Die Revolution hat kein feministisches Gesicht

(Buchauszug)
aus OWEP 1/2021  •  von Irina Solomatina

Irina Solomatina (geb. 1969 in Minsk) ist Philologin und Kulturwissenschaftlerin, Vorsitzende der Belarusischen Organisation Arbeitender Frauen, Begründerin der Plattform „Gendernyj Maršrut“ (gender-route.org), Projektmanagerin, Herausgeberin und Autorin zahlreicher Publikationen zu Frauenrechten, Feminismus und Aktivismus in Belarus.

Gekürzter Wiederabdruck aus „BELARUS! Das weibliche Gesicht der Revolution. (edition.fotoTAPETA_Flugschrift). Hrsg. v. Andreas Rostek (u. a.). Berlin 2020. Der Wiederabdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autorin, der Übersetzerin und der Herausgeber.


„Wir haben uns zusammengeschlossen, damit sich drei kleine Flüsse zu einem breiten Strom des Volkszorns vereinen.“ – Swetlana Tichanowskaja, Juli 2020

„Der Sommer 2020 wird in die neue belarusische Geschichte eingehen, da diese Revolution ein weibliches Gesicht hatte. Denn in dieser Präsidentschaftswahlkampagne sind die Frauen anstelle ihrer Männer angetreten.“ – Veronika Zepkalo, Oktober 2020

Die Präsidentschaftswahlen in Belarus wurden seit den Vorgängen nach den Wahlen 2010 mit Repressionen gegen all jene assoziiert, die ihre Unzufriedenheit mit dem Regime zum Ausdruck brachten. Bei den Wahlen 2015 und 2020 gab es jedoch ein neues Topthema: Frauen.

2015 war Tacciana Karatkievič als Kandidatin der vereinten Opposition zur Präsidentschaftswahl angetreten, 2020 kandidierten bereits zwei Frauen: Swetlana Tichanowskaja, Ehefrau des inhaftierten Bloggers Sergej Tichanowski, und Hanna Kanapackaja, ehemalige Parlamentsabgeordnete. Am 16. Juli 2020 gingen ein Foto und die dazugehörige Pressemitteilung des Wahlkampfstabes von Viktor Babariko durch alle Medien, auf die die sozialen Netzwerke mit einer Unzahl an Memes reagierten, von „das Regime kotzt alle so an, dass sogar eine Hausfrau Präsidentin werden kann“ bis „wenn solche Schönheiten gegen die fettgesichtigen Bürokraten antreten, bin ich auch für Feminismus“. Was war geschehen?

Die Wahlkampfstäbe der registrierten Kandidatin Swetlana Tichanowskaja und der nicht registrierten Kandidaten Valeri Zepkalo und Viktor Babariko hatten sich zusammengeschlossen. Die Massenmedien titelten: „Drei Frauen gegen Lukaschenko“, „Zeit der Frauen. Drei Wahlkampfteams gemeinsam gegen Lukaschenko“, „Weiberaufstand – Bringt der vereinte Stab Belarus Geschlechtergerechtigkeit?“

Maria Kolesnikowa aus dem Wahlkampfteam von Viktor Babariko, die den Zusammenschluss initiiert hatte, berichtete auf tut.by, dass ihr Stab schon vorher eine Strategie besprochen hatte für den Fall, dass Babariko nicht zugelassen werden sollte, nämlich „anderen Kandidaten anzubieten, die Kräfte für das gemeinsame Ziel zu vereinen. Das gemeinsame Ziel ist ein Sieg am 9. August, ein Regimewechsel. Am Donnerstagmorgen (dem 16. Juli) trafen sich unsere Teams zum ersten Mal zu gemeinsamen Gesprächen ... Und nach einer Viertelstunde hatten wir diese fünf Ziele beschlossen, die jede von uns unterschreiben kann ...“ Die gemeinsamen Grundsätze der Kampagne der vereinigten Wahlkampfstäbe sind auch nach der Wahl noch aktuell:

  1. Am 9. August wählen gehen.
  2. Wir befreien die aus politischen und wirtschaftlichen Gründen Inhaftierten, ermöglichen das Recht auf Revision der Urteile und einen fairen Prozess.
  3. Wir wiederholen die Wahl nach dem 9. August 2020 unter fairen Bedingungen.
  4. Wir informieren die Wähler über die Notwendigkeit, ihre Stimme auf verschiedene Weise zu schützen.
  5. Wir rufen zur Beteiligung an Initiativen für faire Wahlen und zum Einsatz als Wahlbeobachter auf.

Die Registrierung Swetlana Tichanowskajas, einer Hausfrau, die stets ihre Erfahrung als Mutter und die Liebe zu ihrem Ehemann unterstrich, sollte zum erschöpfenden Argument werden und ein detaillierteres Programm ersetzen. Die „Natürlichkeit“ der Familienstruktur wurde direkt auf das Modell des Staates als einer großen Familie projiziert.

Die Genderwissenschaftlerin Anne McClintock nennt in Dangerous Liaisons: Gender, Nation, and Postcolonial Perspectives die Angleichung der Struktur des Nationalstaats an die der Familie (mit einem Mann als Oberhaupt, einer Frau und Kindern) das zuverlässigste Mittel, um heteropatriarchale Werte zu verbreiten, die der Frau vorschreiben, für den Mann zu leben. Die Präsidentschaftskandidatinnen erwähnten soziale Probleme ausschließlich in Bezug auf die Fürsorge (für den Ehemann, die Kinder und die Belarusen), und ihre Rhetorik ließ weder eine feministische noch eine genderspezifische Agenda erkennen. Auch der vereinte Wahlkampfstab kam vollkommen ohne frauenbezogene Themen aus wie häusliche Gewalt, Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt, oder die Tatsache, dass 85,6 Prozent der Beschäftigten im Gesundheits- und Sozialwesen Frauen sind. Sie wären ganz besonders auf Schutzausstattung während der Pandemie angewiesen, die zunächst das Regime und dann auch die Opposition ignorierte.

Der öffentliche Diskurs verweiblichte den Protest umgehend und die Wahlkampagne der „drei Grazien“ strotzte von weißer, unschuldiger Symbolik. Die belarusische Presse bezeichnete die vereinten „Grazien“ als „Mädchen“. Gleichzeitig wurde die Teilnahme der Frauen an den Wahlen für „ihre“ Männer mit der Teilnahme von Frauen am Zweiten Weltkrieg verglichen. So sagte der Analyst Siarhiej Čaly am 18. August im Interview mit tut.by: „Die Hälfte der männlichen Bevölkerung ist im Großen Vaterländischen Krieg umgekommen, und die Frauen mussten ihre Plätze einnehmen. Das ist ein Archetyp, gegen den keine Argumentation ankommt. Diese Ereignisse in Belarus werden als erste feministische Revolution in die Geschichte eingehen. Wohlgemerkt, Feminismus im normalen Sinne dieses Wortes.“

Weder patriarchale Mythen noch geschlechtsspezifische Vorurteile, die in Belarus nach wie vor zum gesellschaftlichen Konsens gehören, kamen ins Wanken. Swetlana Tichanowskaja, Veronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa kämpften im Gegenteil, wie auch Tacciana Karatkievič fünf Jahre zuvor, zugunsten von Männern, die aus verschiedenen Gründen nicht am politischen Wettkampf teilnehmen konnten. Die weißgekleideten Frauen mit Blumen, die barfuß und friedlich Wiegenlieder sangen, Sicherheitskräfte umarmten oder vor ihnen niederknieten – sie waren die zentrale visuelle Begleitung der Anti-Lukaschenko-Kampagne 2020. Das „weibliche Gesicht“ des Protests ist vor allem ein medialer Effekt. Kaum einen Medienvertreter interessiert die Analyse des Wahlkampfes und der Proteste jenseits der konkreten Ereignisse, also die Diskussion über die Probleme der Beteiligung von Frauen an der Politik und die Genderdebatte im Land. Vermutlich, weil diese Aspekte auch den Wahlkampfstab nicht sonderlich interessieren. Denn es gibt nur ein Ziel: den Machtwechsel und eine Wiederholung der Wahlen unter fairen Bedingungen mit alternativen Kandidaten – den Ehemännern und Beratern.

An dieser Stelle möchte ich ein Interview mit einer Eventmanagerin erwähnen, die kurzzeitig aus Moskau nach Minsk zurückgekehrt war, da ihre „emotionale Verfassung sie zum Handeln gezwungen hatte“ und sie ihrem Heimatland helfen wollte. Inzwischen ist ihr Text „Wie die Frauenproteste in Belarus konzipiert wurden: ‚Ich verstand die Opposition als Kunden, die Menschen als Teilnehmende‘“ aus Sicherheitsgründen aus dem Internet entfernt worden (für die Organisation unerlaubter Aktionen drohen in Belarus Haftstrafen). In diesem Text war zu lesen: „Ich glaube an die weibliche Kraft, besonders wenn die Einheit auf Taten beruht, auf einem großen und hehren Ziel. Es wäre auch eine Sünde gewesen, die patriarchalische Haltung in den Köpfen der belarusischen Sicherheitsbeamten nicht auszunutzen.“

Die Eventmanagerin glaubte daran, dass es ungefährlich sei, Aktionen ausschließlich mit Frauen durchzuführen. Die Berichterstattung in Guardian (inklusive Coverbild), New York Times und BBC über „unsere Frauen in Weiß“ schien ein „richtiger Akzent“ zu sein. Doch die Eroberung der Schlagzeilen ist kein politischer Sieg. Mehr noch, die Frauen wurden zielgerichtet „vereint“, um die Opposition zu motivieren und Hoffnung zu generieren, wobei „die Opposition“ der Kunde war. Die Idee, mit Genderstereotypen und -rollen zu spielen, bildete die Grundlage für die Wiegenlied-Performance auf dem Siegesplatz: Frauen in weißen Kleidern, barfuß, mit Blumen, schön und lächelnd singen ein Wiegenlied, „schläfern das Regime ein“. Ein solches Heldinnen-Opfer-Pathos, besonders auf der Ebene von Massenaktionen, trägt wohl kaum zur Stärkung frauenspezifischer Inhalte bei, zumal sich die Ressource der Solidarisierung anschließend nur schwer in eine eigene Erzählung ummünzen lässt. Das Problem ist eine fehlende längerfristige Selbstorganisation, da die Förderung der Selbstorganisation von Frauen bislang gar nicht das Ziel war. Wichtig war ausschließlich, die „Teilnahme an den Aktionen zu erhöhen“, nachdem es massenhaft Festnahmen gegeben hatte.

Es ist wichtig zu bemerken, dass am 12. August auch spontane Frauenmenschenketten an verschiedenen Orten in Minsk und in den Regionen auftauchten. Auch dort gab es viel Verzweiflung ohne konkretes Marketingkonzept à la „Schönheit wird die Welt retten!“ Dieser Protest war von Beginn an ungesteuert. Eine solche Spontaneität hat ihre starken und schwachen Seiten. Und die Ereignisse der letzten Tage zeigen, dass ein spontaner Protest auch zermürbend sein kann.

Die Frage jedoch, welche Möglichkeiten Frauen im modernen Belarus haben, ihre eigenen Ziele und Geschichten zu erarbeiten, sie kundzutun und beim politischen Übergang zur ersehnten demokratischen Transformation als selbständige Subjekte in Erscheinung zu treten, bleibt unbeantwortet. Und es ist unklar, wie lange offen sexistische Projekte gesellschaftlich noch anerkannt bleiben werden, wie zum Beispiel Plakate in der Minsker Metro mit Texten wie „Belarusische Mädels – ihr seid unsere Blumen des Sieges“. Die Mädels werden nie als politische Subjekte anerkannt, solange sie für jemanden „Blumen“ darstellen. Komplimente solcher Art an die „weiblichen Gesichter“ der belarusischen Revolution unterscheiden sich in keiner Weise von den Aussagen des amtierenden Präsidenten. Schon seit vielen Jahren wird den Frauen die immer gleiche Botschaft vermittelt: „Ihr seid unsere Kraft und unser Mut, unser Glück und unser Seelenfrieden, unsere Freude und Inspiration.“ Mansplaining ist in Belarus weit verbreitet, und dieser herablassende Kommunikationsstil drückt die bestehende Asymmetrie aus, die den Männern Vorrang und Führungsrolle zuschreibt.

In Belarus wird seit 2004 ein landesweiter Schönheitswettbewerb vom Kultusministerium, dem Bildungsministerium und anderen staatlichen Institutionen durchgeführt. Die „Schönheit der belarusischen Frauen“ stellt eine besonders wertvolle „Errungenschaft“ des Landes dar, die dem staatlichen und männlichen Schutz untersteht. Nur staatlich autorisierte Strukturen dürfen die Schönheiten auswählen, da die Mädchen perspektivisch für den Auftritt „zu Ehren von Belarus“ vorbereitet werden. Der organisatorische Ansatz der Schönheitswettbewerbe korreliert mit der Quotierung der Sitze im Parlament: „Die präzise Organisation eines Schönheitswettbewerbs ist gewissermaßen staatliche Frauenpolitik im Kleinformat. Es geht ganz wesentlich darum, Bedingungen für unsere lieben Damen zu schaffen, damit sie sich vollumfänglich in ihrem eigenen Land verwirklichen können. Und da das so ist, ist auch der Wunsch des Präsidenten kein Zufall, unter den Parlamentsabgeordneten nicht weniger als 30 - 40 Prozent Frauen sehen zu wollen“, hieß es in Belarus segodnja am 25. 09. 2004. Wenn es nach Lukaschenko geht, gehen Frauen ihrer Berufung, die Welt schöner zu machen, sowohl in der Familie als auch im Parlament nach.

Paradox an der belarusischen Situation ist die Tatsache, dass 2019 in der Nationalversammlung der Republik Belarus (Parlament und Rat der Republik) 40 Prozent Frauen vertreten waren, während der globale Durchschnitt bei 24,5 Prozent Frauenanteil in nationalen Parlamenten liegt. Die internationale Gemeinschaft schätzt diese Leistung von Belarus im Bereich der Gleichstellung hoch ein. Ingibjörg Solrun Gisladottir, Leiterin des Büros für demokratische Institutionen und Menschenrechte (ODIHR) der OSZE, unterstrich im Februar 2020 die Bereitschaft von Belarus, die Prinzipien der Menschenrechtshoheit zu sichern. Im Land wurden drei mit EU-Mitteln finanzierte Foren zum Thema „Frauen in der Führung“ organisiert.

Die Teilnehmerinnen berichteten von Hindernissen, die Frauen auf dem Weg zur politischen Teilhabe auf lokaler Ebene zu überwinden hätten: „Frauen sind oft konfrontiert mit beleidigenden Bemerkungen und Versuchen, ihre Führungsfähigkeiten zu untergraben“, ist im Bericht zur Veranstaltung zu lesen. Der belarusische Präsident machte im Vorfeld der aktuellen Wahlen eine solche herabwürdigende Aussage nicht auf lokaler, sondern auf nationaler Ebene: „Selbst für einen Mann ist es schwer, diese Last zu tragen. Würde man sie einer Frau übertragen, würde sie zusammenbrechen, die Arme“. Lukaschenko benannte als zentrale Funktionen der Frauen auf der Ebene der Exekutive „verschönern“ und „die Männer disziplinieren“. So erklärte er im September 2019: „Ein Drittel der Parlamentsabgeordneten sind Frauen – das ist ein stabiles Parlament. Die Männer machen keinen Quatsch, die springen und laufen nicht herum – weil es ihnen vor den Frauen peinlich wäre.“

Bis Frauen selbst anfangen, sich gegen konkrete Probleme und das missbräuchliche Verhalten bestimmter Obrigkeiten zu wehren, Strategien zum Schutz ihrer eigenen Interessen zu entwickeln und ihr Recht auf ein würdiges Leben zu verteidigen, werden verschiedene „Experten“ weiterhin versuchen, ihre persönliche Entscheidung „umzukehren“ und das als Akt der Fürsorge darzustellen. Ja, es besteht die Notwendigkeit, die Solidarität der Frauen um die Lösung spezifischer Probleme herum aufzubauen, denn heute gibt es in vielen Bereichen eine offensichtliche Ungleichheit.

Die Verschlechterung der Situation von Frauen steht heute nicht mehr im Fokus der Medien. In den Medien, sowohl Pro- als auch Anti-Lukaschenko, im In- wie im Ausland, wird vorwiegend der Frauenprotest entweder als unglaubliches Beispiel für weiblichen Aktivismus gezeigt oder als unangemessene Verhaltensmanifestation, die sowohl die belarusischen Männer, die „sich hinter den Frauen verstecken“, wie auch die Frauen selbst diskreditiert. Die Kultivierung von Symbolen der Reinheit (Weißheit) und Schönheit (Blumen) als integraler Bestandteile der neuen nationalen Symbolik korrespondiert mit der Analogie zwischen politischer Willkür und häuslicher Gewalt.

Das eingangs erwähnte Beispiel, wie die Eventmanagerin und ihre Unterstützerinnen den Frauenprotest als „Marsch der schönen Frauen“ und „Schönheit rettet die Welt“ in Marketingform verpackten, zeigt, wie die Banalität der Heteropatriarchie zu einer Quelle der Unterhaltung wird und wer die endlose Produktion von Sexismus betreibt. Die Frage, wie diese Produktion in den Ruin getrieben werden kann, bleibt offen. Bisher hört niemand wirklich zu, was die Aktivistinnen konkret zu sagen haben und wie sie ihr Wissen generieren – über sich selbst und für sich selbst, während der Aktionen, ohne ihre eigenen Rechte zu verteidigen.

Die Produktion von Wissen über unsere Rechte als Frauen ist ohne Solidarität unmöglich, weil auch das Nichtwissen bedeutsam ist, die bewusste Verweigerung, Zugang zu Wissen zu erlangen, das uns ein Verständnis darüber geben könnte, warum wir nicht die Kontrolle über unser Leben haben. Dieses Wissen – generiert aus der schmerzlichen Erkenntnis der Konsequenzen von Unwissenheit – entsteht im kollektiven Handeln: Wenn Frauen ihre Probleme anpacken und eine Gender-Agenda entwickeln, die nicht der Rechtfertigung ihrer Beteiligung an der Politik dient, sondern die Grundlage für gegenseitige Unterstützung in der Auseinandersetzung mit Gewalt jeglicher Herkunft bildet.

Aus dem Russischen übersetzt von Tina Wünschmann.