Weltkriegs im besetzten Belgrad das Ansinnen eines serbischen Herausgebers ab, ihn in eine Anthologie serbischer Schriftsteller aufzunehmen, obwohl er sich einen „serbischen Erzähler“ nannte. Mit einer ähnlichen Begründung hatte er 1933 die Einladung eines kroatischen Herausgebers abgelehnt, in eine Anthologie der neueren kroatischen Lyrik aufgenommen zu werden: „Ich muss Ihnen sagen, dass es mir aus meiner Perspektive weder vernünftig noch berechtigt erscheint, heute eine Anthologie herauszugeben, die sich auf einen Stamm beschränkt ... Ich könnte niemals an einer Publikation teilnehmen, aus der prinzipiell unsere anderen, mir so nahen Dichter ausgeschlossen wären, nur weil sie anderen Glaubens sind oder in einem anderen Gebiet geboren wurden.“ ↩︎
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Die Brücke wird im Roman nicht mit dem üblichen Begriff „most“, sondern mit dem Wort „ćuprija“ bezeichnet, das türkischen Ursprungs ist (Anm. d. Übersetzers). ↩︎