Ungarn: Bei den Enkeln Attilas
Zusammenfassung
Die Geister der Vergangenheit spuken in Ungarn jetzt bei Tageslicht. Die nationalkonservative Fidesz-Regierung um Ministerpräsident Viktor Orbán betreibt eine Politik der Restauration: Großungarn-Träume sind wieder salonfähig, Rechtsextreme und Antisemiten aus der Vergangenheit erfahren neue Ehren, die Regierung Orbán knüpft bewusst an die autoritäre Herrschaft des Reichsverwesers Miklós Horthy an. Der Umbau der ungarischen Gesellschaft im Sinne der Regierungspartei ist flächendeckend, die Abwendung vom Westen, von der Europäischen Union ist symptomatisch.
Ungarn – ein Volk von Freiheitskämpfern?
„Ich grüße Euch, Enkel Attilas.“ Der Vorsitzende der rechtsextremen Partei Jobbik (Die Besseren/Rechteren) Gábor Vona spricht zu seinen Anhängern am 15. März, dem Nationalfeiertag in Budapest. Seine Rede ist kämpferisch. „Wir wissen, was Freiheit ist“, ruft er in das Mikrofon. Die Ungarn seien immer der Puffer gewesen für die Franzosen. Ungarisches Blut sei dafür geflossen, dass die Franzosen ihre Ruhe haben. „Wir haben den Tatarensturm erlitten“, sagt der Rechtsextreme, „und die türkische Besatzung“. Ein Klassiker rechter Denkmuster in Ungarn. David gegen Goliath. Kleines Land gegen fremde Großmächte. „Das ist das romantische Geschichtskonzept der Rechten“, sagt der Budapester Historiker János Rainer: „Ungarn als Opfer der Geschichte.“
Und in der wimmelt es von Helden, von vergossenem Blut. Von Freiheitskämpfen. Und Niederlagen. 1526 – die Schlacht von Mohács gegen die anstürmenden Osmanen: Ein Flop, der gut 150 Jahre türkischer Besatzung nach sich zog. 1848/49 – die gescheiterte Revolution gegen die Habsburger. 1956 – der aussichtslose Aufstand: Halbwüchsige mit Molotow-Cocktails gegen russische T-54-Panzer.
„Siege in der Niederlage“ nennt der jüdische Publizist Paul Lendvai den Trick der ungarischen Rechten, die wenig erfolgreiche Rolle der Magyaren in der Geschichte umzudeuten, die Nation zu überhöhen. Und der kürzlich verstorbene Theatermacher Ivan Nagel ging noch weiter. Auf einer Veranstaltung der Berliner Schaubühne Anfang des Jahres sagte der aus Budapest stammende Adorno-Schüler: „Diese Opfer-Ideologie hat als Spitze den Antisemitismus, weil dort der Fremdherzige am schärfsten zu fassen ist“, so der Theatermann, der nur unter falschem Namen den Holocaust überlebt hatte.
Hetze gegen „Fremdherzige“
„Niemand muss uns den Freiheitskampf erklären“, ruft der nationalkonservative Ministerpräsident Viktor Orbán seinen Anhängern an diesem 15. März zu. Hunderttausende sind auf den Kossuth-Platz vor dem Parlament gekommen. „Er bestimmt unser ganzes Sein“, behauptet der umstrittene Premier. „Wir werden keine Kolonie sein“, ruft er seinen begeisterten Anhängern zu. Die Stoßrichtung beider Redner (Vona und Orbán) ist klar: Es geht gegen Brüssel und gegen das „Diktat“ des internationalen Finanzkapitals. „Damit sind die Juden gemeint“, erklärt der Politologe Zoltán Kisszelly – Globalisierungskritik also im antisemitischen Gewand. Antisemitismus ist seit der politischen Wende in Ungarn salonfähig geworden. „Der Geist ist der Flasche entwichen“, heißt es bei MAZSIHISZ, dem Verband der jüdischen Gemeinden in Ungarn. Einer der schlimmsten Hassprediger ist der Journalist Zsolt Bayer. Er hetzt in der rechten Tageszeitung „Magyar Hírlap“ und im „Echo TV“ – beides regierungsnahe Medien. Auch gegen den weltbekannten Pianisten András Schiff. Der hatte einen ungarn-kritischen Leserbrief in der „Washington Post“ geschrieben. „Ich wurde als Saujude beschimpft“, schilderte der Pianist auf der Veranstaltung der Berliner Schaubühne („Antisemitismus in Ungarn – was tun?“). Orbáns Wadenbeißer Zsolt Bayer hetzte nicht nur gegen Schiff, sondern auch gegen den grünen Europa-Politiker Cohn-Bendit und gegen den britischen Journalisten Coen. „Alle diese Cohens und ihre Vorfahren“ hätte man 1919 im Wald von Orgovány verscharren müssen. Dort fand damals ein Massaker rechtsgerichteter Bürgerwehren statt. „Ich trete deshalb in Ungarn nicht mehr auf“, sagt Schiff.
Antisemitismus ist wieder salonfähig in Ungarn
Auch Imre Kertész, einziger ungarischer Literaturnobelpreisträger und Holocaust-Überlebender, zieht es vor, in Berlin statt in seiner Heimatstadt Budapest zu leben. In einem Interview mit der Tageszeitung „Die Welt“ prangerte er vor drei Jahren die Verhältnisse in seinem Heimatland an. „Rechtsextreme und Antisemiten haben das Sagen“, so Kertész damals. Die Vergangenheit werde nicht aufgearbeitet, alles werde zugeschminkt mit „Schönfärberei“. Die Ungarn hätten einen „Hang zum Verdrängen“. Die Reaktion folgte prompt. „Ungarnhasser“, „Kertész verunglimpft die Nation“ oder schlicht: „Jude“ – das waren die Titelzeilen in den ungarischen Zeitungen. Der Literat konterte im öffentlich-rechtlichen Fernsehen: Seine Kritik sei nicht ungarnfeindlich, ließ er seine Landsleute wissen, er wolle nur die Wahrheit sagen dürfen. Doch damit tun sich die Ungarn schwer. „Es hat nach 1945 keine Aufarbeitung des Pfeilkreuzler-Rassismus in Ungarn gegeben“, meint auch der Schriftsteller und ehemalige Bürgerrechtler Rudolf Ungváry.
Ein halbes Jahr vor Kriegsende, im Herbst 1944, kamen die ungarischen Pfeilkreuzler unter Ferenc Szálasi an die Macht. Zehntausende Juden brachten die Ableger der deutschen Nazis um, sie schossen sie in die eiskalte Donau. Ungarische Behörden halfen tatkräftig mit beim „Holocaust nach dem Holocaust“, dem insgesamt mehr als eine halbe Million ungarischer Juden zum Opfer fiel. Imre Kertész beschreibt die Deportationen in seinem „Roman eines Schicksalslosen“. Ein Tabu-Thema in Ungarn. Die Schuhe, die am Ufer der Donau an die Massaker der Pfeilkreuzler erinnern, füllte vor einigen Jahren jemand mit Schweinefüßen.
Die Rechtsextremen profitieren von der Krise
Vier Jahre lang saß mit der MIÉP, der ungarischen Wahrheits- und Lebenspartei, nach der politischen Wende von 1989 erstmals eine offen antisemitische Partei im Parlament. Ihr Erbe hat Jobbik angetreten: 47 Abgeordnete haben den Einzug in das Parlament an der Donau geschafft, 3 in das Europäische Parlament. Bei der Parlamentswahl 2010 machten 17 Prozent der Ungarn ihr Kreuz bei den Rechtsextremen von Jobbik. Ihre Parteiarmee, die „Ungarische Garde“ wurde zwar verboten, aber in immer neuen Namen und neuen Fantasie-Uniformen taucht sie immer wieder auf.
Die Rechtsextremen sind es, die derzeit am meisten vom allgemeinen Frust profitieren. Ungarn leidet unter der Wirtschaftskrise und der politischen Alternativlosigkeit. Und: Die Rechtsextremen treiben Viktor Orbán, den national-konservativen Ministerpräsidenten, der mit Zweidrittelmehrheit regiert, noch weiter nach rechts. Dies merkt man auch an der Sprache. Die Jobbik-Europaabgeordnete Krisztina Morvai verunglimpft Juden gerne als „Fremdherzige“. Viktor Orbán hat die Vokabel übernommen. „Damit versucht er, die antisemitischen Ungarn anzusprechen“, sagt der Schriftsteller und Bürgerrechtler Rudolf Ungváry. Reine Taktik, meint die Philosophin Ágnes Heller, denn per se antisemitisch sei die Regierungspartei Fidesz nicht – „(sie übernehmen) nur die Slogans“.
Aber Jobbik (2003 gegründet) ist die Partei, die immer mehr an Zuspruch gewinnt, schon jeder fünfte Ungar würde hinter dieser Partei das Kreuz machen, so jüngste Umfragen. „Sie distanzieren sich nicht von Gewalt, sie greifen Juden an, sie hassen Fremde,“ meint Péter Feldmájer, Vorsitzender des Verbandes der Jüdischen Gemeinden in Ungarn (MAZSIHISZ) „und sie machen immer wieder deutlich, dass sie Rechtsstaat und Gesetze nicht ernst nehmen“. So legte Parteichef Gábor Vona 2010 seinen Amtseid im Parlament in der Weste der mittlerweile verbotenen „Ungarischen Garde“ ab.
Rechtsextreme Subkultur
In Ungarn hat sich in den letzten Jahren eine breite rechtsextreme Subkultur entwickelt. Es gibt entsprechende Radiosender wie „Szent Korona Rádió“. Läden wie „Szkitabolt“ (Skythenladen) in Budapest schießen wie Pilze aus dem Boden. Dort kann man CDs erstehen, Bücher und rechtsextreme Aufkleber. Man kann sich in Runenschrift weiterbilden und von früher träumen, als Europa vor den Pfeilen der Ungarn zitterte. Um das praktisch zu erlernen, werden auch entsprechende Utensilien verkauft: Reflexbögen, Pfeile und allerlei Schamanenwerkzeuge wie Trommeln. Auch im Internet und in der Musikszene ist eine entsprechende Subkultur entstanden. „Nemzeti-Rock“ (National-Rock) ist das Etikett für Bands wie „Kárpátia“, „Nemzeti Front“ (Nationalfront) oder „Romantikus Eröszak“ (Romantische Gewalt). Diese Bands touren nicht nur in Ungarn, sondern auch in den Anrainerstaaten, in denen viele Ungarn leben. Ihre Texte propagieren die Wiederauferstehung eines Großungarn. Auf einer eigenen Internet-Seite (nemzetirock.hu) gibt es Veranstaltungstipps für Rechtsrock-Fans, etwa die regelmäßig stattfindenden Nemzeti-Rock-Festivals, Überschrift: „Für die Heimat“. Als Gegengewicht zum Budapester Sziget-Festival organisieren Rechtsextreme alljährlich das „Nemzeti Sziget“-Festival. Das Internet-Portal kuruc.info – ein rechtsextremer Digital-Pranger – sammelt unter den Rubriken Judenkriminalität, Zigeunerkriminalität und Anti-Magyarismus vermeintliche Verfehlungen von sogenannten „Vaterlandsverrätern“. Zweifelhafte Ehre: Der Verfasser dieser Zeilen wird dort als „der Heimat entfremdeter, jüdischer Publizist“ charakterisiert. Nach dem Posting landete ein Shitstorm in meinem E-Mail-Fach.
Roma als Sündenböcke
Die Partei Jobbik stellt in dem kleinen Ort Tiszavasvár im Osten Ungarns den Bürgermeister. Gegenüber einer iranischen Delegation, die er in dem Ort herumführte, bezeichnete Parteichef Gábor Vona die kleine Gemeinde im Osten Ungarns als „Hauptstadt unserer Bewegung“. Jobbik betreibt in dem Ort eine Bürgerwehr – toleriert von der Polizei. Wochenlang konnte eine rechtsextreme Bürgerwehr im nordostungarischen Gyöngyöspata unbehelligt Roma terrorisieren. „Das Gewaltmonopol kann nur vom Staat ausgehen“, empört sich MAZSIHISZ-Vorsitzender Péter Feldmájer angesichts der rechtsextremen Umtriebe auf den Straßen seit Jahren.
Erst nach einer Beschwerde der EU-Justizkommissarin Viviane Reding schritt die Polizei ein. Auch in Gyöngyöspata regiert mittlerweile ein Jobbik-Bürgermeister, Oszkar Juhász. Wegen der rechtsextremen Umtriebe war sein überforderter Vorgänger im Amt zurückgetreten. Jetzt wurde die Tonbandaufnahme einer vertraulichen Unterredung des Kommunalpolitikers Juhász vor der Wahl öffentlich, in der er von einem Bürgerkrieg mit den Roma faselte: „Das ist kein Problem“, wird Juhász zitiert, „aber er soll erst dann ausbrechen, wenn wir gewinnen können“. Und weiter: „Diese Rasse muss man hier in ein paar Tagen durch den Fleischwolf drehen.“
Eine solche Einstellung gegenüber der größten Minderheit in Ungarn sorgt für ein Klima des Hasses und der Gewalt. Rechtsextreme Killertrupps töteten in den vergangenen Jahren ein halbes Dutzend Roma – immer nach dem gleichen Muster: Verlassene Ortschaften in der Provinz, Häuser am Dorfrand, abgelegen. Die Attentäter kamen alle aus dem Jobbik-Umfeld, die geistigen Brandstifter sowieso. So genannte „Zigeunerkriminalität“ gehört zum Standard-Repertoire von Jobbik-Ideologen, Hetze gegen die etwa 600.000 ungarischen Roma zum Umgangston der Partei. „Das ist ein politisches Konzept, um Wählerstimmen zu gewinnen“, sagt der Roma-Funktionär Orbán Kolompár. Aber ein Konzept, das zieht. Denn Bagatelldelikte wie Diebstähle sind in der Provinz durchaus ein Problem. Und Roma sind eben auch unter den Tätern. „Das ist aber organisierte Kriminalität auf niedrigem Niveau“, so der Budapester Sozialwissenschaftler Szilvester Póczik. Der Grund dafür: Der Staat hat sich aus der Provinz zurückgezogen. Eine Lücke, die die Rechtsextremen füllen wollen. Entsprechend hoch sind die Zustimmungsraten dort, wo viele Roma wohnen und die Arbeitslosigkeit hoch ist. Der Bürgermeister von Gyöngyöspata, Oszkár Juhász, gewann 33,8 Prozent der Stimmen. „Das Roma-Problem ist ein Armutsproblem“, meint der Pécser Verleger Gábor Csordás. Jeder zweite Roma ist arbeitslos. Aber auch immer mehr Nicht-Roma seien mittlerweile in Ungarn arm. „Aber sie geben nicht zu, dass sie sich zuwenig weiterbilden“, sagt Csordás, der 2005 auf der Leipziger Buchmesse den „Preis zur Europäischen Verständigung“ erhielt. Stattdessen machten die Ungarn die Roma zu Sündenböcken. Tatkräftig unterstützt von Jobbik, der Partei, die diese Stimmungen aufgreift. Und das mit Erfolg. „Die völkische Ideologie ist in Ungarn immer noch aktuell“, beklagt Endre Bojtár, der Chefredakteur der liberalen Wochenzeitung „Magyar Narancs“. Die Rechtsextremen sind „gegen Juden, gegen Roma, gegen Rumänen, gegen Russen, gegen alles Fremde“, so der Linksintellektuelle. Eine aktuelle Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Tárki (Mai 2012) belegt das eindrucksvoll. Danach würden 40 Prozent der Ungarn Flüchtlingen kein Asyl gewähren. Die Rechtsextremen von Jobbik fordern offen den Austritt Ungarns aus der Europäischen Union, auf Veranstaltungen der Partei brennen die blauen Fahnen mit den Sternen.
Die Wunde Trianon
Im Budapester Burgviertel herrscht am diesjährigen Nationalfeiertag Volkfeststimmung. An einem Stand schnitzt József Szarvas aus Debrecen Frühstücksbretter und hölzerne Topfuntersetzer. „Das ist Großungarn“, erklärt er die Dimensionen. Ob er sich das wieder so wünscht? Er nickt. Nebenan am Stand verkauft eine Frau Großungarn-Aufkleber „mit Aufschrift ‚hazám, meine Heimat‘ “, erklärt sie. „In Runenschrift“. Rechtsgesinnte können auch ein entsprechendes „Nationaltaxi“ ordern, mit Großungarn-Landkarte auf der Tür und entsprechender Musikberieselung auf der Fahrt. Überall im Land wuchern die Trianon-Denkmäler – in kleinen Dörfern und Städten. Ortsschilder in Runenschrift werden aufgestellt. Es gibt einen Gedenktag, an dem an die Unterzeichnung des als „Diktat“ empfundenen Trianon-Vertrages 1920 erinnert wird. In der Folge verlor Ungarn zwei Drittel seines Territoriums an die Anrainerstaaten. Über Nacht wurden etwa drei Millionen Ungarn zu Rumänen, Slowaken, Ukrainern und Jugoslawen. „Trianon ist die offene Wunde der Ungarn“, erklärt der Politologe Zoltán Kisszelly. Und die empfinden viele Magyaren als schmerzhaft. „Das ist wie eine Art Gefühlszement, das hält die Rechten zusammen“, sagt der Journalist Endre Bojtár. Der Reichsverweser Miklós Horthy setzte in der Zwischenkriegszeit auf die Wiedergewinnung der verlorenen Gebiete. Das Motto während eines Vierteljahrhunderts war „Nem, nem soha“, nein, nein, niemals würden die Ungarn verlorenen Gebiete hergegeben. Das neue Gebet lautete „Ich glaube an einen Gott, ich glaube an ein Vaterland, ich glaube an Ungarns Auferstehung“. Das wird heute noch rezitiert – etwa am 17. März 2012 anlässlich der geplanten Vereidigung von Gardisten der „Ungarischen Nationalgarde“ – der „Ungarischen Garde“ im neuen Gewand. „Nem, nem, soha – so heisst auch ein Lied der Band „Nemzeti Front“, die Musiker von „Romantikus Eröszak“ fordern offen: „Weg mit Trianon“.
Revisionismus
Nicht nur Rechtsextreme, sondern auch konservative Politiker in Ungarn fühlen sich den Auslandsungarn verpflichtet. Auch die Regierung Orbán hat sie besonders im Blick. Sie spricht von „Kulturnation“ und „Nationskörper“. Am Nationalfeiertag im März begrüßt der Premier seine Landsleute in den Anrainerstaaten. Schon vor dem Amtseid 2010 beschloss die nationalkonservative Regierung mit ihrer Zweidrittel-Mehrheit im Parlament die doppelte Staatsbürgerschaft für die Auslandsungarn – was sofort für Krach mit der Slowakei sorgte. Das Wahlrecht soll ihnen Mitsprache in Ungarn sichern. Wieder gibt es Spannungen – diesmal mit Rumänien. Mit dem neuen Wahlrecht hofft Viktor Orbán, seine Wählerbasis auch jenseits der Landesgrenzen abzusichern. „Er will nie wieder eine Wahl verlieren“, erklärt der Ungarn-Korrespondent Gregor Mayer. „Alles ordnet Orbán diesem Ziel unter“. Das sei aber kein „Revisionismus light“, meint Kai-Olaf Lang von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Orbán versuche lediglich, die Auslandsungarn näher an das Mutterland zu binden. Denen allerdings könnte er damit einen Bärendienst erweisen: Die rumänische Ungarnpartei UMDR droht aus der Bukarester Regierungskoalition zu fliegen. Und der Schriftsteller Ungváry warnt: „Das ist der Tod der Ungarn als Ungarn im Ausland“. Denn der Doppelpass fördere den Exodus. „In 100 Jahren“ , so Ungváry, gebe es in den angestammten Siedlungsgebieten keine Ungarn mehr. Selbst Anhänger der ungarischen Regierungspartei Fidesz sehen Doppelpass und Wahlrecht für die Auslandsungarn mittlerweile kritisch. Denn die Ungarn aus Siebenbürgen und den anderen Anrainerstaaten drängen in den ungarischen Arbeitsmarkt und die ungarischen Sozialsysteme. Und die sind jetzt schon überlastet.
Rückwärtsgewandte Geschichtspolitik
In Ungarn werden jetzt bewusst neue „Helden“ zutage gefördert, die zu sozialistischen Zeiten tabu waren wie die Diskussion um Trianon. Die Bücher des siebenbürgischen Kriegsverbrechers und Rumänenhassers Albert Wass etwa füllen seit den neunziger Jahren zunehmend die Buchhandlungen, nach ihm werden Plätze benannt und Denkmäler errichtet. Wass soll mitverantwortlich sein für Erschießungen auf dem Gut seiner Familie in Siebenbürgen. Rumänien verurteilte ihn 1946 deshalb als Kriegsverbrecher, da war Wass schon ins US-Exil geflüchtet.
Albert Wass wurde jetzt in den nationalen Lehrplan der Fidesz-Regierung aufgenommen, ebenso der Blut-und-Boden-Dichter und Pfeilkreuzler-Abgeordnete József Nyirö. Die Asche des im spanischen Exil verstorbenen Hitler-Fans József Nyirö wurde in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in Siebenbürgen bestattet – mit ausdrücklicher Unterstützung des ungarischen Parlamentspräsidenten László Kövér. Die Umbettung der Urne sorgte auch für erhebliche diplomatische Verwerfungen mit Rumänien. Aus Protest gab der Holocaust-Überlebende und Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel den wichtigsten ungarischen Kulturpreis zurück. Es werde zunehmend klar, dass ungarische Behörden das „Weißwaschen tragischer und krimineller Episoden in Ungarns Vergangenheit“ ermutigten, begründete er seine Entscheidung. Auch der ehemalige Reichsverweser Miklós Horthy, der die Revision des Trianon-Vertrages anstrebte und sich deshalb mit Hitler verbündete, erfährt unter der Orbán-Regierung neue Ehren: Parks, Statuen und Plätze werden nach ihm benannt. Das kleine Horthy-Museum in seinem Heimatort Kenderes ist zum Wallfahrtsort von Rechtsextremen und Butterfahrten geworden. Horthys Amtszeit war unter anderem geprägt durch eine offen antisemitische Gesetzgebung.
Auch der Dramatiker István Csurka, Gründer der Partei MIÉP, war kurz vor seinem Tod Anfang 2012 vom Budapester Bürgermeister István Tarlós (Fidesz) zum Intendanten des hauptstädtischen Theaters „Új Színház“ gemacht worden – erst nach internationalen Protesten zog der Konservative den Antisemiten Csurka von diesem Posten wieder ab. Kurz bevor Csurka am 4. Februar 2012 verstarb, hetzte er auf einer Veranstaltung in Szeged noch einmal gegen die Europäische Union.
„In vielerlei Hinsicht ähnelt die heutige Situation in Ungarn der Situation in den dreißiger Jahren“, meint der ungarischstämmige Wiener Publizist Paul Lendvai. Und er ist skeptisch, dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändert. Die Rechte ist übermächtig – mit der Zweidrittelmehrheit der nationalkonservativen Regierung Orbán und den 47 Jobbik-Abgeordneten. „Die linke Opposition ist noch zu schwach“, meint der Publizist Lendvai. „Und es fehlt eine zentrale Führungspersönlichkeit.“