OWEP 4/2021
Schwerpunkt:
Seen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa
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Editorial
„Das Schauspiel des Sees: Wer an Land aufgewachsen ist, auf dem Land, wo weit und breit kein See war, der musste immerzu hinausschauen, zum See, auf den See, in den See. Und der See rief.“ – So beschreibt die Schweizer Autorin Theres Roth-Hunkeler in ihrem 2000 erschienenen Roman „Erzähl die Nacht“ die Wirkung eines Sees, dem sie Trennendes und Verbindendes zuschreibt. Seen lösen bei Leserinnen und Lesern ganz unterschiedliche Assoziationen aus, je nach Interessenlage, kulturellem oder beruflichem Hintergrund. Man kann sich dem „mehr oder weniger großen, in sich abgeschlossenen Standgewässer“ als Ökosystem mit Lebensraum von Flora und Fauna und als Schutz gegen Überflutungen oder Wärmespeicher annähern, wie die Naturwissenschaftlerin Rita Adrian das Naturphänomen in diesem Heft exakt beschreibt. Seen lassen sich aber auch als Sehnsuchtsort oder Wiege kultureller und wirtschaftlicher Entwicklung in der jeweiligen Region erleben.
Mit dieser Ausgabe über Seen setzt OWEP seine Themenschwerpunkte zu Landschaften und Gewässern im Osten Europas fort. Nach den Ausgaben „Flüsse machen Geschichte“ (3/2004) und „Meere im Osten und Südosten Europas“ (1/2019) geht es diesmal um Standgewässer, die – wie man aus der bekanntesten Oper von Antonín Dvořák „Rusalka“ weiß – durchaus bewegt und mythisch aufgeladen sein können. Autorinnen und Autoren zu rund einem Dutzend Länder beschreiben, was Seen in politischer, kultureller, ökologischer oder naturwissenschaftlicher Hinsicht ausmacht.
Gibt es das eine besondere Charakteristikum von Seen im östlichen und südöstlichen Europa? Die Antwort lautet nein. Geologisch zählen die Seen im Nordosten zu den größten Europas, wie uns das Beispiel des Peipussees zwischen Russland und Estland zeigt; politisch verläuft durch diesen See jedoch eine Grenze, die heute sogar noch trennender ist als vor dem Ende des Eisernen Vorhangs. Der Ohridsee zwischen Nordmakedonien und Albanien zählt zu den tiefsten und ältesten Seen Europas mit Zeugnissen des menschlichen Kulturschaffens, die bis in die Steinzeit zurückreichen und ihm den Titel als Weltkultur- und Naturerbe einbrachten. Historisch gesehen bildeten Seen in Osteuropa und die sie umgebende Landschaft auch nicht selten den Hintergrund für die gewaltbehafteten Ereignisse des 20. Jahrhunderts mit Kriegen und Deportationen, wie die tragische Geschichte des Solina-Stausees in den Beskiden eindrücklich vor Augen führt. Im Ergebnis hat sich dort eine völlig neue Identität der Anwohner herausgebildet. Im Übrigen waren Seen im Osten Europas für viele Menschen ein Sehnsuchtsort in der Jugend, als ein Strandurlaub an westlichen Seeufern noch reine Utopie war, wie die Schriftstellerin Julya Rabinowich erzählt. Die Ursprünglichkeit und geduldete Regellosigkeit der sommerlichen Seeidylle zu kommunistischen Zeiten führte nach 1989 fast zwangsläufig zu Problemen mit Korruption und Ökologie, wie der Beitrag des ungarischen Journalisten Márton Gergely über den Plattensee zeigt. Erlangte ein Ort Kultstatus im Westen wie die Plitvicer Seen in Kroatien als Folge der Ikonographisierung in den Winnetou-Filmen, dann waren Massentourismus und schwere ökologische Schäden kaum zu vermeiden. Inzwischen hat sich gegen die totale Ökonomisierung Widerstand gebildet und es gibt neue Hoffnung für den Erhalt dieses Weltnaturerbes.
Der Klimawandel bringt für die Zukunft der Seen im Osten wie im Westen Europas entscheidende Herausforderungen mit sich. Es stimmt hoffnungsvoll, dass die Wissenschaft vielen Phänomenen auf der Spur ist und Schritte zur Anpassung unternommen werden, wie die Beiträge der Journalistin Edda Schlager zum Aralsee, des russischen Polarforschers Georgiy Kirillin zur Eisbildung auf Seen und unserer Chefredakteurin Gemma Pörzgen über das Lausitzer Seenland zeigen.
Wir wünschen bei der Lektüre eine gute Zeitreise durch Vergangenheit, Gegenwart – und eine Zukunft der „Standgewässer“ sowie deren Landschaften im Osten unseres Kontinents!
Die Redaktion
Kurzinfo
Seen – wohl kaum jemand hat keine Erlebnisse zu erzählen, wenn es um diese größeren oder kleineren Gewässer geht. Vom mittelgroßen Teich bis zu riesigen Wasserflächen, Seen gehören zu den prägenden Erscheinungen der Erdoberfläche. In Geschichte und Kultur vieler Völker spielen sie eine große Rolle, in die Kunst haben sie Eingang gefunden. Sie spielen vielfach eine Rolle im Wirtschaftsleben, sei es wegen ihrer Fischbestände oder wegen ihrer touristischen Nutzung. Sie sind aber auch höchst sensible ökologische Größen und in ihrer Existenz gefährdet – auch bei ihnen macht sich der Klimawandel bemerkbar. All das macht sie als Schwerpunktthema für OWEP interessant.
Eröffnet wird das Heft von einem Essay der russisch-österreichischen Schriftstellerin Julya Rabinowich. In den „Seen meines Lebens“ blickt sie auf ihre Kindheit und Jugend zurück und reflektiert über die Rolle von Seen in ihrem literarischen Werk. Ganz andere Akzente setzt das folgende Gespräch mit Prof. Dr. Rita Adrian vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei in Berlin. Ihre Ausführungen belegen die Gefährdung vieler Seen durch Umweltverschmutzung und Klimaveränderungen.
Mit dem Beitrag von Marek Frysztacki über den Solina-Stausee in Südostpolen wendet sich der Blick Richtung Osten. Der Autor geht der Geschichte der gesamten Region nach. Deutlich wird, dass die heutige Idylle des Stausees mit dem Untergang einer ganzen Kultur, nämlich der der Bojken, einhergegangen ist. Ebenfalls wunderschön und zugleich gefährdet sind die Plitvicer Seen in Kroatien, heute UNECSO-Weltnaturerbe und vielen Deutschen noch als Kulisse der Winnetou-Filme bekannt. Im Beitrag des in Belgrad lebenden Journalisten Thomas Roser wird deutlich, wie zerbrechlich das Ökosystem der Seen ist und der dortige Massentourismus sich zu einer ernsthaften Bedrohung entwickelt hat. Zu den auch bei vielen Deutschen bekannten und beliebten Seen gehört, wie aus dem Text des ungarischen Journalisten Márton Gergely ersichtlich wird, der Plattensee (Balaton), die „ungarische Adria“. Anhand von Geschichte und Geschichten um diesen See in kommunistischer Zeit und in der Gegenwart, erzählt mit einem Augenzwinkern, entwirft er das Bild eines Sees, den man „trotz allem“ lieben muss.
Im Mittelpunkt der Reportage von OWEP-Chefredakteurin Gemma Pörzgen steht wiederum ein völlig anderer Seentyp. Ihr Reiseziel ist der Großräschener See im Lausitzer Seenland, entstanden durch Auflassung eines Braunkohletagebaues. Dieser See steht stellvertretend für umgenutzte ehemalige Industrieregionen. Wie die Reportage zeigt, verläuft dies nicht immer problemlos.
In eine andere Region im Südosten Europas führt der folgende Essay des nordmazedonischen Schriftstellers Nikola Madzirov. Er wandert am Ohridsee entlang, geht der Geschichte der Stadt Ohrid mit ihren zahllosen Kirchen und Klöstern nach und lässt die Leserinnen und Leser teilhaben an Gedanken über die metaphysische Bedeutung des Wassers für die menschliche Existenz.
Im Nordosten Europas, an der Grenze zwischen Estland und Russland, liegt der Peipussee, entstanden wie viele Seen in diesem Teil Europas am Ende der Eiszeit. Prof. Dr. Thomas Bremer, OWEP-Redakteur, gibt einen historisch-geografischen Überblick und zeigt auf, dass dieser See zwar an der EU-Außengrenze liegt, zugleich aber Ost und West mehr verbindet als trennt. Noch weiter im Norden und Osten liegen die Seen, die im Mittelpunkt des Beitrags von Dr. Georgiy Kirillin stehen, der ebenfalls am Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei in Berlin tätig ist. Sein Forschungsschwerpunkt sind Veränderungen von Strömungsverhältnissen innerhalb von Seen in der kalten Jahreszeit, die er mit Kollegen in Finnland und Russland (dort besonders am Baikalsee) durchführt. Der Klimawandel macht sich auch dort immer stärker bemerkbar.
Der letzte Beitrag des Heftes führt zu einem See, den es eigentlich gar nicht mehr gibt. Jahrzehntelanger Raubbau an der Natur hat den zentralasiatischen Aralsee fast völlig verschwinden lassen. Die Reportage der Journalistin Edda Schlager zeigt, wie die Menschen in der Region trotz der Umweltkatastrophe ihre Existenz zu sichern versuchen.
Abgeschlossen wird das Heft mit Hinweisen zu weiterführender Lektüre. Das Heft enthält außerdem als Einleger das Gesamtjahresverzeichnis für 2021.
Einen Kurzclip zur Ausgabe 4/2021 finden Sie hier.
Ein Ausblick auf Heft 1/2022, das Anfang Februar kommenden Jahres erscheinen wird: Der Titel „Serbien: Ein Land in der Sackgasse?“ verdeutlicht, dass ein Land der Westbalkanregion im Mittelpunkt stehen wird. Es wird um Politik, Kultur und Wirtschaft eines Landes gehen, das auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft immer wieder von den Schatten der Vergangenheit eingeholt wird.
Dr. Christof Dahm
Inhaltsverzeichnis
Summary in English
Lakes are actually something we take for granted, because there are hardly any regions on earth without these self-contained bodies of standing water. They are used for recreation, but they also have economic significance. They also play a role in culture and literature. The new issue presents a number of lakes in Central, Eastern and South-Eastern Europe and at the same time makes clear that many lakes are seriously endangered by environmental pollution.