Kosovo: Der Aufbau eines Staates

aus OWEP 3/2012  •  von Jeton Neziraj

Jeton Neziraj ist Dramatiker, seine Werke werden in Europa und den USA aufgeführt und sind in viele Sprachen übersetzt. Er publiziert auch zu kulturellen und politischen Themen. Neziraj ist Gründer und Direktor von Qendra Multimedia, einer Produktionsfirma mit dem Schwerpunkt „Kultur“ in Prishtina.

Zusammenfassung

Mit der Verkündigung der Unabhängigkeit von Kosovo im Februar 2008 wurden viele empfindliche politische Fragen gelöst, dennoch ist das Verhältnis zwischen Serben und Albanern im Kosovo bis heute voller Spannungen. Leidtragende der latenten Auseinandersetzungen sind die Roma, deren Schicksal im Mittelpunkt des folgenden Beitrags steht.

Auf dem Rücken eines riesigen Stiers

Obwohl vor vielen Jahrhunderten der Glaube ausgestorben ist, dass die Welt auf dem Rücken eines großen Stiers gehalten wird, wünschten meine Altersgenossen und ich als Kinder, dass das wahr wäre. Alles, was auf der Welt geschehen ist, haben wir durch die Bewegungen eines einzigen Haares des riesigen Stiers erklärt, durch seine emotionalen Zustände, durch sein Futter usw. Von Ländern wie etwa Palästina und Israel haben wir gedacht, dass sie sich an den sensibelsten und reizempfindlichsten Teilen des Stierrückens befinden und das der Grund dafür ist, warum wir von dort immer spektakuläre Nachrichten erhielten. Jetzt, nach vielen Jahren, kommt mir, wenn ich an diese Kinderphantasien zurückdenke, der Gedanke, dass vielleicht auch Kosovo auf dem Rücken eines Stieres liegt, und zwar genau dort, wohin der Stier gewöhnlich mit seinem Schwanz jedes Mal schlägt, wenn eine Schmeißfliege dorthin fliegt.

Das Kosovo, nur ein kleiner Fleck auf der Europakarte, ist auch weiterhin der Mittelpunkt der Welt, wo verschiedene Menschen, Organisationen und Strukturen, legale und illegale, ihre schwarz-weißen Spiele fortsetzen wie auf einem Schachbrett. Die Verkündigung der Unabhängigkeit von Kosovo im Februar 2008 hat viele empfindliche politische Fragen gelöst, zugleich sind aber auch viele andere Fragen ungelöst geblieben und neue Fragen hinzu gekommen. Die Hauptbedrohung der Zukunft des Kosovo liegt auch weiterhin in den nationalistischen Kräften und in den Resten der Formationen von Milošević in Serbien, doch gleichzeitig stellen auch innere Faktoren eine ebenso große Gefahr für die Zukunft dar, Faktoren, die mit dem Anwachsen des politischen Extremismus, des religiösen Radikalismus und den Beziehungen gegenüber den Minderheiten zusammenhängen. Das gilt besonders gegenüber den Roma, deren Lage niemals die Aufmerksamkeit hatte, die sie in den politischen Agenden haben müsste.

Die Kosovo-Albaner beschuldigen die internationale Gemeinschaft für die Zuspitzung der Lage im Norden des Kosovo, der unter der Kontrolle von serbischen Parallelstrukturen steht. Wie eine Zeitbombe ist Nord-Mitrovica weiterhin der neuralgische Punkt, der das Wachstum von Extremismus auf beiden Seiten, bei Serben und bei Albanern, stimuliert. In diesen neuen Umständen nehmen die hoffnungslose Isolation, die Armut und die politischen Aktionen, die im Norden des Kosovo in eine unklare Richtung gehen, Einfluss auf viele Individuen und politische Gruppen unter den Albanern, sodass sie als mögliche Alternative immer mehr das Projekt einer Vereinigung des Kosovo mit Albanien betrachten.


Seit einiger Zeit bilden radikale religiöse Gruppen, Gemeinschaften und Sekten eine weitere Gefahr für die sensible Zukunft des Kosovo. Einige von ihnen arbeiten schon seit Jahren offiziell registriert als Missionen von humanitären Aktivitäten, inoffiziell haben sie sich mit verdächtigen subversiven Aktivitäten beschäftigt. Die aggressivsten in dieser Hinsicht waren radikale Gruppen von Islamisten, denen es gelungen ist, in die Strukturen dessen einzudringen, was der „traditionelle Islam des Kosovo“ heißt; das ist faktisch eine Version von liberalem Islam, der als solcher im Kosovo funktioniert und eine jahrhundertelange Tradition hat. Die Konfrontationen dieser radikalen Gruppen von Islamisten mit anderen und untereinander werden jetzt offensichtlich.

Die „Partei der Gerechtigkeit“, die bei Wahlen bisher nie mehr als drei Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnte, hat im vergangenen Jahr ein Gesetz vorgeschlagen, nach dem man in öffentlichen Schulen Religionsunterricht einführen sollte, doch im Parlament vom Kosovo hat dieser Vorschlag keine Unterstützung erhalten. Daraufhin forderte diese Partei zur Klärung der Frage ein nationales Referendum. Allerdings wirkte eine Initiative, die von einer Partei kommt, welche so wenig Wähler hinter sich hat, nicht sehr ernsthaft.

Die Führer der „Demokratischen Partei von Kosovo“, die jetzt an der Macht ist, werden häufig als Nachfolger des Marxismus-Leninismus etikettiert. Als sie von der „Partei der Gerechtigkeit“, die einer ihrer Koalitionspartner in der Regierung ist, in Versuchung geführt wurde, Religionsunterricht in Schulen einzuführen, stimmte die Mehrheit der Abgeordneten dieser Partei gegen den Gesetzesvorschlag; das wurde dann mit den Worten kommentiert: „Die haben sich aber spät daran erinnert, von Marx und Lenin die Anerkennung der Existenz Gottes zu verlangen!“


Während in der Zwischenzeit viel für die Verbesserung der Lage der Serben auf dem Kosovo getan wurde, die dank der aktuellen politischen Umstände erheblich von der so genannten „positiven Diskriminierung“ profitiert haben, sind die übrigen Minderheiten wie etwa die Roma außerhalb der Aufmerksamkeit der Politik geblieben. Die Anti-Roma-Welle in Europa, ihre Abschiebung aus Frankreich und besonders aus Deutschland, rassistische Proteste und Aufrufe gegen Roma in Bulgarien und Rumänien haben als schlechte Vorbilder für die Kosovaren gedient. Die Regierung des Kosovo hat sich einverstanden erklärt, die aus Deutschland abgeschobenen Roma aufzunehmen, indem sie Garantien für ihre Aufnahme und für einen Status gegeben hat, die sie nicht erfüllen konnte. Diese Garantien beziehen sich auf die Sicherheit und den sozialen Status der abgeschobenen Roma. Auf eine bestimmte Art und Weise haben die Garantien der Regierung von Kosovo der deutschen Regierung dazu gedient, die Organisationen und Gruppen, die sich mit dem Schutz der Menschenrechte in Deutschland und Europa beschäftigen und die diesen Prozess als etwas sehen, was die grundsätzlichen Menschenrechte gefährdet, ruhig zu stellen.

Roma auf dem Kosovo (eine ganz persönliche Sicht)

Ich kann mich nicht genau erinnern, wann ich als Kind das erste Mal von Roma gehört habe. Ich kann mich wie in einem Nebel an ihre Zelte erinnern und an die Romafrauen, die gekommen sind und uns angeboten haben, „das Schicksal aus der Hand zu lesen“. Das sind bereits bekannte Erzählungen und Stereotype über Roma. Aber ich glaube, dass auch meine Vorstellungen über Roma in jener Zeit rassistisch gefärbt waren. Ich glaubte, dass sie schlecht sind, dass sie Kinder stehlen, Diebe sind, unrein sind usw. usw. – also Vorstellungen, die in das klassische Arsenal des Rassismus fallen.

Bis in die neunziger Jahre waren die Roma im damaligen jugoslawischen Staat, zu dem auch das Kosovo gehörte, wohl einigermaßen angepasst. Das Radio- und Fernsehprogramm von hat zu jener Zeit eine eigene Sendung mit Nachrichten für Roma gesendet, ebenso kulturelle und pädagogische Sendungen in ihrer Sprache. Ihre Lage auf dem Kosovo war nicht sehr viel anders als die in den anderen Teilen Jugoslawiens, außer vielleicht hinsichtlich des Lebensstandards, der auf dem Kosovo ohnehin der niedrigste in der damaligen Föderation war. Doch die Beziehungen zwischen Albanern und Roma haben sich dann erheblich verschlechtert. Das war die Zeit, als Milošević die Autonomie des Kosovo abgeschafft und eine Politik von Gewalt, Repression und ethnischen Teilungen betrieben hat. Die Albaner haben sich einer solchen Politik durch Aktionen entgegengestellt, die als der „große Boykott“ bekannt sind, und deswegen wurden sie mit Gewalt von Arbeitsplätzen, aus Firmen, Fabriken, Krankenhäusern, der Verwaltung und dem öffentlichen Dienst entfernt. Davon haben damals außer den Serben auch die Roma profitiert, weil sie die Anstellungen an den am schlechtesten bezahlten Arbeitsplätzen erhalten haben, die nach den Entlassungen der Albaner leer geblieben sind. Viele Roma sind auf diese Weise in den Strudel der Politik von Milošević geraten, die ihren Hauptkampf gegen die Albaner geführt hat. Eine solche politische Entwicklung hat bei der albanischen Mehrheitsbevölkerung auf dem Kosovo ein Bild von den Roma als „Handlangern des serbischen Extremismus“ geschaffen. Diese Vorstellung über die Roma wurde während des Krieges im Kosovo vertieft, weil Roma auch in die militärischen, polizeilichen und paramilitärischen Formationen rekrutiert wurden, die Verbrechen an den Albanern ausgeübt haben.


Zur Zeit des Krieges auf dem Kosovo haben wir von den Bergen aus Roma gesehen, die albanische Häuser geplündert haben, die noch nicht verbrannt waren, die geplünderte Gegenstände in Lastwagen geladen und sie weggefahren haben. Damals habe ich zwei Artikel gelesen, die Flüchtlinge aus dem Kosovo geschrieben haben, welche vorläufig in Makedonien untergebracht waren. Der Autor des einen Artikels war ein bekannter albanischer Intellektueller, den anderen hat eine junge Romafrau geschrieben. Der erste Artikel war voller Vorwürfe gegen die Roma und zeigte sie im Licht der Beteiligung an den Verbrechen, die sich während des Krieges ereignet haben. Der andere Beitrag der Romafrau machte hingegen klar, dass es Roma gab wie sie, die mit dem Schicksal der Mehrheit der Albaner Mitleid hatten und das gleiche tragische Schicksal geteilt haben.

Nach dem Ende des Krieges wurde ein guter Teil der Roma gezwungen, Kosovo zu verlassen, wie das auch viele Serben aus Angst vor möglicher Rache der Albaner gemacht haben. Aber man muss betonen, dass durch das Abkommen von Kumanovo vom 9. Juni 1999 die serbische Seite verpflichtet war, alle bewaffneten Formationen aus dem Kosovo zu entfernen, einschließlich der paramilitärischen Einheiten; davon gab es viele im Kosovo, und sie haben ihre Familien mit sich genommen. Auch sind nach dem Krieg viele Romaflüchtlinge, die vorher geflohen waren, nämlich während der von serbischen Streitkräften durchgeführten ethnischen Säuberungen, nicht mehr ins Kosovo zurückgekehrt. Die verbliebenen Roma haben die Kontakte mit der albanischen Bevölkerung auf ein Minimum reduziert. In den ersten Jahren nach der Intervention und der Befreiung des Kosovo konnten sich Roma ebenso wenig wie Serben frei im Kosovo bewegen. Und auch heute gibt es Städte und Dörfer mit albanischer Mehrheit, in denen Roma nicht willkommen sind.


Drei Jahre nach dem Krieg im Jahr 2002 haben wir zusammen mit einer Gruppe von französischen Theaterleuten ein Theaterprojekt initiiert, das wir „Reise nach UNMIKSTAN“1 nannten. Aus dieser Gruppe ist mir ein Rom aus Prizren bekannt, von dem ich später erfahren habe, dass er Dichter ist. Wir haben ihn eingeladen, zu uns zu kommen, aber er lehnte es ab. Später sagte er mir in einem Telefongespräch: „Aber ich bin nicht ein einziges Mal nach dem Krieg in Prishtina gewesen … Ich möchte nicht, dass Sie wegen mir Schwierigkeiten bekommen.“ Dennoch konnten wir ihn überzeugen zu kommen. Das war zu einer Zeit, als man in Prishtina keine Roma gesehen hat. Er ist gekommen, fühlte sich aber natürlich unangenehm berührt. Durch die Stadt ist er mit niedergeschlagenem Blick gegangen, als wolle er sein Gesicht verbergen. Einige Jahre später erzählte er mir, dass er im Bus, mit dem er aus Prizren nach Prishtina gereist ist, dauernd Zeitung gelesen hat, damit er sein Gesicht verbergen konnte und nicht als Rom erkannt wurde.


Unglücklicherweise hat sich die Welle der Intoleranz gegenüber den Roma auf dem Kosovo nicht nur auf diejenigen gesellschaftlichen Schichten beschränkt, die traditionell negative Stereotype gegenüber den Roma hatten, sondern eine solche Haltung ist auch bei der intellektuellen Elite anzutreffen, besonders bei jenen aus der älteren Generation, die in der erregten nationalistischen Ideologie aufgewachsen sind. So ist vor Kurzem ein talentierter Romakünstler von einem politischen Extremisten überfallen worden. Obwohl man das einen „zufälligen Zwischenfall“ nannte, blieb doch die Angst, dass Angriffe auf diesen Künstler sich wiederholen könnten. Gott sei Dank wurde dieser Zwischenfall von den Medien entsprechend kritisch beleuchtet. Aber wie viele Fälle gibt es, von denen die Öffentlichkeit nichts weiß?

Als Teenager habe ich den Roman von Erskine Caldwell „Trouble in July“ (deutsch: Ein heißer Tag) gelesen, von dem ich mich schwach an den Haupthelden erinnere, einen Afroamerikaner bzw. Schwarzen, wie man das damals nannte, der wegen eines Verbrechens angeklagt war, das er nicht begangen hat. Er flieht und will sich vor einer Menge von Weißen verstecken, die ihn verfolgen, um ihn zu lynchen. Am Ende erwischen sie ihn und wollen seine Aussage weder hören noch beachten.

Die kosovarische Gesellschaft muss sich vom Erbe und dem Gewicht der Vergangenheit, wonach alle Roma als Kriegsverbrecher und Mitarbeiter des Regimes von Milošević betrachtet werden, befreien – bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg.

Deutsch von Thomas Bremer.


Fußnote:


  1. UNMIK (United Nations Interim Administration Mission in Kosovo) ist der Name der UN-Friedensmission für Wiederherstellung und Wiederaufbau des Kosovo. ↩︎