OWEP 1/2021

OWEP 1/2021

Schwerpunkt:
Belarus – ein Land im Umbruch

Editorial

Die Ereignisse des letzten Jahres haben ein Land in den Fokus des Interesses gestellt, das den meisten Menschen bei uns bis dato kaum bekannt war, nämlich Belarus. Die Präsidentschaftswahlen im August, bei denen sich der Amtsinhaber Lukaschenko bestätigen lassen wollte, brachten offensichtlich einen Sieg der Opposition, worauf das Regime zu einer plumpen Fälschung der Wahl griff und einen hohen Sieg des Präsidenten verkündete. Seither haben die Demonstrationen und Proteste gegen die Regierung nicht aufgehört, trotz der beispiellosen Brutalität, mit der Polizei und Geheimdienst gegen die Bevölkerung vorgegangen sind. Die vermutete Siegerin der Wahl, Swetlana Tichanowskaja, musste wie viele Oppositionelle ins Exil gehen, andere sitzen nach wie vor ohne Prozess im Gefängnis.

Die Ereignisse in Belarus haben auch internationale Auswirkungen. Das Land ist in hohem Maße von Russland abhängig. Hatte Präsident Lukaschenko sich in den letzten Jahren bemüht, diese Abhängigkeit ein wenig zu verringern, so scheint er jetzt in einer engeren Bindung an Moskau seine letzte Chance zu sehen. Dort hat man sicher Interesse daran, das Land zu kontrollieren – ob das mit Lukaschenko sein wird, sei dahingestellt.

Die Redaktion will mit diesem Heft verschiedene Aspekte des kleinen Nachbarlandes der Europäischen Union ins Licht heben, die sonst nicht so bekannt sind. Die näheren Umstände der Proteste stehen dabei verständlicherweise im Vordergrund, aber auch Fragen von Kultur, Religion und Geschichte des Landes werden behandelt. Wir wollen damit einen Einblick in einen Staat und seine Bevölkerung ermöglichen, die bei uns lange Zeit viel zu wenig wahrgenommen worden sind.

Die Redaktion

Kurzinfo

Seit August 2020 ist Belarus, ein kleines Land im Osten Europas, zumindest in den Medien ständig präsent. Der umstrittene Ausgang der Präsidentschaftswahlen, die der langjährige Amtsinhaber Alexander Lukaschenko offiziell mit 80 Prozent Zustimmung für sich entschied, führten zu Demonstrationen, die das Regime mit massiver Gewalt unterdrücken ließ. Viele Oppositionelle mussten ins Ausland gegen, das Land kommt bis heute nicht zur Ruhe. Was wissen die Menschen hierzulande sonst über dieses Land, das eher unter dem Namen „Weißrussland“ bekannt ist? Manche werden sich an die Folgen der Tschernobyl-Katastrophe von 1986 erinnern, die das Land besonders hart getroffen hat – aber Belarus hat eine viel längere, großenteils tragische Geschichte, in der sich Völker und Kulturen gemischt und gegenseitig befruchtet haben. Diese viel zu wenig bekannten Facetten versucht das Heft in Ansätzen vorzustellen.

Am Beginn muss natürlich die aktuelle Lage stehen, die Dr. Astrid Sahm, Belarus-Expertin und Geschäftsführerin des Internationalen Bildungs- und Begegnungswerks (IBB) in Dortmund, in ihrem Beitrag „Belarus zwischen Aufbruch und Repression“ skizziert. Die Proteste gegen die manipulierten Präsidentschaftswahlen sind nicht vom Himmel gefallen, denn in großen Teilen der Bevölkerung herrschte schon seit Jahren Unmut über das immer stärker autoritär auftretende Regime von Präsident Lukaschenko. Allerdings zeigt sich derzeit keine Lösung der Krise ab; wohin sich das Land entwickeln wird, ist derzeit noch völlig offen. Dr. Alexander Milinkewitsch, Bürgeraktivist und Präsidentschaftskandidat in Belarus 2006, ergänzt in seinem Beitrag die Analyse von Astrid Sahm mit Ausführungen zur innenpolitischen Gemengelage und zur Rolle der Frauen in den gegenwärtigen Auseinandersetzungen. Ein entscheidender Faktor in der verworrenen Situation ist Russland, das den kleinen westlichen Nachbarn als strategischen „Vorhof“ betrachtet. Über die wechselseitigen Beziehungen informiert der Aufsatz des belarussischen Politologen Yauheni Preiherman.

Zwei weitere Beiträge gelten zwei gesellschaftlichen Kräften, die in der Krise in Belarus besonders gefordert sind. Gemma Pörzgen, OWEP-Chefredakteurin, befasst sich mit der Lage der Medien und der Journalisten; die unabhängige Berichterstattung im Land wird derzeit stark behindert. Dr. Alena Alshanskaya, Osteuropahistorikerin an der Universität Mainz, untersucht die Haltung der Kirchen, besonders der belarussischen orthodoxen Kirche und der katholischen Kirche, deren Bemühungen um Vermittlung in der Krise bisher wenig erfolgreich waren.

Vieles von dem, was derzeit in Belarus geschieht, ist ohne Kenntnis der jüngeren Geschichte des Landes kaum verständlich. Eine markante Zäsur war die Tschernobyl- Katastrophe von 1986, deren Folgen bis heute in großen Teilen von Belarus zu spüren sind. Die österreichische Journalistin Dr. Christine Haiden blickt kurz auf dieses Ereignis zurück und stellt das Kinderdorf in Gomel als Leuchtturmprojekt für Opfer der zweiten Generation vor. Verheerend für Belarus – und ebenfalls bis heute spürbar – war der Zweite Weltkrieg, in dessen Verlauf das Territorium zu einem der Hauptkriegsschauplätze wurde. Das Land verlor, was in Deutschland kaum bekannt ist, ein Viertel seiner Bevölkerung; die jüdischen Bewohner fielen zum größten Teil dem Holocaust zum Opfer. Prof. Dr. Anika Walke, Professorin für Geschichte an der Washington University in St. Louis (USA), zeichnet den Leidensweg der Bevölkerung während des Zweiten Weltkriegs nach, für die als Gedenkorte vor allem Chatyn und Maly Trostinec stehen. Die deutsch-belarussischen Bemühungen, diese dunklen Seiten der Geschichte zu erforschen, stehen im Mittelpunkt eines Interviews mit dem Osteuropa-Historiker Prof. Dr. Thomas Bohn, dem Sprecher der 2020 gegründeten Belarussisch-Deutschen Geschichtskommission.

Das Gebiet des heutigen Belarus gehört zu den ältesten slawischen Herrschaftsgebieten, war Teil des Großfürstentums Litauen, später des Polnisch-Litauischen Staates; in ihm trafen sich Ost und West sowohl sprachlich als auch kulturell und religiös. Bereits im 16. Jahrhundert gab es erste Druckwerke in altbelarussischer Sprache, die später als „Bauerndialekt“ abgetan wurde. In ihrem Beitrag „Weißer Fleck, fließende Form“ vermittelt die Übersetzerin und Essayistin Iryna Herasimowitsch einen Überblick über die Entwicklung von Kultur und Literatur ihrer Heimat von den Anfängen bis in die Gegenwart und stellt eine Gesellschaft vor, die sich zu diesen Traditionen bekennen und zugleich den Herausforderungen der Moderne stellen muss. Dass Belarus über eine äußerst lebendige kulturelle Szene verfügt, darunter auch eine Popkultur mit angesagten Rockbands, wird aus dem Text des Journalisten Ingo Petz deutsch, der zugleich wieder zur aktuellen Krise überleitet. Gerade die junge Generation steht an der Spitze der Proteste und ist nicht länger bereit, das Regime des „letzten Diktators Europas“ zu ertragen.

Die letzten drei Beiträge des Heftes beziehen sich ebenfalls auf die aktuelle Lage in Belarus. Die Philologin und Kulturwissenschaftlerin Irina Solomatina untersucht in ihrem Beitrag „Die Revolution hat kein feministisches Gesicht“ (einem Buchauszug) die Rolle der Frauen in der Anti-Lukaschenko-Bewegung. Aus Berlin blickt die Historikerin Alesja Belanovich-Petz in ihrem Essay „Mit einer Herzhälfte dort, mit der anderen hier“ auf ihre Heimat. Im Interview mit dem Studenten Alexander Moisseenko wird die im August 2020 gegründete Organisation „Razam“ („Gemeinsam“) vorgestellt, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Oppositionsbewegung in Belarus auf verschiedenen Wegen zu unterstützen.

Abgeschlossen wird das Heft mit Literaturtipps (Bücher und Webseiten).

Ein kurzer Blick auf Heft 2/2021, das im Mai erscheinen wird: Unter dem Titel „Die Schöpfung im Klimawandel. Herausforderung für das 21. Jahrhundert“ wird das Heft Themen aus den Bereichen „Umweltschutz“ und „Bewahrung der Schöpfung“ behandeln und u. a. Beiträge aus Armenien, Polen, Rumänien und Russland enthalten.

Dr. Christof Dahm

Inhaltsverzeichnis

2
Belarus zwischen Aufbruch und Repression
Astrid Sahm
9
Innenpolitik in der Sackgasse. Eine Analyse des Präsidentschaftswahlkampfes und seiner Folgen
Alexander Milinkewitsch
15
Die belarussisch-russischen Beziehungen: Eine neue strategische Vereinbarung?
Yauheni Preiherman
21
Unabhängige Journalisten und Medien unter Druck
Gemma Pörzgen
25
Die belarussische Orthodoxie vor der Herausforderung der Bürgerproteste
Alena Alshanskaya
33
Jahrzehnte konkreter Hilfe vor Ort. Was mit Tschernobyl in Belarus begonnen hat
Christine Haiden
38
Schwieriges Erinnern: Das Trauma des Zweiten Weltkrieges lebt in Belarus fort
Anika Walke
46
Neue Wege der Belarus-Forschung. Ein Gespräch mit Prof. Dr. Thomas Bohn
Gemma Pörzgen
51
Belarus: Weißer Fleck, fließende Form
Iryna Herasimowitsch
59
Kultur in Belarus – raus aus der Nische
Ingo Petz
65
Die Revolution hat kein feministisches Gesicht
Irina Solomatina
72
„Mit einer Herzhälfte dort, mit der anderen hier“
Alesja Belanovich-Petz
75
Solidarität von Deutschland aus. Ein Gespräch mit Alexander Moisseenko
Gemma Pörzgen
77
Weiterführende Lektüre
OWEP-Redaktion

Summary in English

Since August 2020, Belarus, a small country in Eastern Europe, has been constantly present, at least in the media. The disputed outcome of the presidential elections, which the long-time incumbent Alexander Lukashenko officially won with 80 percent approval, provoked demonstrations that the regime suppressed with massive violence. But what else do people in Western Europe know about this country? Some will remember the aftermath of the Chernobyl disaster of 1986, which hit the country particularly hard – but Belarus has a much longer, largely tragic history in which peoples and cultures have mixed and cross-fertilised each other. This issue attempts to present some of these facets, which are far too little known.