Buddhisten in Russland: Die Kalmüken
Zusammenfassung
Die im 17. Jahrhundert nach Russland eingewanderten Kalmüken sind Buddhisten, wobei sich in der religiösen Praxis die Lehren Buddhas mit älteren schamanistischen Vorstellungen vermischen. Der folgende Beitrag vermittelt einen Einblick in Kultur und Geschichte dieser in Westeuropa kaum bekannten kleinen Volksgruppe.
Geografische und historische Einordnung
Steppe, Nomaden, Buddhismus – innerhalb Europas stellt Kalmükien1 eine einmalige Konstellation dar. Wie empfindlich das Ökosystem der Kalmüken jedoch ist, zeigt schon ihre Einwanderung nach Europa: Mangel an Weideland in der westlichen Mongolei hatte die Kalmüken ab 1608 zum Zug nach Westen bewogen. Beiderseits der Wolga fanden sie vorerst noch denjenigen Großraum vor, den sie für ihre Herden brauchten. 1655 traten sie dem Zarenreich bei und leisteten Militärdienst. Die zunehmende Besiedlung der Wolgalandschaft durch russische Bauern sollte das Verhältnis zu den kalmükischen Reiternomaden aber zunehmend belasten, auch sandte die Orthodoxie Missionare aus. 1771 kam die Mehrheit der Kalmüken daher überein, mit 30.000 Jurten2 lieber den Rückweg anzutreten. Allerdings blieben 11.000 Jurten auf dem westlichen Wolgaufer zurück, weil sie den Fluss mangels Frost und Eis nicht passieren konnten. Katharina II. hob daraufhin das Chanat der Kalmüken auf und begann, die Verbliebenen ansässig zu machen – aus heutiger Sieht fast der Übergang zum Exodus, denn nur Nomaden können Herden halten. Und von den Herden leben sie! Der Übergang zum Bauerntum stellte die bisherige Existenzweise der Kalmüken also in Frage.
Dennoch wiederholte sich dieses Drama nach der russischen Revolution. Allerdings ging die Sowjetmacht ungleich rigoroser vor und enteignete das für die Viehhaltung unentbehrliche Land. Der Übertritt der Kalmüken in die Ära des Kolchos begann daher mit einer Hungersnot. Damit mag zusammenhängen, dass sich nach Beginn des Zweiten Weltkrieges Teile der Kalmüken den Deutschen anschlossen. Dies wiederum nahm Stalin zum Anlass, die Kalmüken 1943 nach Sibirien zu deportieren. Alles in allem ist es daher keine Übertreibung wenn man sagt, die Geschichte des einzigen buddhistischen Volkes Europas verlief tragisch. Etwa 150.000 Kalmüken haben die Sowjetunion überlebt.3
Das 20. Jahrhundert hat gezeigt, dass die Trias Steppe – Nomaden – Buddhismus nicht nur sehr empfindlich, sondern auch vergänglich ist. Von diesen drei Elementen überlebte nur das letzte. Klimawandel, Austrocknung, Erosion und Versalzung verwandelten die Steppe vielerorts zur Halbwüste. Nicht besser erging es den Kalmüken politisch: Erst enteigneten die Sowjets ihre Herden, dann wurden sie zwangsangesiedelt und schließlich deportiert. Auch hier wurden Tempel geschlossen und Mönche verhaftet. Seit der Rückkehr der Kalmüken nach Stalins Tod 1953 aber lebte der Buddhismus wieder auf, zunächst nur geduldet, nach dem Ende der Sowjetunion 1991 aber unübersehbar. 1993 hat sogar der Dalai Lama die kalmükische Hauptstadt Elista besucht, und im Zentrum der Stadt löste eine Statue Buddhas die von Lenin ab.
Das Ende der Sowjetunion ging einher mit einem Ende der Überfremdung und einer Rückkehr zu Geschichte und Religion: Je schwächer die Beziehungen nach Moskau, desto lebhafter die zu den buddhistischen Staaten in Zentralasien, die mehr und mehr Investitionen nach Kalmükien leiten und dafür sorgen, dass neue Tempel gebaut wurden. Auch hier war die Ära des sowjetischen Atheismus vorbei. Allerdings ist diese Besinnung auf internationale religiöse Gemeinsamkeiten kein Spezifikum der Buddhisten. Der Islam ging den gleichen Weg, indem arabische Länder vorzugsweise den Wiederaufbau der muslimischen Zentren bei den Wolgatataren in Kasan finanzierten.
Grundzüge des Buddhismus
Auch wenn die Bedeutung des Buddhismus für Europa mit der des Islam nicht zu vergleichen ist, liefern die Tempel von Elista doch einen wichtigen Hinweis auf die Vielfalt der osteuropäischen Religionslandschaft. Allerdings sind die Beziehungen des Westens zum Buddhismus weder historisch noch gegenwärtig mit Konflikten belastet. Die westliche Sicht des Buddhismus lässt sich daher auf eine einfache Formel bringen: je stärker das Gefühl eigener Überlegenheit, desto geringer das Interesse. Je mehr diese Überlegenheit aber wie im 20. Jahrhundert zerbrach, umso größer die Offenheit für fernöstliche Weisheit.4
Vermutlich wirkte und wirkt der Buddhismus deshalb so anziehend, weil er eine Umkehr westlicher Ethik versprach: hier Egozentrik durch Konkurrenz, dort Gleichmut in Freundlichkeit. Die zunehmende Beachtung des Buddhismus wirft allerdings die Frage auf, auf welche seiner Seiten man denn trifft, die meditative, die philosophische oder die religiöse. Bei letzterer findet der westliche Religionsbegriff keine Entsprechung, weil der Glaube an einen Schöpfergott im Buddhismus fehlt. Der Buddhismus strebt daher auch keine Fremd-, sondern Selbsterlösung an, beruhend auf Überwindung von Leidenschaft und Leid als Weg zu innerem Frieden. Durch den rigorosen Atheismus der Sowjetunion gegenüber christlichen wie nichtchristlichen Religionen fehlten im 20. Jahrhundert nur die Voraussetzungen für diesen „Weg nach innen“, also zur Selbsterlösung. Es ist daher in mancher Hinsicht theoretisch oder zumindest idealistisch, wenn der Buddhismus behauptet, dieser Weg zur Erleuchtung stehe jedermann offen. Anders als die christlichen Kirchen brach der Buddhismus aber nicht augenblicklich zusammen, als der Staat ihm den Klerus raubte. Auch dies ist rein historisch bedingt, denn genau hier trennen sich die zwei Hauptschulen des Buddhismus. Während das „kleine Fahrzeug“ (Hinayana) in Südostasien nur individuelle Befreiung anstrebt, geht es dem „großen Fahrzeug“ (Mahayana) in China und Indien um die Erleuchtung aller. Dabei nehmen die Anhänger der ersten Richtung für sich in Anspruch, die ältere Schule zu sein und dem Urbuddhismus am nächsten zu stehen. Hinzu treten als dritte und vierte Gruppierung der meditative Buddhismus mit Schwerpunkt in Japan (Zen) sowie der Lamaismus in Tibet, der etwa fünf Prozent der buddhistischen Weltbevölkerung ausmacht. Dieser vierte Entwicklungspfad war es, der für die Kalmüken wesentlich wurde.
Der Weg der Kalmüken zum Buddhismus
Entscheidend für den Übertritt der Kalmüken zum Buddhismus war der Kontakt zwischen Tibet und der Mongolei. Nach der Eroberung durch Kublai Chan rückte Peking 1264 zur mongolischen Hauptstadt auf. Nun kam es für die neuen Herrscher darauf an, China auch kulturell etwas entgegenzusetzen. Zu diesem Zweck zog der mongolische Hof tibetische Lamas heran; so kamen Übersetzungen aus dem Tibetischen ins Mongolische zustande. Allerdings drang der Buddhismus nur in die Oberschicht ein und war nicht in der Lage, den Schamanismus zu verdrängen. Kurz zuvor, 1254, war der Franziskaner Wilhelm von Rubruk in der alten mongolischen Hauptstadt Karakorum eingetroffen. In seinem Reisebericht schildert er auch eine schamanistische Seance: „Wie der Chan selbst zugab, spielen die Wahrsager bei den Mongolen die Rolle der Priester. Was sie anordnen, wird unverzüglich ausgeführt ... Einige von ihnen beschwören Dämonen. Leute, die nun von einem Geist Antwort haben wollen, werden zur Nachtzeit von den Sehern in ihr Zelt gerufen. In die Mitte der Jurte legen sie gekochtes Fleisch. Der Chan, der die Beschwörung vornimmt, fängt an, seine Formeln herzusagen. Er hält in der Hand eine kleine Trommel, mit der er kräftig auf die Erde schlägt. Endlich gerät er in Raserei und lässt sich fesseln. Darauf erscheint der Dämon in der Dunkelheit, lässt sich das Fleisch zum Essen geben und erteilt die Antworten.“5
Die Annahme des Buddhismus sollte jedoch zunächst nur Episode bleiben. China holte zum Gegenschlag aus, die politische Einheit der Mongolen zerbrach. Erst 1573 kehrte der Buddhismus in die Mongolei zurück. Im Gegenzug verlieh der Chan den Titel des Dalai Lama an das Oberhaupt der Gelbmützen (Gelugpa), als dieser die Mongolei besuchte. 1586 entstand das namhafte Kloster Erdene Zuu bei Karakorum, das unter Stalin zerstört wurde. Für die Goldene Horde und deren Herrschaft über Russland sollte der Buddhismus jedoch ohne Bedeutung bleiben; deren Chane tatarisierten sich und nahmen den Islam an.
Beim Weg des Buddhismus von Tibet in die Mongolei fiel den westmongolischen Stämmen wie den Kalmüken damit eine Brückenfunktion zu. Bis 1600 waren sie buddhistisch geworden, sodass hier ein lamaistischer Klerus entstand. Gestützt auf Jurten als Tempel folgte er den Kalmüken auf ihrer Westwanderung und traf nach 1608 an der Wolga ein. Diese Ankunft wirkt erstaunlich für einen westeuropäisch verengten Blick, nicht aber aus zentralasiatischer Sicht, denn wie alle Mongolen war auch der Stamm der Kalmüken halbnomadisch und zog daher im Sommer ohnehin auf Weidegründe, wo die Herden frisches Gras fanden. Auch jetzt war der Buddhismus gezwungen, sich mit Schamanen zu arrangieren.6 Zwar ließ der neuernannte Dalai Lama (mongolisch für „Meerespriester") schamanistische Kultfiguren verbieten. Die wesentlichen Leistungen des Schamanen aber gingen auf den neuen Klerus über: Als Mittler zwischen Unter- und Oberwelt bekämpfte er die Dämonen. Sehr plastisch aus heutiger Sicht scheint etwa der Analogiezauber, um nach Pferdediebstahl Wolfssehnen ins Feuer zu werfen. So wie sich diese Sehnen zusammenzogen, so würden auch Füße und Hände der Diebe verkrampfen. Aus den Eingeweiden von Opferschafen las der Priester die Zukunft ab, und nicht zuletzt führte er die Seelen Verstorbener sicher ins Jenseits, um deren Rückkehr als Dämon zu verhindern.
Eine weitere Besonderheit des Buddhismus bestand also darin, dass die Verbindung von Schamanismus und Buddhismus für Nomaden nicht unharmonisch erscheint. Auch die Nähe zur Volksreligion sorgte dafür, dass der Buddhismus das sowjetische Jahrhundert vermutlich in besserem Zustand überstand als die Orthodoxie. Schamanen bewahrten die spirituelle Verehrung der Tiere, und Nomaden kamen dem Ideal materiellen Verzichts noch am nächsten. Auch Buddha hatte feste Ansiedlung bewusst vermieden, um den daraus resultierenden Zwängen zu entgehen. Bedingt durch den vergleichsweise späten Übertritt zum Buddhismus erst im 16. Jahrhundert wiesen Lehre und Praxis aber auch bei den Kalmüken gewisse Unterschiede auf. Mit dem Zug nach Westen hatten sich die Kalmüken auch räumlich vom Dalai Lama entfernt. Dennoch wirkt die Anzahl der Klöster (churul) erstaunlich und wird für 1836 auf 105 Jurten veranschlagt, in denen 5.270 Mönche tätig waren.7
Auch bei den Kalmüken gliedert sich der buddhistische Klerus in vier Stufen; an der Spitze aller Mönche stand der Lama. Alle Mönche unterlagen de jure Zölibat und Abstinenz, besaßen aber das Recht auf Privatbesitz und waren im Viehhandel teilweise recht erfolgreich. In Medizin und Astronomie wiesen sie umfangreiche Kenntnisse auf. Im Hinblick auf diese Kultur war es wenig erstaunlich, dass russische Missionsversuche alles in allem wenig ausrichten konnten und bestenfalls die Armen erreichten, die sich vom Übertritt zur Orthodoxie materielle Besserstellung erhofften.
Ein Blick von außen auf das religiöse Leben der Kalmüken
Das Verhältnis von Lehre und Praxis ist für alle Religionshistoriker problematisch, schon weil die Lehre besser belegt ist als die Praxis. Für die Kalmüken jedoch liegt uns ein Reisebericht vor, der den Vergleich mit den Klassikern dieser literarischen Gattung nicht zu scheuen braucht. Benjamin Bergmann (1772-1856), ein livländischer Pastor, hatte in Leipzig und Jena studiert und war dann als Hauslehrer nach Moskau gegangen. Sein Bericht über die Reise zu den Kalmüken von 1802/03 liefert nicht nur einen farbigen Einblick in gelebten Buddhismus, sondern bietet eine klassische Quelle zur Religionsgeschichte „von unten“.8 So betonte er die Autonomie des kalmükischen Klerus, da es die Mönche sind, die den Lama wählen (III, 82). Ebenso zentral schien das Motiv der Seelenwanderung: „Dem Geist des indischen Religionssystems gemäß glauben auch die Mongolen an eine Wanderung der Seelen. Sie kennen keine Unsterblichkeit … Die Lehrer des Christentums finden die Ursache von Leiden … in der höchsten Gerechtigkeit des Weltregierers, aber der mongolische Priester erklärt sie für Strafen von Vergehungen, welche man in früheren Wanderungen begangen hat. Die Lehre der Seelenwanderung ist daher bei allen Anhängern des Dalai Lama wie eine Art von Theodizee anzusehen“ (III, 52-53).
Aus heutiger Sicht mag es seltsam erscheinen, den Begriff der Seele derart zu betonen. Im früheren 19. Jahrhundert aber sah Bergmann hier eine deutliche Parallele zwischen Christen und Buddhisten. Nach dem Hinweis, das Hauptgesetz der Kalmüken sei die Milde, heißt es bei ihm: „Nicht einmal Läuse, welche zu den Hauptplagen des kalmükischen Lebens gehören, werden von einem religiösen Kalmüken umgebracht. Ich fragte neulich einen alten Kalmüken, ... ob er wohl für Bezahlung einen einzigen von diesen Verbannten umbringen wollte. Er antwortete: ... Nicht für eine Million. Ob ich eine Laus oder einen Menschen umbringe, ist einerlei: Beide haben eine Seele“ (I, 80-81).
Bergmann neigte wie viele seiner Zeitgenossen zur Idealisierung des Fremden, um das Eigene zu bessern. „Bei den Europäern wird durch das Glück der kleineren Hälfte das Elend der größeren hervorgebracht. Bei den Kalmüken wird der Wohlstand der Angesehenen durch sich selbst und nicht durch den Schweiß der Armen unterhalten. Der Kalmük genießt ruhig die Gegenwart … Der Mangel macht ihn nicht kleinmütig. Die Zukunft ängstigt ihn nicht. Das Leben des Europäers zeigt nichts als Sorgen ... Wer ist also glücklicher zu schätzen, der Kalmük oder der Europäer? Offenbar der Kalmük“ (II, 62-63).
Weltflucht und Weltgestaltung
Alles in allem liefert die Religionsgeschichte der Kalmüken einen faszinierenden Kontrast, der in mancher Hinsicht daran erinnert, dass die innereuropäische Religionsgeschichte bisweilen zu Selbstschau und Verengung neigt. Auch die Weltreligion des Buddhismus kennt eine schmerzliche Spannung zwischen Weltflucht und Weltgestaltung: Beide Pole bedingen sich gegenseitig, der eine gleicht den anderen aus. Gibt es auch einem „mittleren Weg“, wie er Buddha nach Jahren der Askese vorschwebte? Auch dieser Weltreligion fiel die Balance zwischen Weltzuwendung und Weltabwendung daher keineswegs leicht, denn der Buddhismus relativiert nicht allein Sprache und Text, Bindung und Besitz, sondern auch Individuum, Intellekt und Gottesidee.
Fußnoten:
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Die seit 1992 bestehende autonome Republik Kalmükien (Schreibweise auch: „Kalmückien“ und „Kalmykien“) liegt im Süden des europäischen Teils Russlands und grenzt an das Kaspische Meer. Das ganz überwiegend aus Steppe bestehende Land umfasst ca. 75.000 km2 und hat knapp 300.000 Einwohner. Ungefähr ein Drittel der Bevölkerung lebt in der Hauptstadt Elista. Ausführliche Informationen finden sich unter http://www.kalm.ru/en/index.php (englisch und russisch). ↩︎
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Jurten sind die traditionellen Zelte der Nomaden in West- und Zentralasien. Der Begriff stammt aus dem Türkischen („yurt“ bedeutet „Heim“). ↩︎
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Elza-Bair Guchinova: The Kalmyks. London 2006. Vgl. außerdem Christoph Schmidt: Pilger, Popen und Propheten. Eine Religionsgeschichte Osteuropas. Paderborn 2014, S. 116-124. ↩︎
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Vgl. zu diesem Auf und Ab Jürgen Offermanns: Der lange Weg des Zen-Buddhismus nach Deutschland. Vom 16. Jahrhundert bis Rudolf Otto. Stockholm 2002. ↩︎
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Wilhelm von Rubruk: Reisen zum Großkhan der Mongolen. Von Konstantinopel nach Karakorum 1253-1255. Stuttgart 1984, S. 197, 202. ↩︎
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Eingehend hierzu N. L. Zukovskaja: Lamaizm i rannie formy religii. Moskau 1977. ↩︎
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Guchinova (wie Anm. 3, oben), S. 168 f. ↩︎
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Benjamin Bergmann: Nomadische Streifereien unter den Kalmücken in den Jahren 1802 und 1803. Riga 1804/05 (Nachdruck 1969); daraus stammen die folgenden Zitate. ↩︎