An der Grenze zwischen Ost und West: der Peipussee
Zusammenfassung
Der Peipussee, wie viele andere Seen in Nordeuropa ein Relikt der letzten Eiszeit, bildet in mehrfacher Hinsicht eine Grenze und zugleich einen Übergang zwischen Europas Westen und Europas Osten. Am estnischen ebenso wie am russischen Ufer lassen sich viele interessante kulturhistorische Entdeckungen machen.
Entstehung und Lage
Etwa die Hälfte der Grenze zwischen Russland und Estland verläuft durch den Peipussee, der damit der größte Grenzsee in Europa ist. Bei einer Länge von mehr als 140 Kilometern erreicht er eine Breite von bis zu 50 Kilometern, misst aber an seiner engsten Stelle weniger als 2 Kilometer. Seine Gesamtoberfläche von mehr als 3.500 Quadratkilometer macht ihn zum fünftgrößten See Europas; damit ist er ungefähr achtmal so groß wie der Bodensee. Er hat für die beiden Länder, die er miteinander verbindet, eine besondere Bedeutung.
Die zwanzig größten natürlichen Seen Europas liegen alle im Norden des Kontinents, in Russland, Finnland, Schweden und eben der Peipussee in Estland. Die meisten von ihnen, so auch der Peipussee, sind das Ergebnis abschmelzender Gletscher aus der letzten Eiszeit. In Mulden und Tälern, die das Eis gebildet hat, ist Schmelzwasser verblieben; durch Prozesse von Bodenerhebungen (die noch anhalten) wurde aus einer großen Wasserfläche ein System von Gewässern, die durch Flüsse miteinander verbunden sind. Der Peipussee ist relativ flach (die größte Tiefe ist 15 Meter, die Durchschnittstiefe beträgt gerade 7 Meter), was zur Folge hat, dass er sich in der warmen Jahreszeit rasch erwärmt und im Winter ebenso rasch zufriert. Der Fluss Narva entwässert ihn nach Norden in die Ostsee, während ihn etwa 30 kleinere Flüsse speisen.
Der See besteht aus drei Teilen; oft unterscheidet man sie auch als drei einzelne Seen und spricht von einem Seenkomplex. Der größte ist im Norden der Große See (estn. Peipsi järvi, russ. Tschudskoje osero), der allein auch schon der fünfgrößte europäische See wäre und als der „eigentliche“ Peipussee gilt. Der kleine „Warme See“ (Lämmijärv, Tjoploje osero) liegt in der Mitte und nimmt nur 7 Prozent der Gesamtfläche ein. Der südliche ist der Pleskauer See (Pihkva järv, Pskowskoje osero), benannt nach der nahegelegenen russischen Stadt Pskow, deren historische deutsche Bezeichnung „Pleskau“ war.
Bedeutung in der estnischen Mythologie …
In der estnischen Mythologie ist der See mit der Figur des Riesen Kalevipoeg verbunden. Er wird im gleichnamigen estnischen Nationalepos als derjenige dargestellt, der durch sein Handeln die Landschaft Estlands gestaltet hat: Die Steine, die er geworfen hat, liegen heute als riesige Felsen in der Landschaft; wo er den Wald gemäht hat, sind heute Ebenen, und die Seen waren einst seine Brunnen. Im Peipussee lebt laut dem Mythos ein Wassergeist, der Kalevipoeg um sein Schwert bringt. Nach zahlreichen Abenteuern stirbt der Held schließlich durch sein eigenes Schwert, das er mit einem Fluch belegt hatte, in der Nähe des Sees. Doch wird er im Himmel wieder zum Leben erweckt, und ihm fällt die Aufgabe zu, die Tore der Hölle zu bewachen, damit die dort eingeschlossenen Dämonen nicht entkommen können.
Das Epos besteht aus etwa 20.000 Versen. Allerdings ist es nicht alt. Der estnische Arzt und Literaturwissenschaftler Friedrich Reinhold Kreutzwald verfasste es in der Mitte des 19. Jahrhunderts, wobei er sich auch auf Material stützte, das sein Kollege Friedrich Robert Fählmann gesammelt und publizierte hatte. Den größten Teil des Epos schrieb Kreutzwald allerdings selbst, nur ein Bruchteil des Gesamtwerks enthält ursprüngliche Volksüberlieferung. Dennoch hatte das Werk einen großen Anteil an der Entwicklung des estnischen Nationalbewusstseins, weil es – ganz im Geiste des 19. Jahrhunderts – die Besonderheiten der estnischen Identität, ihre Verwurzelung in der Landschaft und ihre Anfänge in einer fernen Vergangenheit herausstellte. Darüber hinaus hatte es auch großen Einfluss auf die estnische Literatur.
… und für die russische Geschichte
Für die russische Seite ist der Peipussee mit einer ganz anderen Überlieferung verbunden, nämlich mit der Schlacht, die im Jahr 1242 auf dem zugefrorenen See stattgefunden hat. Als die im Baltikum ansässigen Ordensritter nach Osten expandieren wollten, trafen sie auf Truppen aus Nowgorod und Wladimir unter der Führung des Fürsten Alexander Newski. Dieser hatte seinen Beinamen, welcher „von der Newa“ bedeutet, erhalten, als er zwei Jahre vorher ein schwedisches Heer am Fluss Newa vernichtend geschlagen hatte. Nachdem die Gefahr aus dem Norden abgewendet war, drohte nun ein Angriff aus dem Westen. Die Ordensritter hatten Pskow bereits einmal eingenommen und waren offensichtlich darauf aus, auch Nowgorod zu erobern und ihrem Gebiet einzuverleiben. Mit Hilfe aus den südlicheren Fürstentümern der Rus war nicht zu rechnen, da sie seit einigen Jahren von den Mongolen bedrängt wurden. Die Truppen unter Alexander Newski stellten sich den Ordensrittern entgegen und besiegten sie vernichtend. Damit war deren Expansion nach Osten auf Dauer aufgehalten.
Über die Einzelheiten der „Schlacht auf dem Eise“ ist wenig zuverlässig bekannt. Bemerkenswert ist, wie stark die Zahlen der teilnehmenden Soldaten divergieren. In einer zeitgenössischen Chronik ist davon die Rede, dass 20 Ritter gefallen und sechs weitere in Gefangenschaft geraten seien. In der russischen Geschichtsschreibung wurden hingegen lange Zeit weit mehr als 10.000 Soldaten auf jeder Seite angegeben. Unbestritten ist, dass die russischen Truppen in der Überzahlwaren; die genaue Größe lässt sich nicht mehr feststellen. Ganz offensichtlich aber war es nur eine relativ geringe Zahl auf beiden Seiten gewesen. Ebenso offensichtlich ist es aber auch, dass die Schlacht den Vormarsch des Ordens nach Osten endgültig stoppte.
Doch über diese Fakten hinaus spielt die Schlacht auf dem Peipussee eine wichtige Rolle für das russische Geschichtsbild, vor allem im 20. Jahrhundert. Der berühmte Film „Alexander Newski“ von Sergej Eisenstein, 1938 gedreht, überträgt mit cineastischen Mitteln die Schlacht aus dem 13. Jahrhundert in seine Gegenwart. Die Ordensritter werden wie deutsche Soldaten des 20. Jahrhunderts dargestellt; hakenkreuzähnliche Symbole sind auf ihrer Ausstattung zu sehen, und der Kampf der russischen Truppen wird als heldenhafte Tat gezeigt (übrigens sind auch bei Eisenstein die Heere mehrere Tausend Mann stark). Nach dem Nichtangriffspakt zwischen Hitler und Stalin vor Beginn des Zweiten Weltkriegs war der Film nicht mehr opportun und durfte nicht mehr gezeigt werden – nach dem Überfall der Wehrmacht auf die UdSSR jedoch wurde er auf Befehl Stalins in jedem Kino im Lande aufgeführt.
Damit wurde ein Narrativ bedient, das auch heute wieder Bedeutung hat, nämlich das von der Gefahr aus dem Westen und der Unzuverlässigkeit des Westens. Alexander Newski, dessen 800. Geburtstag in diesem Jahr mit großem Aufwand gefeiert wurde1, gilt als der siegreiche Kämpfer gegen den katholischen Westen, der sich gegen die Rus verschworen habe – und zwar genau in dem Moment, als sie auch aus dem Osten, von den Mongolen, angegriffen wurde. In späteren Zeiten von kriegerischen Auseinandersetzungen mit westlichen Gegnern wurde der Kult um Alexander Newski wieder aktiviert, so unter Peter dem Großen, vor allem aber während des Zweiten Weltkriegs. Und auch heute werden der Fürst und seine Siege an der Newa und auf dem Peipussee in Russland wieder gefeiert, zu einer Zeit, da die Spannung zum Westen erneut aufgebaut und aufrechterhalten wird.
Die Problematik der EU-Außengrenze
Mit seiner Lage zwischen beiden Ländern bildet der See heute auch eine Außengrenze der EU. In Estland herrscht gegenüber dem östlichen Nachbarn Misstrauen, zumal nach den Ereignissen der letzten Jahre in der Ukraine. Für Fischer, Schifffahrt und Touristen ist es ratsam, der Grenze, die etwa in der Mitte des Sees verläuft, nicht allzu nahe zu kommen. Es gibt nur eine kleine Fähre vom estnischen Ufer auf eine Insel, aber keinen Fährverkehr mit der russischen Seite. Während der Sowjetzeit verband eine Fähre die estnische Stadt Tartu (das historische Dorpat), die etwa 30 Kilometer westlich des Sees liegt, über den Fluss Emajõgi, den See und den Fluss Welikaja mit der Stadt Pskow, etwa 10 Kilometer südlich des Ufers gelegen.
Wirtschaftlich hat am Peipussee vor allem der Fischfang eine gewisse Bedeutung. Die Wasserqualität, die in der sowjetischen Zeit durch die extensive Landwirtschaft beklagenswert war, hat sich in den letzten Jahren verbessert. In touristischer Hinsicht ist der See jedoch nur relativ wenig erschlossen. Am Nordufer gibt es einige Strände, die vor allem von Erholungssuchenden aus den näher gelegenen estnischen Orten genutzt werden. Außer Campingplätzen und Flächen, auf denen Touristen mit Erlaubnis der Besitzer ihre Zelte aufschlagen oder Wohnmobile parken dürfen, gibt es nicht allzu viele Unterkünfte. In Estland beginnt man, die touristische Infrastruktur weiterzuentwickeln. Auf der russischen Seite ist vor allem die alte und bedeutende Stadt Pskow mit ihrem Kreml und den Kirchen von Bedeutung. Am See selbst gibt es am südlichen Ufer einige Kur- und Erholungsheime. In Gdow, nur zwei Kilometer vom Ostufer entfernt, lassen sich ebenfalls noch die Reste eines Kremls besichtigen. Am östlichen Ufer wird allerdings der Tourismus noch dadurch erschwert, dass sich das Gebiet in der russischen Grenzzone befindet, in die eine Einreise – vor allem für Ausländer – nicht ohne Weiteres möglich ist.
Volksgruppen im Umfeld des Sees
In Estland identifizieren sich etwa 25 Prozent der Bevölkerung als Russen, die vor allem im Osten des Landes leben. Im Landkreis Ida-Viru, der zwischen dem Nordufer des Peipussees und der Ostsee liegt, sind fast drei Viertel der Bevölkerung russisch. Eine Besonderheit stellen die russischstämmigen Altgläubigen dar, die auf der estnischen Seite des Sees in mehreren Dörfern leben. Ihre Vorfahren haben sich im 17. Jahrhundert auf der Suche nach Schutz vor religiöser Verfolgung aus Russland hier angesiedelt. Als die orthodoxe Kirche ihre Liturgie reformierte, wollten die Altgläubigen – eigentlich heißen sie „Altritualisten“ – diese Veränderungen nicht mitmachen und haben sich der Reform durch Flucht in entlegene Teile des Landes oder ins Ausland entzogen. Bis heute leben die estnischen Altgläubigen in ihren abgelegenen Siedlungen am See und feiern ihren Gottesdienst auf die „alte“ Art.
Eine andere ethnische Besonderheit sind die Setu, ein Stamm, der am Südufer des Sees lebt, und zwar sowohl auf der estnischen wie auch auf der russischen Seite. Die Setu, von denen es nach Schätzungen etwa 10.000 gibt, sind sprachlich mit den Esten verwandt, bekennen sich jedoch in religiöser Hinsicht zur Orthodoxie. Allerdings sind bei den Setu vorchristliche religiöse Elemente noch sehr stark vorhanden, vor allem hinsichtlich des Ahnenkults. Die Setu, aber auch der Peipussee als solcher können symbolisch für diese Region Europas, ja für den Zustand des ganzen Kontinents stehen: getrennt zwischen Ost und West, und zugleich auf viele Weisen miteinander verbunden. Der See gilt heute als eine der Grenzen zwischen der östlichen und der westlichen Form des Christentums – aber dennoch gibt es viele Orthodoxe westlich dieser Grenze, und nicht wenige Katholiken und Protestanten östlich davon. Der See trennt zwei Länder, aber er verbindet sie auch. Angehörige beider Titularnationen leben als Minderheiten auf der jeweils anderen Seite, wenn auch viel mehr Russen in Estland als umgekehrt. Es gibt verschiedene Narrative über die gemeinsame Geschichte und die Gegenwart – aber überall, wo Menschen sind, gibt es verschiedene Erinnerungen. Die Probleme von Umweltverschmutzung und Erderwärmung, von demographischem und wirtschaftlichem Wandel sind für die Menschen an allen Ufern des Sees dieselben. Die Grenze besteht und ist schwer überwindbar, solange sich die Staaten gegenseitig als Bedrohung empfinden – das gilt für jede Grenze. Solche Wahrnehmungen abzubauen und ihnen entgegenzuwirken, ist nicht nur rund um den Peipussee eine wichtige Aufgabe.
Fußnote:
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Vgl. dazu Frithjof Benjamin Schenk: Alexander Newski – Russlands unsterblicher Held. In: OST-WEST. Europäische Perspektiven 21 (2020), H. 3, S. 2010-2018 (der gedruckten Ausgabe). ↩︎