OWEP 4/2015

OWEP 4/2015

Schwerpunkt:
Religiöse Gruppen in Europa

Editorial

Das Thema dieser Ausgabe von OST-WEST. Europäische Perspektiven ist höchst aktuell. Und die Vielfalt der Themen, die auf den ersten Blick zufällig erscheinen kann, ist nicht zufällig oder willkürlich ausgewählt. Sie ist Ausdruck einer europäischen Wirklichkeit, die zuweilen mehr, als uns lieb sein kann, viele Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens prägt. Die Soziologen nennen das seit einigen Jahren eine „neue Unübersichtlichkeit“. Was zeigt sich in dieser wachsenden religiösen Vielfalt in Europa? Sicher einmal, dass auch – oder gerade? – in den modernen Gesellschaften des Kontinents die Frage nach der Religion nicht zur Ruhe gekommen ist. Die Antworten, die sich die Menschen auf diese Frage zu geben versuchen, waren und sind verschieden, der Mensch, der diese Frage in seinen jeweiligen Lebensumständen stellt, bleibt.

Wir richten in dieser Ausgabe den Blick nach Russland, nach Polen, nach Ungarn, nach Italien, in die Ukraine, nach Bosnien, Tschechien und Slowenien. Auch auf das sich wandelnde, vielgesichtiger und komplexer werdende Christentum, auf den Buddhismus und den Islam. Aber auch auf eine religiöse Bewegung wie das „Neuheidentum“ (Ungarn), in dem vorchristliche Traditionen Urständ feiern und dabei seltsame Verbindungen etwa mit der Frage nach der nationalen Identität eingehen.

Im globalen religiösen Transfer verändern sich die Religionen und ihre überkommenen Traditionen. Es entstehen neue religiöse „Typen“. Eine wichtige Frage dabei ist, wie die neuen religiösen Bewegungen, die ja oft „alte“ sind, sich in die Öffentlichkeit(en) ihrer jeweiligen nationalen, gesellschaftlichen, kulturellen Kontexte vermitteln – oder nicht vermitteln. Ob sie, zum Beispiel, politisch wirksam werden oder sich einkapseln in einen Kokon von religiöser Praxis, die Öffentlichkeit eher vermeiden will. Auch dieser Frage schenken wir in dieser Ausgabe Aufmerksamkeit.

Bleibt am Ende die Frage, warum das Christentum in Europa an Kontur und Einfluss verliert. Dieser Prozess schreitet unaufhaltsam fort. Die – zutreffende – Berufung darauf, dass das Christentum – einst – Europa geprägt hat, kann angesichts der religiösen Fakten in Europa wie eine Beschwörungsformel erscheinen. Alles ist im Fluss und bleibt im Fluss.

Die Redaktion

Kurzinfo

In religiöser Hinsicht bietet Europa ein ziemlich unübersichtliches Bild. Neben den traditionellen Großkirchen, die in den meisten Ländern noch immer Millionen Gläubige zählen, gibt es zahllose kleine Gruppierungen, die oft erst seit wenigen Jahren in Europa tätig sind; manche darunter können sprunghafte Zuwachsraten verzeichnen. Zusätzliche Konkurrenz erwächst den christlichen Konfessionen durch den Islam, aber auch Buddhismus und Hinduismus in unterschiedlichsten Formen finden sich überall in Europa, nicht zuletzt auch im Osten und Südosten, wo sich nach dem Ende des Kommunismus ein breiter, kaum zu überschauender religiöser Markt aufgetan hat. Zwei wichtige Stichworte dürfen bei dieser Aufzählung nicht fehlen: Zum einen gibt es in Europa zahlreiche Spielarten neuheidnischer Kulte, zum anderen nimmt die Zahl der Menschen ohne religiöses Bekenntnis ständig zu.

Ein OWEP-Themenheft „Religiöse Gruppen in Europa“ kann angesichts dieses Befundes nur einen kleinen Ausschnitt aus diesem bunten Feld beschreiben. Wichtig ist es auf jeden Fall, den Ursachen für die Entwicklung weg von den Großkirchen, die noch vor einem halben Jahrhundert in fast allen Gesellschaften Europas dominierten, hin zu dieser Kleinteiligkeit und Zersplitterung nachzugehen. Das vorliegende Heft führt in zehn länderbezogenen Beiträgen zu oft überraschenden Beobachtungen. Dem Ganzen vorgeschaltet ist eine Einführung von Prof. Dr. Michael Albus, dem verantwortlichen Redakteur der Zeitschrift, unter dem Titel „Sehnsucht nach mehr“. Er zeigt auf, dass der Mensch letztlich „unheilbar religiös“ ist und immer auf der Suche nach dem Göttlichen sein wird.

Eröffnet wird die Abfolge der Texte (die bewusst keiner geografischen Logik folgen) mit einem Beitrag von Prof. Dr. Alexander Panchenko, Professor für Anthropologie an der Staatlichen Universität St. Petersburg in Russland, über religiöse Sonderentwicklungen in Russland. Im Mittelpunkt stehen Gruppen, die sich aus unterschiedlichen Gründen von der orthodoxen Kirche getrennt haben und trotz ihrer geringen Mitgliederzahl für die geistige Entwicklung Russlands von Bedeutung waren, wie etwa die Duchoborzen („Geisteskämpfer“) und Molokanen („Milchtrinker“). Eine ganz andere religiöse Gruppierung stellt Pfarrerin Susanne Labsch aus Karlsruhe vor: die Waldenser, die im 12. Jahrhundert entstandene älteste protestantische Kirche überhaupt. Ihren Schwerpunkt hat sie heute in Italien, wo sie sich, wie die Autorin belegt, gegenwärtig stark in der Flüchtlingshilfe engagiert und auch am ökumenischen Gespräch beteiligt ist.

Die beiden nächsten Beiträge führen weiter nach Osten zu ebenfalls schon lange in Europa verwurzelten Religionsgemeinschaften; in beiden Fällen jedoch handelt es sich nicht um Christen. Die in Warschau lebende polnische Islamwissenschaftlerin Priv.-Doz. Dr. Agata S. Nalborczyk beschreibt die bis ins Mittelalter zurückreichende Geschichte der Muslime in Polen, die heute zu den staatlich anerkannten und geförderten Religionsgemeinschaften zählen. Der Kölner Osteuropahistoriker Prof. Dr. Christoph Schmidt widmet sich in seinem Beitrag den Kalmüken in Südrussland, dem einzigen buddhistischen Volk in Europa, in dessen Glaubenspraxis sich ältere schamanistische Vorstellungen mit den Lehren Buddhas vermischen.

Von Lehre und Glaubenspraxis her völlig anders einzuordnen sind die kaum zu überblickenden Grüppchen und Zirkel, die unter der summarischen Bezeichnung „Neuheidentum“ zusammengefasst werden. Viele berufen sich auf keltische und germanische Religionsformen oder mischen Motive traditioneller Stammesriten mit pseudowissenschaftlichem Gedankengut. Ungarn bietet, wie aus dem Beitrag von Dr. Réka Szilárdi und Prof. Dr. Dr. András Máté-Tóth, beide als Religionswissenschaftler an der Universität Szeged tätig, offenbar einen fruchtbaren Nährboten für das Neuheidentum. Manche Gruppen haben „Vorfahren“ in Nordamerika, andere lassen sich auch in anderen Ländern Mittel- und Osteuropas wie Polen, Estland und der Slowakei finden. Um außereuropäische Wurzeln geht es auch im Beitrag von Ganna Tregub, Studentin in Kiew, die neben ihrem Studium auch journalistisch tätig ist. Sie beschreibt die Entstehung und Bedeutung einer Pfingstgemeinde in der Ukraine, der „Gesandtschaft Gottes“ des aus Nigeria stammenden Pastors Sunday Adelaja. Seine Gemeinde steht für viele andere, die häufig durch ihr soziales Engagement auffallen, oft aber wegen finanzieller oder politischer Umtriebe auch negativ in die Schlagzeilen geraten.

Zwei weitere Beiträge lenken den Blick in den Südosten Europas. Die Religionswissenschaftlerin Dr. Zrinka Štimac, tätig am Georg-Eckert-Institut für Schulbuchforschung in Braunschweig, befasst sich mit der „Bosnischen Kirche“ in Tuzla (Bosnien und Herzegowina). Diese Gemeinschaft entstand erst vor wenigen Jahren und trägt viele Züge einer Pfingstkirche, beruft sich jedoch auf die mittelalterlichen „krstjani“ (Christen) Bosniens, deren Glaubensvorstellungen sich erheblich von denen der heutigen Gemeinschaft unterscheiden. Slowenien, um dessen Religionsstruktur es im Beitrag von Prof. Dr. Aleš Črnič, Professor für Religiöse Studien an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität von Ljubljana, geht, gilt nach allgemeinem Verständnis als ganz überwiegend katholisches Land. De facto geht die Zahl der praktizierenden Katholiken ständig zurück, hingegen breiten sich immer mehr religiöse Gruppierungen unterschiedlichster Herkunft aus, die sich z. T. recht aggressiv am gesellschaftlichen und politischen Diskurs beteiligen.

Weit zurück in die Zeit von Verfolgung und Untergrundkirche führt der Text des ukrainischen Historikers Dr. Roman Skakun, Dozent an der Ukrainischen Katholischen Universität in Lwiw.Nach dem Verbot der griechisch-katholischen Kirche in der Sowjetukraine praktizierten Priester und Gläubige ihren Glauben unter großen Gefahren im Verborgenen. In diesen Notzeiten traten häufig seherisch begabte Personen auf, die das Ende der Welt verkündeten und die Gläubigen zu Buße und Umkehr in der vom „roten Drachen“ beherrschten Welt aufriefen. Die vom Autor vorgestellten „Büßer“ bilden eine bis heute existierende Splittergruppe, die sich von der griechisch-katholischen Kirche getrennt und eigene Dogmen und Riten entwickelt hat.

Abgeschlossen wird die Abfolge der Länderbeiträge mit einem Blick auf Tschechien. Der in Prag tätige Kirchenhistoriker Dr. Peter Morée geht der Frage nach, welche Rolle die Kirchen in der heutigen tschechischen Gesellschaft spielen. Seiner Analyse zufolge ist ihr gesellschaftlicher Einfluss eher gering und wird noch weiter abnehmen, was besonders für die zahlenmäßig sehr kleinen evangelischen Kirchen gilt, die in der früheren Tschechoslowakei gegenüber der katholischen Kirche in mancher Hinsicht bevorzugt behandelt wurden.

Dem Heft beigelegt ist das Gesamtverzeichnis des 16. Jahrgangs 2015.

Ein Hinweis auf das nächste Heft: Im Februar 2016 wird das erste Heft des 17. Jahrgangs erscheinen, das unter dem Schwerpunkt „In der Krise. Was hält Europa noch zusammen?“ versuchen wird, aus unterschiedlichen Blickwinkeln die derzeitige Situation in Europa zu beschreiben und eine Perspektive für die weitere Entwicklung aufzuzeigen.

Dr. Christof Dahm

Inhaltsverzeichnis

242
Sehnsucht nach mehr. Religiöse Vielfalt in Europa
Michael Albus
249
„Heterodoxes“ Christentum im modernen Russland
Alexander Panchenko
256
Die Waldenserkirche in Italien – eine beachtete Minderheit
Susanne Labsch
263
Der Islam – eine traditionelle polnische Religion? Die muslimische Minderheit in Polen
270
Buddhisten in Russland: Die Kalmüken
Christoph Schmidt
277
Neuheidentum in Ungarn
András Máté-Tóth und Réka Szilárdi
284
Die „Gesandtschaft Gottes“ – eine umstrittene Pfingstgemeinde in der Ukraine
Ganna Tregub
290
Die Bosnische Kirche heute – eine pfingstkirchliche Gemeinschaft in Tuzla
Zrinka Štimac
297
Religiöser Pluralismus in Slowenien
Aleš Črnič
304
Das „Wunder von Serednje“ und die „Büßer“: Ein „Papst“ im ukrainisch-katholischen Untergrund
Roman Skakun
314
Die Rolle der nicht römisch-katholischen Kirchen in der tschechischen Öffentlichkeit
Peter Morée

Summary in English

In religious terms, Europe offers a rather confusing picture. Beside the traditional Christian churches there are countless small groups which, in many cases, have been operating in Europe only for a few years; some of them show escalating growth rates. The Christian denominations are confronted with additional competition by the Islam, but also the most diverse forms of Buddhism and Hinduism are present all over Europe, not at least in the East and Southeast, where a vast religious market has opened up at the end of communism. But this enumeration must include two important notes: On the one hand, there are numerous varieties of neo-pagan cults, on the other hand, the number of people without religious denomination is on the increase. The current issue contains an introduction of the subject „Yearning for more“ and ten contributions from countries as Italy, Hungary, Czechia and Russia – only a small excerpt of a large mosaic.