Die Seen meines Lebens
Zusammenfassung
Der See begleitet die Wiener Schriftstellerin Julya Rabinowich in einer anderen Art und Weise, als sie das Meer begleitet. Am Meer ist sie, wenn der Sommer eigentlich schon vorbei ist, während der See ein treuer Begleiter ihrer Sommer ist.
Seeurlaub mit Schreibmaschine
Seen bedeuteten lange Zeit für mich vor allem eines: Ferien. Eine Zeit abseits des Schuljahres, später abseits des Trubels. Mit zwölf Jahren begann ich exzessiv zu schreiben, ab dreizehn begleitete mich die Schreibmaschine auf jeden Seeurlaub, es war eine Zeit des Rückzuges, aber nie eine Zeit fern von Arbeit. Wenn man denn das Schwelgen in Phantasien als Arbeit bezeichnen wollte. Die Seen meiner Kindheit unterschieden sich ein wenig von den Seen des Erwachsenwerdens und die Seen des Erwachsenwerdens wiederum von den Seen des Erwachsenseins.
Die Entblößung am Strand durchlebte ebenfalls mehrere Metamorphosen, von der schamgeplagten Schreierei am russischen Waldsee in Orechowo, als mir das schützende Handtuch hinunterfiel und ich plötzlich splitterfasernackt neben meiner Mutter am durchgebogenen Birkenstamm stand, den wir immer als Stuhlersatz genutzt hatten, über herausforderndes Entkleiden im schicken Bad am österreichischen Wörthersee während eines Sommerflirts bis hin zum Einteiler, den ich zum Stillen über die Schulter hinuntergleiten ließ, mit dem Blick auf den kleinen, dunklen, dampfenden Moorteich im Kärntner Naturschutzgebiet, in dem man schwamm wie in warmer Tinte.
Der See begleitet mich in einer anderen Art und Weise, als das Meer mich begleitet. Das Meer ist oft bedeckt von Eisschollen, wie jenes am Finnischen Meerbusen, es ist kühl und windig am Strand des Lido von Venedig, am Meer bin ich, wenn der Sommer eigentlich schon vorbei ist, während der See ein treuer Begleiter meiner Sommer ist und bleibt.
Wenn man ganz weit zurückgeht, dorthin, wo meine ersten Erinnerungen an Seen einsetzen, dann ist es tatsächlich jener Sommer in Russland, in dem ich das Handtuch in den grauen Sand in Orechowo fallen sah, ein kleines Dorf in der Nähe von Leningrad. Wir fuhren jeden Sommer hierher, und mieteten eine kleine Hütte, die einer Baba Yaga durchaus würdig war.1 Manchmal ertappte ich mich dabei, unter die Holzbretter zu spähen, ob sich die Hühnerbeine nicht vielleicht doch darunter verborgen hielten. Die Hütte stand im üppig blühenden Garten einer Datscha mit Holzschnitzereien an der Veranda. Von der Gartentür ging ich durch ein Spalier von Gladiolen, die wie Fanfaren in den herrlichsten Tönen links und rechts von mir ausbrachen, vorbei an dem Gemüsebeet des Besitzers, vorbei an den Stachelbeersträuchern; manchmal klaute ich seine Himbeeren, manchmal sah er mich vielleicht dabei, sagte aber nichts. Jeden Sommer sah ich meine Beine länger werden, die Striche an der Hüttentür, mit der mein Vater meinen Wachstumsprozess dokumentierte, wanderten in die Höhe. Im letzten Jahr unseres Lebens in Russland, als meine Eltern schon wussten, dass sie diesem Land den Rücken kehren würden, wenn sie auch nicht wussten, wie ihr Leben weiterginge, in dieser seltsam angespannten und beflügelten Zeit des Heimatinterregnums, der undefinierten Schwebe zwischen alter und neuer Welt, suchten wir aber einen anderen See auf, der meinen bis dahin auf das von Grün eingegrenzte Wasser beengten Seenblick dehnen und weiten würde: den Wuokra-See.
Wasser und Inselchen
Als ich wesentlich später, als fantasy-hungriger Teenager im Kärntner Sommer Ursula K. Le Guins „Erdsee“ las, fühlte ich mich am ehesten in diese seltsame, unendlich scheinende Welt aus Wasser und kleinen Inselchen zurückgeworfen, die in meinem kindlichen Blick weitaus größer und beeindruckender erschien, als sie vermutlich wirklich war. In meiner Erinnerung fuhren wir tagelang durch diesen See, steuerten Inselchen an, manche nicht größer als ein Dutzend Meter, fischten und brieten den Fang über Lagerfeuer und schliefen neben dem Boot in Schlafsäcken.
Im Nachhinein meine ich mich zu erinnern, dass meine Mutter nur von zwei Tagen Aufenthalt sprach, aber für mich war diese Reise eine reine Unendlichkeit, unterbrochen von Feuerknistern, leichter Sorge vor dem dunkelnden Himmel und, einmal, von einem kleinen bis mittelgroßen Skandal. Um diesen Skandal zu begreifen, muss man wissen, dass meine Eltern mich sehr früh bekommen hatten, ihre gemeinsame Zeit ohne mich betrug nicht einmal ein Jahr, was eine Beziehung vermutlich auf die Probe stellt, bei jedem Paar.
Nun waren sie also mit mir im Urlaub im Boot unterwegs, und ich nehme an, dass sie auch ab und an Zeit für sich allein gehabt hätten, die nicht durchbrochen war von Rufen nach der Pinkelpause, angstvollem Geheule in der Nacht und wildem Kuschelbedürfnis vor dem Schlafengehen. Sondern eben, nun, ein etwas intimerer Rahmen. Sagen wir, das Raum-Zeit-Kontinuum schien ihnen nur ein einziges Mal gnädig, als wir auf einer etwas größeren Insel Halt machten. Der Fisch, den ich unter Anleitung meines Vaters am Vormittag schreiend vor Aufregung aus dem Wasser gezogen hatte, brutzelte mit Kräutern gefüllt am Lagerfeuer, wir tranken unseren Tee aus der Thermosflasche und dann witterten meine Eltern ihre Chance, als meine Lider zu flattern begannen.
Angst vor Schlangen
Schnell wurde mir ein kleine Schlafstatt gerichtet auf meiner aufblasbaren Gummimatratze, zugedeckt von meinem kleinen Schlafsack. Danach verdrückten sich meine Eltern vorsichtig etwas weiter weg, offizielle Angabe war jahrelang übrigens „Beerensammeln“, was beinahe die Qualität des Briefmarkenalbums erreichte. Was dann geschah, ließ sich über Jahre nur noch von gegenseitigen Berichten nachvollziehen. Der meiner Eltern lautete folgenderweise: Ein plötzlicher, gellender, verzweifelter Kinderschrei zerriss die Seenstille. „Schlangen!“ brüllte mein Vater und stürmte zu meiner Rettung. Sie fanden mich auf der Luftmatratze, eine Ameisenstraße hielt mich in Schach. Statt der erhofften Rettung vor dieser entsetzlichen Gefahr erhielt ich – frei nach schwarzer Pädagogik, die zu dieser Zeit in Russland leider nicht unüblich war – eine saftige Ohrfeige und eine Abfahrt von der Insel des Grauens.
Vielleicht hatte ich aber auch einfach alles darangesetzt, ein Einzelkind zu bleiben. So oder so blieb als Ausweg nur noch die Sublimierung, aber das verstand ich erst, als ich in Wien angekommen und heimisch geworden war, jene Stadt, die Freud hervorgebracht hatte. Wenn ich zurückblicke auf alles, was ich hier erfahren habe, ist das eigentlich kein Wunder, dass Freud gerade hier seine Theorien der Verdrängung erforschte. Wien hat viele Vorteile, aber leider keinen See.
Die Suche nach Urlaubskontinuität trieb meine Eltern also weiter, in den Süden, zum Wörthersee und zum Spintikteich, der eingangs erwähnt wurde. Hier schwamm meine Großmutter genauso majestätisch und ungerührt unter sich zusammenbrauenden Gewitterwolken wie im russischen Orechowo, und meine Mutter lief genauso aufgeregt am Strand auf und ab, um sie zum Hinauskommen zu motivieren.
An die Ufer des Wörthersees
Die nächsten Jahre waren wir immer wieder vor Ort, auf halber Höhe zwischen dem Teich und dem See, in einer wechselnden Schar von Freunden – Russen, Österreicher, Israelis und Deutsche.
Die Abende waren laut und lustig, die Tage heiß und eintönig, was eine gewisse Zeit gut ging, mich aber irgendwann fernbleiben ließ, ich wurde älter, ich wollte andere Gezeiten. Diese führten mich durch ein wildes Auf und Ab zwischen den Wellen des Ärmelkanals und des venezianischen Lidos, bis sie mich erneut in Kärnten ausspuckten: als Mutter eines Kleinkindes auf den Spuren der eigenen Eltern wandernd.
Das führte mich – mit einiger Verspätung – erneut zurück nach Kärnten, zurück nach Klagenfurt, an die Ufer des Wörthersees, als Schriftstellerin mitten in die Literaturbande des Bachmann-Preises. Ich veröffentlichte das nächste Buch, und das übernächste, und das überübernächste. Immer war die ruhige, spiegelnde Fläche des Wassers jene, in der ich mich im Schreibprozess verlieren konnte, um meine Protagonistinnen besser zu erkennen. Ich tauchte ab, sie, die Schaumgeborenen, kamen aus den Fluten empor. Irgendwann hatte ich auch die Anbetung der Vergangenheit satt, in immer neuen Wasserflächen den verlorenen Finnischen Meerbusen wiedersehen zu wollen. Es war Zeit für Neues.
Berge waren mir völlig fremd, ich hatte sie nach der Emigration nie aufgesucht, unsere Familie mied sie. Sie waren dunkel, bedrohlich, sie erinnerten an Rückgrate von steinzeitlichen Riesen, sie boten Spalten und Abgründe und mannigfaltige Art und Weise, zu Schaden zu kommen. Das hielt mich jedenfalls nicht davon ab, neue Welten für mich entdecken zu wollen.
Einer der Orte, den ich regelmäßig zum Schreiben aufsuche, ist der Turrachsee, der zwischen Kärnten und der Steiermark liegt. Der Ort heißt Turracher Höhe und bietet neben üblicher Touristik auch ein gehobenes Hotel mit einer freizügigen Saunalandschaft und einem Badesteg. In den Bergen, auf 2.500 Metern Höhe, berühren sich luxuriöses Lotterleben und klösterliche Isolation, die das Schreiben manchmal nötig macht. Diesen See kenne ich – im Unterschied zu all den anderen genannten Seen – in jeder Form, die ein See haben kann: umkränzt von den ersten Blumen des Frühlings, sommerlich aufgehitzt, dampfend in herbstlicher Abkühlung, von Nebel verhangen, und dann, als eine Art Allegorie aller meiner Verortungen, zugefroren und knackend eisig, wie der finnische Meerbusen, auf dem wir in Sitzschlitten mit schneidend scharfen Kufen dahinglitten im russischen Winter.
Zu einer gewissen Absurdität verhilft dem See ein echter dunkelroter chinesischer Teeturm, in dessen Geschossen sich ein Teezeremonieraum, Yogastudios und Massagezimmer befinden. Er ist, wie die Hotelbesitzerin nicht ohne Stolz vermerkt, in China erworben, abgetragen und Stück für Stück in den österreichischen Alpen wieder aufgebaut worden.
Gleich neben dem chinesischen Turm verbirgt sich übrigens auch ein türkischer Hamam in den Untergeschossen des Hotels. Der Hamam verführt zu süßem Lokum und schwarzem Tee mit Früchten, der chinesische Turm zu Stille und Tees aller Variationen, er fügt sich auf seltsame Art ein in die Berglandschaft, die den See umgibt, und wenn man einmal dagewesen ist, wundert die Silhouette mit den gebogenen Giebeln das nächste Mal nicht mehr, die sich zwischen den klassischen Hotels erhebt.
Das Schreiben am See
Meine Großmutter, die ich über das Eis geschoben habe, ist längst nicht mehr am Leben. Mein Kind interessiert sich nicht für gefrorene Flächen, es wird von italienischen Stränden angezogen, von Schirmen, Sonnenöl und Strandbars. Hier in den Bergen, in der Spiegelung ihrer Umrisse im Wasser bin ich allein mit meiner Vergangenheit, allein mit meiner Gegenwart und auch ein bisschen allein mit meiner Zukunft, denn hier beginnt oft der Schreibprozess, oder aber er endet hier.
Der Deal zwischen mir und den Hotelbesitzern ist der immer gleiche: Ich halte Leseabende ab bei ihnen und kann für eine Zeitlang bleiben. Die Revolution gebiert hier also ihre Kinder, vorläufig ohne sie zu fressen. Sie werden bloß verlesen. Dieser Ort durchdringt alle Ebenen meiner anderen Seeaufenthalte, das Staunen über die Natur, die ich am Ladogasee am intensivsten durchlebte, die Ruhe des kleinen versteckten Moorteichs, den Trubel der High Society am Wörthersee. Und das Schreiben. Immer das Schreiben. Aller See ist Wort. Und das ist gut so.
Fußnote:
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Baba Yaga ist eine Märchen- und Sagengestalt aus der slawischen Mythologie. Baba Yaga spielt eine besondere Rolle in den slawischen Ländern, in Polen und Russland. Sie hat eine ähnliche Funktion wie die Hexe in den westeuropäischen Märchen. ↩︎