Die belarussisch-russischen Beziehungen: Eine neue strategische Vereinbarung?
Zusammenfassung
Über mehr als zwei Jahrzehnte wurden die Beziehungen zwischen Belarus und Russland durch eine Anfang der 1990er Jahre geschlossene strategische Vereinbarung geregelt. Die Ereignisse nach 2014 erschwerten jedoch deren Umsetzung, und die beiden Staaten begannen mit der schwierigen Suche nach einem neuen Beziehungsmodell. Die akute politische Krise in Belarus dürfte dazu führen, dass eine Neuregelung vor allem zu Moskauer Bedingungen abgeschlossen wird.
Sehr bald nach dem Zerfall der UdSSR nahmen die neu entstandenen Staaten Belarus und die Russische Föderation den Aufbau enger beidseitiger Beziehungen in Angriff. Die Regierung in Minsk erkannte, dass ein Verlust des russischen Marktes die belarussische Wirtschaft, die ohnehin bereits in einer tiefen Krise steckte, in die Pleite treiben würde. Es gab zwar auch politische Kräfte, die zugunsten einer europäischen Integration lieber auf eine enge Zusammenarbeit mit Moskau verzichtet hätten. Aber es setzten sich bei den ersten Präsidentschaftswahlen 1994 die beiden populärsten Kandidaten Alexander Lukaschenko und Wjatscheslaw Kebitsch durch – und damit auch die Parteigänger einer engen Integration mit Russland.
In Moskau hingegen wurde die Bedeutung der Beziehungen zu Belarus hauptsächlich durch die geopolitische Brille gesehen. Wie der US-Publizist George Friedman anmerkt, galt die osteuropäische Region historisch als höchste Verwundbarkeit für den russischen Staat. Der Zerfall der Sowjetunion hat dieses Problem wieder aktualisiert. In militärstrategischer Hinsicht entstand in westlicher Richtung für die Moskauer Führung ein großer, schlecht geschützter Raum. Während der Sowjetzeit hatten die damaligen Unionsbeziehungen mit Belarus dieses Problem verringert und die russischen Sicherheitsinteressen auf dem „belarussischen strategischen Balkon“ gewährleistet. So wurde das auch in der russischen Bevölkerung wahrgenommen.
Schwieriger Balanceakt der Beziehungen
So basierten die belarussisch-russischen Beziehungen von Anfang an auf zwei Faktoren: der strategischen Abhängigkeit Moskaus von Belarus und der wirtschaftlichen Abhängigkeit Minsks von Russland. Diese Faktoren führten zu einer schnellen Annäherung der beiden Staaten. Sie unterzeichneten im Juli 1992 als erstes den Vertrag über die Koordinierung der militärischen Aktivitäten. Darauf folgten die Unterschriften unter ein ganzes Paket von 19 wirtschaftlichen und fünf militärischen Vereinbarungen. In ihnen waren unter anderem die Fragen einer ununterbrochenen Durchleitung von russischem Öl und Gas über belarussisches Territorium geregelt sowie Vorzugspreise von Öl und Gas für die belarussischen Verbraucher. Diese Vereinbarung kam einer strategischen Abmachung zwischen beiden Staaten gleich. Belarus nahm damit die Verpflichtung auf sich, in außen- und sicherheitspolitischen Fragen ganz auf Moskauer Kurs zu fahren. Im Gegenzug erhielt die Führung in Minsk einen vorteilhaften Zugang zum russischen Markt, zu Öl, Gas und Krediten.
Diese Vereinbarungen wurden durch eine Serie anderer Verträge in den Jahren 1995-1999 erweitert, die zur Entstehung eines Unionsstaates von Belarus und Russland führten. Der Vertrag über dessen Gründung wurde am 8. Dezember 1999 unterzeichnet. Das dadurch festgelegte Integrationsmodell kennt in der Geschichte keinen direkten Vergleich und hat von Anfang an widersprüchliche Interpretationen erfahren. So stattete Artikel 6 des Vertrages den Unionsstaat mit einigen transnationalen Vollmachten aus, bei denen jedoch Belarus und die Russische Föderation ihre Souveränität ebenso behielten wie ihre territoriale Integrität, Unabhängigkeit, zwei eigene Verfassungen, die staatlichen Strukturen, Nationalflaggen und andere Attribute ihrer Staatlichkeit. Darüber hinaus zieht sich durch den ganzen Vertrag wie ein roter Faden das Prinzip der Parität. Dadurch kann keine Entscheidung getroffen werden, wenn Belarus dagegen ist.
Das Prinzip der Parität
Gerade dieses Prinzip der Parität hat dazu geführt, dass Minsk und Moskau diesen Unionsvertrag bis heute nicht vollständig umgesetzt haben. Angesichts der Traditionen und politischen Kultur im postsowjetischen Raum fällt es schwer zu glauben, dass sich das riesige Russland auf ein gleichberechtigtes Verhältnis mit einem Land einlassen könnte, dessen Territorium um 80 Mal kleiner ist, die Bevölkerung 15 Mal und das Bruttoinlandsprodukt etwa 29 Mal. Für Belarus hingegen es nicht denkbar, auf das Prinzip der Parität zu verzichte, denn das könnte zum Verlust der Eigenstaatlichkeit führen.
Diese Grundkonstellation hat zwischen den Bündnispartnern immer wieder zu Widersprüchen, Streitereien und sogar Konflikten geführt. Seit 1999 kam es zu zehn so genannten Öl-, Gas-, Milch-, Fleisch-, Zucker- und anderen „Kriegen“ , in deren Verlauf Minsk und Moskau auf unterschiedliche Zugeständnisse drängten und zu ökonomisch-politischen Druckmitteln griffen. Alles in allem gelang es aber, die Konflikte einzudämmen und Kompromisse zu erzielen.
2014 als Jahr der Veränderungen
Das Jahr 2014 wurde für den Unionsvertrag zur schwierigen Herausforderung. Ausgelöst wurden die neuen Spannungen durch den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine und der dadurch ausgelösten Konfrontation mit dem Westen. Für Belarus veränderten sich damit die strukturellen Bedingungen für den Vertrag mit Russland und das gesamte politische Umfeld. Der Preis für eine bedingungslose Loyalität gegenüber Moskau erschien in Minsk plötzlich zu hoch.
Ein Grund dafür war auch, dass die Beziehungen zu den westlichen Hauptstädten erstmals seit dem Machtantritt von Alexander Lukaschenko besser waren als die der Moskauer Führung. Damit fand sich Belarus geopolitisch in einer ganz neuen Rolle wieder, die zwei ernsthafte Gefahren mit sich brachte. Da ist zum einen die geografische Lage von Belarus. Das Land läge im Fall einer militärischen Eskalation zwischen Russland und der Nato genau in der Kollisionszone.
Auswirkungen des Ukraine-Konflikts
Aber auch wirtschaftlich wurde Belarus bereits in Mitleidenschaft gezogen. Das Land bekam die Folgen der russischen Wirtschaftskrise zu spüren, die teilweise durch die westlichen Sanktionen hervorgerufen wurde. Das belarussische Bruttoinlandsprodukt sank 2014 stärker als das russische. Darüber hinaus erschwerte die Konfrontation zwischen Russland und der Ukraine auch für Minsk den Handel und die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit der Ukraine – das Land ist für Belarus der zweitwichtigste Handelspartner. Zu beachten ist auch, dass der Handel mit der Ukraine im Unterschied zu dem mit Russland einen wesentlichen Überschuss generiert, der entscheidend zu einer ausgeglichenen belarussischen Außenhandelsbilanz beiträgt.
Diese beiden Gefahren erschienen umso ernster, weil die Kremlführung keine Bereitschaft zu erkennen gab, die Regierung in Minsk über ihre Entscheidungen bezüglich der Konfrontation mit dem Westen und der Ukraine zumindest zu informieren, geschweige denn mit Minsk zu koordinieren. So erfuhr die belarussische Führung von der Angliederung der Krim an Russland nur aus den Nachrichten.
Als Folge dieser Ereignisse nahm die Minsker Regierung immer mehr eine Position ein, die sich von den Erwartungen des Kremls wesentlich zu unterscheiden begann.
Die Spannungen nehmen zu
So weigerte sich die belarussische Führung, eine russische Luftwaffenbasis zuzulassen, die bis dahin noch beraten worden war. Die Zusammenarbeit mit der Ukraine wurde nicht etwa eingeschränkt, sondern sogar weiter ausgebaut. Hinzu kam eine Garantie, dass von belarussischem Territorium keine kriegerischen Bedrohungen für die Ukraine ausgehen würden. Außerdem wurde die belarussische Hauptstadt zum Verhandlungsort zahlreiche Politikertreffen, bei denen nach einer Lösung für die Ukrainekrise gesucht wurde. Dabei kam es auch zum Gipfel im Normandieformat (mit Russland, Deutschland, Frankreich und der Ukraine), nach dem dann 2015 das Minsker Abkommen unterzeichnet wurde. Diese Gastgeberrolle ermöglichte es Belarus, in dem Konflikt eine neutrale Rolle einzunehmen. Das sorgte auch für ein zusätzliches Argument, warum die belarussische Regierung die Krim nicht etwa als Teil Russlands anerkannte und auch die russischen Handlungen im Kontext der Donbass-Krise nicht unterstützen konnte.
Die belarussische Führung gab offiziell bekannt, eine Politik der Diversifikation des Außenhandels zu verfolgen mit dem Ziel, sich aus der übermäßigen Abhängigkeit vom russischen Markt zu lösen und die damit verbundenen Risiken zu vermindern. Beschlossen wurde auch eine Veränderung der Exportströme. Demnach sollte von nun an ein Drittel des belarussischen Exports nach Russland gehen, ein zweites Drittel in die Europäische Union und ein weiteres Drittel in andere Weltgegenden. Um diese Pläne umzusetzen, setzte Minsk darauf, die Beziehungen zur EU und zu den USA zu normalisieren.
Schwierige Beziehungen zu Moskau
In Russland stieß diese Politik bei vielen auf Unverständnis und wurde für die Moskauer Interessen als potentiell bedrohlich gewertet. Was Experten als „Sicherheitsdilemma innerhalb einer Allianz“ bezeichnen, trat nun deutlich zutage: Belarus befürchtete, durch den aggressiveren außenpolitischen Kurs der Kremlführung in eine geopolitische Auseinandersetzung hineingezogen zu werden. Russland hingegen sorgte sich, dass man in Minsk von seinen Bündnisverpflichtungen im Falle eines kriegerischen Konfliktes mit der Nato Abstand nehmen könnte. Es wurde deutlich, dass die in den 1990er Jahren getroffene Abmachung nicht mehr funktionierte und erneuert werden musste.
Im Dezember 2018 legte die Kremlführung eine neue Vereinbarung für den Unionsstaat vor; einige Beamte in Minsk erklärten jedoch, dass die Neuregelung für Belarus mit einem Souveränitätsverlust verbunden gewesen wäre. Wegen solcher Bedenken ist es bisher nicht zu einer einvernehmlichen Lösung gekommen.
Unterschiedliche Perspektiven
Obendrein zeigte sich, dass die Bündnispartner auch das Wesen ihrer Integration völlig unterschiedlich verstehen. Moskau verweist darauf, dass es mit den im Vergleich zu Drittstaaten niedrigeren Energiepreisen für Belarus bereits genug für die Integration in den Unionsstaat leiste. Die belarussischen Vertreter sehen das anders und verweisen darauf, dass sich die Energiepreise von denen in Russland unterscheiden. Ihr Argument ist, dass die unterschiedlichen Preise für Öl und Gas unter den Bedingungen eines gemeinsamen Marktes für russische Firmen gegenüber den belarussischen Firmen Vorteile schaffen, die einer wirtschaftlichen Integration widersprechen.
Anfang 2020 kam es zwischen den Staaten zum nächsten „Ölkrieg“. Weil die Regierung in Minsk die Ölpreise ebenso wie die Bezugsbedingungen für unannehmbar hielt, stoppte sie sogar für eine gewisse Zeit die Ankäufe russischen Öls. Stattdessen wurden mit den Lieferanten von Öl aus Aserbaidschan, Norwegen und den USA einmalige Verträge unterschrieben. Die Beziehungen beider Staaten steckten in einer Sackgasse. Zwar einigte man sich bald auf die Wiederaufnahme der Lieferungen russischen Öls, aber es wurde klar, dass dringend eine neue Grundsatzvereinbarung benötigt wurde.
Belarus in der Position der Schwäche
Wegen der Präsidentschaftswahlen im August vereinbarten die Partner weitere Unterredungen für die Zeit nach Beendigung des Wahlkampfes. Es lag also durchaus im russischen Interesse, nach der Wahl eine deutlich geschwächte Führung in Belarus zu bekommen und damit die Möglichkeit zu haben, ihr einen neuen strategischen Vertrag leichter aufzuzwingen. Genau das ist geschehen: Die Präsidentschaftswahlen endeten mit einer beispiellosen Krise in Belarus, die nicht nur die Legitimität Alexander Lukaschenkos untergrub, sondern das ganze Land geschwächt hat. Russland wurde zum wichtigsten Akteur und Königsmacher in der belarussischen Krise. Jede Lösung hängt heute von Moskau ab. Schon jetzt lässt sich sagen, dass die neue strategische Vereinbarung zwischen den beiden Ländern zu Moskaus Bedingungen geschlossen wird.
Aus dem Russischen übersetzt von Friedemann Kluge.