Die Erinnerung an die Kriege der 1990er Jahre
Zusammenfassung
Politik und Gesellschaft in Serbien tun sich bis heute schwer mit der Bewertung der Kriege nach dem Zerfall Jugoslawiens. Zaghafte Ansätze zu einer objektiven Sicht auf die damaligen Ereignisse werden immer wieder vom einseitigen Bild Serbiens als Opfer auswärtiger Aggressoren überlagert. Dies belastet auch alle Versuche zu einer Verständigung und dauerhaften Aussöhnung mit den Nachbarn.
Randale um ein Wandgemälde
Eine Straßenecke im Zentrum von Belgrad wurde im November 2021 zum Schauplatz von Protesten und Auseinandersetzungen zwischen rechtsgerichteten Gruppen und Aktivisten der liberalen Zivilgesellschaft. Anlass für die Demonstrationen war ein Graffito, das bereits im Juli auf eines der Wohnhäuser gesprüht worden war und den früheren bosnisch-serbischen General Ratko Mladić zeigt. Das Bild tauchte auf der Hauswand auf, nachdem der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag wenige Wochen zuvor das Urteil gegen Mladic bestätigt hatte. Er sitzt eine lebenslange Haftstrafe ab, seitdem er für den Völkermord von Srebrenica und andere Kriegsverbrechen während des Bosnienkrieges verurteilt worden war.
Monatelang hatten sich Anwohner beschwert und Aktivisten versuchten, das Wandbild zu übermalen oder zu beschädigen. Immer wieder tauchte eine Gruppe junger Männer auf, die das Porträt rasch wieder instand setzte. Keine einzige Firma war bereit, das Wandbild zu übermalen.
Die Proteste verschärften sich, als Menschenrechtsgruppen und Aktivisten ankündigten, das Wandbild anlässlich des Internationalen Tages gegen Faschismus und Antisemitismus zu beseitigen. Die serbische Polizei verbot die Proteste, bewachte das Wandbild und nahm schließlich zwei Aktivisten fest, weil sie es mit Eiern beworfen hatten. Innenminister Aleksandar Vulin rechtfertigte das Vorgehen der Polizei damit, dass sie keine Partei ergreife, sondern sich um die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung bemühe. Dabei hatte er selbst die Proteste wenige Tage zuvor noch als „schändlich und von böser Absicht geleitet“ bezeichnet. Mit der Bewachung des Wandgemäldes stellte sich die Polizei eindeutig auf die Seite der rechtsextremen Gruppen und gegen die Menschenrechtsaktivisten.
Das umstrittene Wandbild im Belgrader Vračar-Viertel ist nicht das einzige Beispiel für die Verehrung von Kriegsverbrechern und wirft ein Schlaglicht auf die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis der serbischen Gesellschaft zu den Kriegen der 1990er Jahre. Mladićs Porträt als serbischer Held ist auf vielen Wänden, Stadionterrassen, Plakaten, T-Shirts zu sehen und kommt sogar in politischen Erklärungen von Staatsbeamten vor. Die Verherrlichung serbischer Kriegsverbrecher aus den Kriegen der 1990er Jahre ist auch ein Aspekt der offiziellen Erinnerungspolitik, vor allem seitdem die Serbische Fortschrittspartei (SNS) 2012 an die Macht kam.
Verpasste Chancen nach dem Sturz von Slobodan Milošević
Die Kriege auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens, in Slowenien, Kroatien, Bosnien und Herzegowina und im Kosovo, kosteten rund 140.000 Menschen das Leben, 100.000 davon allein in Bosnien und Herzegowina. Neben den Kriegen erlebte die Region auch den Zusammenbruch des jugoslawischen Staatssozialismus. Die kriegsbedingten Spannungen zwischen den Staaten und ethnischen Gruppen bestehen im postjugoslawischen Raum bis heute fort. Die Hinterlassenschaften der bewaffneten Konflikte sind in der Gesellschaft präsent und werden von den politischen Eliten zur Manipulation genutzt.
Am 5. Oktober 2000 endete die Herrschaft des langjährigen Staatschefs Slobodan Milošević nach fast einem Jahrzehnt der Kriege und seine politischen Gegner kamen in Form einer heterogenen demokratischen Koalition an die Macht. Die politischen Veränderungen in der serbischen Gesellschaft führten jedoch nicht zu einem klaren Schnitt mit der Vergangenheit – anders als manche Optimisten erhofft hatten. Die politischen Akteure waren nicht dazu bereit, sich mit der Rolle Serbiens in den Kriegen der 1990er Jahre auseinanderzusetzen. Sie hielten an der offiziellen Haltung fest, dass Serbien nichts damit zu tun gehabt habe. Anstatt die Verantwortung zu übernehmen, lehnten es die Staatsbeamten ab, sich an öffentlichen Debatten und an der Vergangenheitsbewältigung zu beteiligen.
So wurden die Kriege der 1990er Jahre in den öffentlichen Diskursen im ersten Jahrzehnt nach dem Sturz von Milošević ignoriert. Es gab auch keine offiziellen Gedenkfeiern, abgesehen von einer kleinen Veranstaltung für die serbischen Opfer der Operation „Sturm“ 1995 und der NATO-Bombardierung der Bundesrepublik Jugoslawien 1999.1 Gleichzeitig erhielten die serbischen Befehlshaber, die vom Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien wegen Kriegsverbrechen angeklagt wurden, während ihrer Prozesse finanzielle Unterstützung vom Staat. Miloševićs Sozialistische Partei Serbiens blieb auch nach dessen Sturz im politischen Leben präsent und gewann allmählich sogar wieder an Unterstützung. 2009 versöhnte sie sich offiziell mit der Demokratischen Partei und ist heute die zweitgrößte politische Partei in Serbien. Zwar wurden gelegentlich Schritte unternommen, um sich mit den Hinterlassenschaften der Kriege der 1990er Jahre auseinanderzusetzen, doch haben sich die Staatsbeamten nicht ernsthaft um eine Vergangenheitsbewältigung bemüht. Eine kritische Auseinandersetzung mit der serbischen Kriegsbeteiligung und die Übernahme von Verantwortung für die begangenen Menschenrechtsverletzungen blieben marginal und auf Vertreter der Zivilgesellschaft beschränkt, die aus der Antikriegsbewegung der 1990er Jahre hervorgegangen war.
Populistische Wende in der Erinnerungspolitik
Nachdem die Serbische Fortschrittspartei (SNS) 2012 an die Macht gekommen war, verlagerte sich der Schwerpunkt der offiziellen Erinnerungspolitik darauf, das Gedenken an die Kriege und die serbische Beteiligung zu feiern und die Opferrolle hervorzuheben. Im Gegensatz zu ihren politischen Vorgängern würdigten die jetzigen Staatsbeamten die Rolle der serbischen Streitkräfte in den Kriegen als heldenhaft, während sie die Unschuld der serbischen zivilen Opfer betonten. Das SNS-Regime berief sich darauf, dass die Vorgängerregierungen die 1990er Jahre mangelhaft aufgearbeitet hätten, und versuchte so, in der Bevölkerung an Legitimität und Attraktivität zu gewinnen. Die Machthaber argumentierten, die serbische Nation sei gezwungen gewesen, sich zu schämen. Nun könne sie jedoch dank der SNS und ihrer Erinnerungspolitik endlich ihrer Helden und Opfer gedenken. Es handelt sich dabei um ein populistisches Narrativ, das darauf abzielt, „ein Volk“ und diejenigen, die ihm angehören, zu konstruieren, um diese Leute nationalistisch zu mobilisieren.
In der serbischen Öffentlichkeit kursieren heutzutage mehr Informationen über die bewaffneten Konflikte der 1990er Jahre als je zuvor. Groß angelegte Gedenkveranstaltungen zu den Kriegsereignissen finden im ganzen Land statt und beinhalten Live-Übertragungen im nationalen Fernsehen und Streaming im Internet. An diesen Veranstaltungen nehmen Tausende von Menschen teil. Darüber hinaus initiieren und finanzieren die Ministerien und andere staatliche Institutionen aufwändige Spiel- und Dokumentarfilme über die Kriege der 1990er Jahre und unterstützen die Veröffentlichung der Erinnerungen und Zeugnisse von Kämpfern und Kommandeuren.
Heldentum und Opferrolle
Das offizielle Narrativ über die Kriege der 1990er Jahre basiert auf dem Doppelklang von Heldentum und Opferrolle oder von Tapferkeit und Unschuld des serbischen Volkes. So werden die unangenehmen Aspekte der Kriege, die nicht zu Heldentum und Opferrolle passen – wie etwa die Mitschuld an Völkermord und Kriegsverbrechen – im öffentlichen Diskurs vernachlässigt. Der Krieg in Kroatien wird beispielsweise vor allem mit der „Operation Sturm“ von 1995 in Verbindung gebracht. Diese selektive Sichtweise blendet aus, dass diese kroatische militärisch-polizeiliche Operation ebenso eine Vorgeschichte hatte wie die anschließende Zwangsmobilisierung der Flüchtlinge bei ihrer Ankunft in Serbien. In ähnlicher Weise wird die jugoslawische Armee als Verteidigungsarmee dargestellt und deren Kriegsverbrechen verschwiegen und abgestritten. Die Staatsbeamten diskreditieren und verurteilen alle Versuche der Zivilgesellschaft, dieser nationalistischen Kriegsinterpretation entgegenzutreten.
In diesem Kontext sind die Operation „Sturm“, der Kosovo-Krieg und die Bombardierung Jugoslawiens durch die NATO die wichtigsten Ereignisse und der Kern der offiziellen Erinnerungspolitik. In ganz Serbien finden groß angelegte Gedenkveranstaltungen statt, die oft von den Regierungen Serbiens und der zu Bosnien und Herzegowina gehörenden Republika Srpska gemeinsam organisiert werden. Sie handeln wie eine Erinnerungsgemeinschaft. So finden die Gedenkveranstaltungen zur Operation „Sturm“ in Städten und Dörfern statt, in denen sich viele 1995 aus Kroatien vertriebene serbische Flüchtlinge niedergelassen haben. Ebenso werden die zentralen Gedenkfeiern zum Beginn der NATO-Intervention an Orten veranstaltet, an denen es zu Zerstörungen und Opfern kam.
Die offizielle Interpretation der NATO-Bombardierung Jugoslawiens verschmilzt die Perspektiven der Helden und der Opfer. Sie feiert die defensive Rolle der serbischen Streitkräfte gegen die Kosovo-Befreiungsarmee (UÇK) und die NATO und gedenkt der serbischen Opfer der Bombenangriffe und des Konflikts im Kosovo. Der breitere Kontext des Kosovo-Krieges, einschließlich der Gräueltaten, die von der jugoslawischen und serbischen Armee, Polizei und paramilitärischen Kräften an den Kosovo-Albanern begangen wurden, wird ausgeklammert.
Die so genannte Schlacht von Košare, ein bewaffnetes Gefecht zwischen der jugoslawischen Armee und der UÇK, das während der NATO-Intervention in der Nähe der albanischen Grenze zwischen April und Juni 1999 stattfand, ist eines der wichtigsten Themen der Erinnerung an die 1990er Jahre. Während der 67 Tage dauernden Kämpfe wurden 108 überwiegend junge Soldaten der jugoslawischen Armee getötet. Die 2016 eingeführten offiziellen Gedenkfeiern würdigen diese Soldaten als Verteidiger, die die UÇK daran hinderten, von Albanien aus in serbisches Gebiet einzudringen. Die Bedeutung dieses Ereignisses für das heroische Narrativ der Verteidiger der Nation gegen ausländische Aggression wird durch die Tatsache verstärkt, dass albanische Truppen und die NATO die UÇK unterstützten. Staatlich geförderte Fernsehsendungen, Filme und Bücher mit Zeugenaussagen von Kämpfern befassen sich mit dieser Schlacht. Offizielle Vertreter Serbiens vergleichen die Schlacht von Košare mit der Schlacht an den Thermopylen 480 v. Chr. und die heldenhafte Aufopferung der jungen serbischen Soldaten mit dem Todesmut der Spartaner unter Leonidas gegen die persischen Usurpatoren. Das Beispiel dieser Schlacht im Kosovo-Krieg zeigt, wie erfolgreich die populistischen Narrative in der Gesellschaft sind, da die „Helden von Košare“ in ganz Serbien in vielen Formen geehrt werden: als Wandbilder, auf Fußballtribünen und auf T-Shirts, die von jungen Menschen getragen werden.
Erinnerung und Perspektiven der Versöhnung
Seit dem Sturz von Slobodan Milošević haben die staatlichen Akteure bisher leider keine große Bereitschaft gezeigt, sich mit der Schuld und Verantwortung der serbischen Seite während der Kriege der 1990er Jahre auseinanderzusetzen. Seit 2012 weichen die politischen Akteure diesen Themen nicht nur aus, sondern eignen sich sogar die fragwürdigen Erzählungen an. Der ausgrenzende Charakter der Erinnerungspolitik zielt auf die gegnerischen Narrative und vor allem auf die nichtserbischen Opfer ab, denen die ihnen gebührende Anerkennung verweigert wird. Ihre Leiden werden sogar abgestritten – die Leugnung des Völkermords von Srebrenica ist heute Staatspolitik. Die Gedenkreden sind feindselig, aggressiv und verfestigen Feindbilder, was wenig Hoffnung auf regionale Versöhnung und nachhaltigen Frieden macht.
Die serbischen staatlichen Institutionen unterstützen öffentlich verurteilte und mutmaßliche Kriegsverbrecher, die in der Gesellschaft akzeptiert sind, ein normales Leben führen und die Rolle der Armee in den Kriegen der 1990er Jahre feiern. Gleichzeitig stellen die offiziellen Vertreter des Staates Serbien als Land dar, das sich am meisten für die regionale Aussöhnung einsetze. So betont Präsident Vučić, Serbien bekenne sich zu seinen Verbrechen, habe die Täter der in seinem Namen begangenen Verbrechen verurteilt und schäme sich ihrer Taten. Er erklärt, Serbien respektiere die Opfer der anderen Seiten und erwarte im Gegenzug lediglich Respekt für die serbischen Opfer. Während der Präsident behauptet, dass Serbien sich der Versöhnung verschrieben hat, scheint die Möglichkeit einer regionalen Versöhnung in der Realität weiter entfernt zu sein als je zuvor.
Illiberale politische Kräfte wie das SNS-geführte Regime in Serbien eignen sich die auf den Menschenrechten basierenden Formate des Gedenkens an und nutzen sie für ihre populistische Erinnerungspolitik. Im Fall Serbiens erstreckt sich die Pflicht, der Opfer zu gedenken und sich auf sie zu konzentrieren, in der Praxis nur auf serbische Opfer. Das gegenwärtige Regime versteht unter Vergangenheitsbewältigung nicht, dass sich die serbische Gesellschaft mit ihrer problematischen Vergangenheit und den massenhaften Menschenrechtsverletzungen auseinandersetzen sollte. Im Gegenteil, der Umgang mit der Vergangenheit wird so interpretiert, dass die serbischen Streitkräfte als Helden gefeiert werden und der serbischen Opfer gedacht wird, mit der Begründung, das sei vorher verboten gewesen.
Aus dem Englischen übersetzt von Thomas Hartl.
Fußnote:
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Die Operation „Oluja“ (Sturm) war eine Großoffensive im Kroatienkrieg, bei der kroatische Armee- und Polizeieinheiten im August 1995 den Hauptteil der 1991 entstandenen Republik Serbische Krajina eroberten. Es kam zu Kriegsverbrechen an Serben, und rund 200.000 Zivilisten flohen aus dem Gebiet. ↩︎