OWEP 1/2022
Schwerpunkt:
Serbien: Ein Land in der Sackgasse?
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Editorial
In Serbien wird im Frühjahr wieder einmal gewählt. Das dürfte zwar unseren Blick in die häufig vergessene Balkanregion lenken, aber entscheidende Veränderungen sind von den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen kaum zu erwarten. Präsident Aleksandar Vučić hat seine autoritäre Machtstellung über die Jahre weiter ausgebaut. Seine Anhänger halten den Chef der nationalpopulistischen Fortschrittspartei (SNS) für einen genialen Staatenlenker, die Kritiker empört sein nationalistischer Kurs ebenso wie die verbreitete Korruption. Belgrad-Korrespondent Thomas Roser zeichnet in seinem Porträt das Bild eines Politikers, der wie ein schillerndes Chamäleon agiert. Von einem Land in der politischen Krise schreibt der serbische Politologe Nikola Burazer. Er beklagt ein vergiftetes Klima und zeigt sich besorgt, dass es im Parlament praktisch keine Opposition mehr gibt.
Chefredakteurin Gemma Pörzgen ist nach Belgrad gereist und hat mehrere Beiträge vor Ort recherchiert. Sie analysiert, wie die serbische Regierung die Medienlandschaft kontrolliert, wie sich Corona auf das Kulturleben auswirkt, und beschreibt die Debatte über das „Waterfront-Projekt“ an der Save. Die Belgrader Wirtschaftsprofessorin Danica Popović verdeutlicht, dass die serbische Wirtschaft zwar unter der Coronakrise wenig gelitten hat, aber die hohe Inflation Gegensätze von Arm zwischen Reich weiter verschärft.
Die Brutalität der Balkan-Kriege der 1990er Jahren ist auch bei uns nur noch wenigen in Erinnerung. Das macht es der serbischen Gesellschaft leicht, der notwendigen Vergangenheitsbewältigung auszuweichen. Die Historikerin Jelena Đureinović schildert eindringlich, wie der Heldenkult rund um die Kriegsverbrecher gefördert wird.
Angesichts solcher Entwicklungen fällt es schwer sich vorzustellen, dass Serbien eines Tages der EU beitreten könnte. Der Balkan-Experte Dušan Reljić verweist auch auf Versäumnisse aus Brüssel, dem Westbalkan eine realistische Zukunftsperspektive zu eröffnen. Weitere Beiträge beschäftigen sich mit dem schwierigen Verhältnis zum Kosovo und mit der Lage der Kirchen. Wir wünschen eine gute Lektüre!
Die Redaktion
Kurzinfo
Serbien hat – das muss man leider gleich zu Beginn festhalten – in Deutschland einen schlechten Ruf. Anders als etwa Kroatien und Slowenien, die viele Deutsche als Reiseziele kennen, wird mit der größte Nachfolgestaat Jugoslawiens bis heute vor allem mit den Kriegen der 1990er Jahre in Verbindung gebracht; wer noch weiter in die Geschichte zurück geht, stößt unweigerlich auf das Attentat von Sarajevo 1914 und den Beginn des Ersten Weltkriegs, was wiederum Serbien angelastet wird. Auch wenn viele Fakten stimmen, sollte man sich dennoch vor einseitigen Klischees hüten. Es ist sicher angebracht, genauer hinzusehen, und das möchte das vorliegende Heft „Serbien: Ein Land in der Sackgasse?“ versuchen.
Eröffnet wird das Heft mit zwei Beiträgen zur aktuellen politisch-gesellschaftlichen Lage des Landes. Für den 3. April 2022 sind in Serbien Präsidentschafts- und Parlamentswahlen vorgesehen, außerdem Kommunalwahlen in der Hauptstadt Belgrad. Nikola Burazer, Programmdirektor am Zentrum für zeitgenössische Politik in Belgrad und Chefredakteur des Webportals „European Western Balkans“, beschreibt das zersplitterte Parteiensystem und kommt zu dem Ergebnis, dass sich aller Voraussicht nach an der jetzigen Regierung unter Führung der mitte-rechts ausgerichteten Serbischen Fortschrittspartei (SNS) nichts ändern wird. Herausragender Protagonist der SNS ist Staatspräsident Aleksandar Vučić, der seit zwanzig Jahren in verschiedenen Positionen die Politik des Landes entscheidend geprägt hat. Der in Belgrad lebende deutsche Journalist Thomas Roser zeichnet in seinem Porträt den Werdegang Vučićs nach.
Viele Beobachter sehen die Entwicklung der serbischen Demokratie kritisch, zumal das Regierungssystem sich immer stärker in Richtung eines autoritären Systems entwickelt. Maßstab dafür ist der Grad der Presse- und allgemein der Medienfreiheit. Gemma Pörzgen, OWEP-Chefredakteurin, war im September 2021 auf Reportagereise in Serbien und hat sich vor Ort ein Bild gemacht. Ihr Fazit ist ernüchternd: Es gibt „nur noch kleine Inseln der Medienfreiheit“. Mediales Aufsehen weltweit erregte kürzlich die Affäre um den Tennis-Weltranglistenersten Novak Đoković, der wegen seines unklaren Impfstatus aus Australien ausgewiesen und von den serbischen Medien zum Märtyrer stilisiert wurde. Entsprechend informiert Thomas Roser in einem zweiten Text kurz über die Hintergründe des serbischen „Opfermythos“.
Drei Beiträge des Heftes befassen sich mit der Rolle Serbiens innerhalb der Gruppe der Westbalkanstaaten (d. h. der Staaten des ehemaligen Jugoslawiens ohne Slowenien und Kroatien, aber zusätzlich mit Albanien). Dr. Dušan Reljić, Südosteuropa-Experte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), widmet sich dem Problem, dass Serbien trotz vieler Bemühungen bis heute keine klare Beitrittsperspektive zur Europäischen Union hat, was im Land zu Verbitterung führt und Ursache für die Zuwendung zu autoritär geprägten Staaten wie z. B. Russland ist. Das Verhältnis Serbiens zum quasi autonomen Gebiet Kosovo ist bis heute von starken Spannungen geprägt, die immer wieder in bewaffneten Auseinandersetzungen eskalieren. Der in Belgrad lebende kosovarische Journalist Idro Seferi vermittelt in seinem Beitrag einen Eindruck der aktuellen Situation. Die an der Universität Wien tätige Historikerin Dr. Jelena Đureinović befasst sich in ihrem Essay „Erinnerung an die Kriege der 1990er Jahre“ mit der grundsätzlichen Frage, ob Serbien sich der Verantwortung für die Konflikte mit den Nachbarn stellt. Ihrer Analyse zufolge nimmt die Tendenz zu, Serbiens Täterrolle (etwa beim Massaker von Srebrenica 1995) zu verharmlosen und stattdessen die eigene Opferrolle zu betonen.
Belgrad ist eine Stadt der Graffiti – zahllose Wandbilder mit Prominenz aus Politik, Kultur und Sport lockern die Häuserwände auf. Sie sind nicht nur Ausdruck der Sympathie für die dargestellten Personen, sonders können auch Gegenstand politischer Auseinandersetzungen werden, so etwa ein Graffito des als Kriegsverbrecher verurteilten bosnisch-serbischen Generals Ratko Mladić. Gemma Pörzgen bietet in ihrem Beitrag über „Belgrader Straßenhelden“ anhand zahlreicher Beispiele einen Überblick über diese alternative Kunstszene.
Den Kirchen kommt in Serbien traditionsgemäß eine wichtige Rolle in der Gesellschaft zu, besonders der Serbischen Orthodoxen Kirche, die die Geschichte des Landes wesentlich mitgeprägt hat. Zahlenmäßig klein (ca. 5 Prozent der Bevölkerung), aber von nicht unerheblichem Einfluss ist auch die römisch-katholische Kirche, die zudem die Kirche vieler nationaler Minderheit bildet (u. a. in der Vojvodina). Zwei Texte des Heftes befassen sich mit diesem Themenfeld. Jelena Jorgačević Kisić, Doktorandin an der Universität Regensburg, stellt Erzbischof Stanislav Hočevar SDB vor, den katholischen Oberhirten von Belgrad, einen „Brückenbauer auf schwierigem Terrain“. Miodrag Sorić, Chefkorrespondent der Deutschen Welle in Bonn, befasst sich mit der Lage der serbischen orthodoxen Christen in der deutschen Diaspora.
Die Wirtschaft Serbiens hat die Corona-Pandemie erstaunlich gut überstanden. Dennoch gibt es, wie Prof. Dr. Danica Popović, Professorin für Wirtschaft an der Universität Belgrad, schreibt, Alarmzeichen wie etwa eine steigende Inflation und Staatsverschuldung. Ihr Beitrag vermittelt auch wichtige Einblicke zu Themen wie Arbeitsmarkt, Geldpolitik und Außenhandel.
Zwei weitere Artikel im Heft hat Gemma Pörzgen im Rahmen ihrer Reise verfasst. Ein Beitrag gilt einem Großprojekt in Belgrad, das von der serbischen Regierung stark gefördert wird: Am Save-Ufer entsteht eine Art „serbisches Manhattan“. Gegen das Projekt, für das bereits zahlreiche Altbauten geopfert wurden, haben sich bereits Bürgerinitiativen gebildet. Der zweite Beitrag stellt kurz Novi Sad vor, Serbiens zweitgrößte Stadt und eine der drei europäischen Kulturhauptstädte des Jahres 2022 (neben Kaunas in Litauen und Esch-sur-Alzette in Luxemburg), und wirft Streiflichter auf das Kulturleben Serbiens (u. a. Museen und Ausstellungen).
Abgeschlossen wird das Heft mit Hinweisen zu weiterführender Lektüre.
Einen Kurzclip zur Ausgabe 1/2022 finden Sie hier.
Ein Ausblick auf Heft 2/2022, das Ende April erscheinen wird: Unter dem Titel „Sinnsuche im 21. Jahrhundert: Glaube und Zweifel“ vereint es Beiträge mit theologisch-philosophischem Kern, in denen klassische Modelle der Sinngebung vorgestellt werden, wirft aber auch einen Blick auf säkulare Formen von Sinngebung wie Führerkult oder Konsum. Zu Wort kommen auch Menschen, die ihren ganz persönlichen Weg zu einem sinnerfüllten Leben beschreiben.
Dr. Christof Dahm
Inhaltsverzeichnis
Summary in English
Serbia, as the largest and most populous state among the countries of the former Yugoslavia, plays an important role in South-Eastern Europe. Politically and socially, the consequences of the wars that devastated this part of Europe for a decade after 1990 are still felt today and weigh heavily on efforts to open up a future for the country within the European Union. This issue of OWEP looks, among other things, at Serbia's political parties as they regroup in the run-up to the elections on 3 April, at strained relations with neighbours – especially Kosovo – but also at the economy and cultural life. A portrait is dedicated to President Aleksandar Vučić, the most influential figure on the political stage for 20 years. The role of the Orthodox Church in the self-image of the Serbs is just as much a topic as the position of the Catholic Church in the country, a small but not insignificant minority.Finally, the issue gives an impression of "Belgrade street art" with the help of numerous illustrations, takes a look at the "European cultural capital" Novi Sad and places the current discussion about the tennis star Novak Đoković in the larger context of the Serbian "victim myth".