OWEP 2/2012
Schwerpunkt:
Brücken in Mittel- und Osteuropa
Editorial
Es gibt wahrscheinlich nicht viele Metaphern, die so häufig verwendet werden wie die der Brücke. Heute wird sogar die Nutzung der Nuklearenergie in Deutschland als „Brückentechnologie“ bezeichnet, die den Übergang von fossilen Brennstoffen zu nachhaltigen Energiequellen kennzeichnen soll. Eine Brücke wird demnach als eine Verbindung zwischen zwei unterschiedlichen Dingen gesehen, in der Regel Flussufer oder Berghänge, aber auch zwischen Gedanken, Motiven oder eben Methoden der Energiegewinnung.
Diese Sichtweise macht die Brücke eigentlich zu einem merkwürdigen Gegenstand, der zunächst keine eigene Qualität hat, sondern eine dienende Funktion. Die Brücke ist Instrument, Werkzeug für die Verbindung zwischen den beiden, die verbunden werden sollen. Die oft zitierte Weisheit, wonach das Leben eine Brücke sei, auf der man nicht verweilen, sondern über die man hinübergehen solle, macht das ebenfalls deutlich. Für keine Idee, keine Gruppe, keine Gesellschaft, kein System ist es attraktiv, nur Brücke zu sein. Es impliziert, dass man zwar benutzt wird, doch dann, wenn der Übergang geschafft ist, nicht mehr gebraucht wird oder jedenfalls nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses steht.
Und dennoch dürfen wir natürlich die Bedeutung der Brücke nicht unterschätzen. Gerade sie ist es eben, die uns die Verbindung, den Kontakt zu einer anderen Seite ermöglicht. Ohne Brücken müssen wir große Umwege oder mühseligere Übergänge in Kauf nehmen, oder wir müssten darauf verzichten, weiter zu gelangen als bis zum ersten größeren Hindernis, dem Fluss, der Schlucht oder etwa einer Autobahn. Ein solcher Verzicht würde aber auch bedeuten, auf das zu verzichten, was wir von jenseits bekommen können, was uns bereichern und weiterbringen kann: auf Kontakt und Begegnung, auf Impulse und Austausch. All das wird von der Brücke ermöglicht.
Die Redaktion hat sich von solchen Überlegungen leiten lassen, als sie beschlossen hat, den Brücken in Mittel- und Osteuropa ein Heft zu widmen. Dabei tun sich einige Überraschungen auf: Bedingt durch die historischen Umstände und die vielfältigen Verwicklungen in der Region gibt es Brücken, die nicht verbunden haben, sondern getrennt. Gleich der erste Beitrag ist ein Beispiel dafür. Brücken waren oft umstritten und umkämpft; nicht ohne Grund tragen viele berühmte Kriegsfilme das Wort in ihrem Titel, von der „Brücke von Arnheim“ bis zur „Brücke am Kwai“. Und schließlich waren Brückenbauten häufig ein wichtiger Ausdruck von Modernisierung; die Entwicklung des Eisenbahnwesens im 19. Jahrhundert machte es unumgänglich, Flüsse zu überbrücken, da Fähren nicht mehr hilfreich waren. Durch den Ausbau der Wege- und Straßennetze stieg die Notwendigkeit von großen und stabilen Brücken weiter an, zumal mit zunehmender Mobilität. Die Entwicklung des Bauwesens verlief parallel dazu. Besonders die Brückenbauer, die Ingenieure, haben oft technisch anspruchsvolle und neuartige Brückenbauten geplant und ausgeführt – aber in diesem Heft finden Sie auch Beiträge, die von der dauerhaften Baukunst viel früherer Zeiten zeugen. Eine Kartenskizze mit der Lage der behandelten Brücken finden Sie auf S. 85 (.
Lassen Sie sich von den Beiträgen in diesem Heft auf eine Reise durch Mittel- und Osteuropa mitnehmen, bei der Sie Brücken ganz unterschiedlicher Art kennen lernen, die zwischen Stadtteilen, Städten oder sogar Ländern verbinden, die in Kriegen und Konflikten zerstört, aber immer wieder aufgebaut wurden von Menschen, die sich nicht mit der Trennung zufrieden geben wollten. Wir wünschen Ihnen anregende Lektüre!
Die Redaktion
Kurzinfo
Mit einer Brücke verbinden sich vielfältige Assoziationen. Jeder hat sofort ein Bild vor Augen und weiß natürlich auch, dass mit „Brücke“ oder „Brückenschlag“ stets eine metaphorische Bedeutung verbunden ist. Wer sich die Entwicklung Europas in den vergangenen zwei oder drei Jahrzehnten vor Augen führt, kommt immer wieder auf diesen Begriff zurück. Fast muss man einräumen: Er klingt etwas abgenutzt, abgedroschen. Vielleicht ist es schon zu selbstverständlich geworden, dass es heute wieder Brücken von Stadt zu Stadt, von Land zu Land, von Mensch zu Mensch gibt, die in der Zeit des „Kalten Krieges“ nicht existierten. Vieles ist seither in Europa geschehen; gerade deshalb ist es aber wichtig, auch an diese Veränderungen zu erinnern.
Das vorliegende Heft führt auf einer Reise, die in Deutschland beginnt und nach einigen Etappen in Russland endet, zu ganz unterschiedlichen Brückenbauwerken, von denen jedes eine besondere Geschichte hat. Die Auswahl ist willkürlich, denn natürlich können immer nur einige Brücken vorgestellt werden – vielleicht ist sie aber auch ein wenig repräsentativ. Zur näheren Orientierung bietet das Heft vor den Hauptartikeln eine kurze Kartenskizze; außerdem finden sich am Ende der einzelnen Beiträge Kurzinformationen mit den wesentlichen Eckdaten zum vorgestellten Bauwerk. Auch enthalten die Beiträge eine oder mehrere Abbildungen.
Am Beginn des Heftes steht jedoch ein Beitrag über einen „Brückenbauer“. Prof. Dr. Michael Albus würdigt unseren langjährigen Redaktionskollegen Wolfgang Grycz, der sich besonders um die deutsch-polnische Verständigung verdient gemacht hat. In wenigen Wochen wird er seinen 80. Geburtstag feiern. Eine kleine Hommage ist der zweite Hauptartikel des Heftes über die Stadtbrücke seiner Heimatstadt Frankfurt (Oder).
Eine Brücke, die im „Kalten Krieg“ genau an der Grenze zwischen „Ost“ und „West“ lag, steht am Beginn der Beiträge. Prof. Dr. Beatrice de Graaf, Professorin für Konflikt- und Sicherheitsgeschichte an der Universität Leiden, schildert die Geschichte der Glienicker Brücke zwischen Berlin und Potsdam, gelegen in der Idylle der brandenburgischen Seen- und Schlösserlandschaft. Nach 1945 spielte sie im Agentenaustausch eine wichtige Rolle und wurde sogar zur Filmkulisse hochstilisiert. Weniger spektakulär verlief die Geschichte der Stadtbrücke über die Oder, die ursprünglich Frankfurt mit seiner Dammvorstadt verband und seit 1945 die Grenze zwischen Deutschland und Polen markiert. Dr. Felix Ackermann, Dozent an der Europäischen Humanistischen Universität in Vilnius, der mehrere Jahre in Frankfurt gelebt hat, beschreibt Entstehung und Entwicklung der Brücke, deren Bogen, der erst beim Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg eingefügt wurde, zum Symbol der Verbindung zwischen Frankfurt (Oder) und dem polnischen Słubice geworden ist und zugleich für das inzwischen gute Verhältnis zwischen Deutschen und Polen beiderseits der Oder steht.
Kunst- und Architekturgeschichte stehen im Mittelpunkt des Beitrags von Dr. Petra Ouliková, Dozentin für Christliche Kunst an der Karlsuniversität in Prag, über die Karlsbrücke, die wohl berühmteste Brücke über die Moldau und eine der ältesten steinernen Brücken in Europa. Seit über 600 Jahren verbindet sie die Prager Altstadt mit der Kleinseite unterhalb des Hradschin; ihr Skulpturenschmuck zählt zu den Höhepunkten des böhmischen Barocks. Eine architektonische Meisterleistung der Moderne, die Széchenyi-Kettenbrücke in Budapest, beschreibt Dr. Ralf Thomas Göllner, Stellvertretender Direktor des Ungarischen Instituts an der Universität Regensburg. Der Bau dieser Brücke in der Mitte des 19. Jahrhunderts markiert nicht nur eine wichtige Etappe in der industriellen Entwicklung Ungarns, sondern war auch ein entscheidender Schritt auf dem Weg zur Vereinigung von Buda/Ofen und Pest zur Metropole Budapest.
Mit den beiden folgenden Bauwerken richtet sich der Blick nach Südosteuropa und – im Hinblick auf die Entstehung – auf die Zeit der osmanischen Herrschaft auf dem Balkan. Der Brücke über die Drina, gelegen in der heutigen Republika Srpska, einem Bestandteil von Bosnien und Herzegowina, hat der Literaturnobelpreisträger Ivo Andrić in seinem gleichnamigen Roman ein Denkmal gesetzt. Der serbische Schriftsteller und Übersetzer Dejan Mihailović geht in seinem Beitrag der geschichtlichen Bedeutung der Brücke nach und schildert außerdem die Rolle des Bauwerks und der Menschen im Umfeld der Brücke für Leben und Werk Ivo Andrićs. Hier wie bei dem folgenden Text über die weltberühmte Brücke von Mostar, den „Daumennagel Gottes“, geht es immer auch um Krieg und Zerstörung, um die Tragik von Menschen, die nicht (mehr) miteinander zusammenleben können oder wollen. So wurde die Brücke von Mostar, deren Geschichte die Schriftstellerin und Internetkolumnistin Martina Mlinarević-Sopta erläutert, 1993 zerstört und verbindet seit ihrem Wiederaufbau zwar Stadtteile von Mostar, jedoch kaum die Menschen auf beiden Seiten.
Dass eine Brücke zwischen zwei Ländern mit einer langen gemeinsamen Grenze entlang der Donau Völker einander näherbringt, die im letzten Jahrhundert eher Gegner als Nachbarn waren, gilt sicher für die „Brücke der Freundschaft“ zwischen Russe (Bulgarien) und Giurgiu (Rumänien). Stefan Markov, Direktor der Caritas Russe, zeichnet die Vorgeschichte und den Bau der Anlage nach, die – vergleichbar mit der Széchenyi-Kettenbrücke in Budapest im 19. Jahrhundert – als ingenieurtechnische Meisterleistung des 20. Jahrhunderts gelten kann. Besonders die Stadt Russe hat seit der Eröffnung der Brücke einen großen Aufschwung erlebt.
Zwei Städte in Russland beschließen die kleine Reise und stehen gleichzeitig für eine ganze Reihe von Bauwerken. In Saratow am Unterlauf der Wolga gab es bereits Ende des 18. Jahrhunderts Planungen für eine Überquerung des gewaltigen Stroms, die erst im 20. Jahrhundert umgesetzt werden konnten. Prof. Dr. Guido Hausmann, Osteuropahistoriker an der LMU München, beschreibt die Entwicklung der „Brückenstadt“ Saratow bis zum Bau der 1965 eröffneten Straßenbrücke. Mit Sankt Petersburg kommt schließlich das „Fenster zum Westen“ Russlands in den Blick, das nicht ohne Grund die Beinamen „Venedig“ oder „Amsterdam des Nordens“ führt. Regina Elsner, die 2005-2010 als Mitarbeiterin der Caritas in Sankt Petersburg gelebt hat, führt die Leserinnen und Leser zu bekannten und weniger bekannten Brücken, weist auf kunsthistorische Besonderheiten hin und zeigt, welche Bedeutung die Brücken für Besucher wie für Einheimische haben.
Einige Literaturhinweise runden das Heft ab.
[img_assist|fid=895|width=626|align=center|title=|desc=|link=popup] Brückenübersicht (nach Standorten)
Ein Hinweis auf das nächste Heft: Im August 2012 wird Heft 3 erscheinen, das dem Schwerpunkt „Rechtsextremismus in Mittel- und Osteuropa“ gewidmet ist. Neben einem einführenden Beitrag zur Begriffserläuterung wird das Heft länderspezifische Beiträge u. a. zur Situation in Polen, Russland und Ungarn enthalten.
Dr. Christof Dahm